James Conlon – ein Amerikaner als Streiter für Zemlinsky
James Conlon Als Elfjähriger war James Conlon zum ersten Mal in der Oper. Von diesem Moment an kannte er nur noch ein Ziel: Dirigent werden. Mit 24 stand er zum ersten Mal an einem Pult, heute blickt er, noch nicht 50jährig, zurück auf Engagements bei (fast) allen wichtigen Orchestern und Opernhäusern der Welt. Der Amerikaner verbindet die Tugenden der Neuen Welt – Aufgeschlossenheit, Unvoreingenommenheit, Risikobereitschaft – mit einer lodernden Liebe zur Musik Europas, zur Oper Italiens ebenso wie zu Wagners Musikdrama, zur Sinfonik der Romantik wie zum stilistisch weiträumigen Spektrum Zemlinskys.
James Conlon zu Alexander Zemlinsky: «Ein Künstler, der keiner Schule angehört, hat es doppelt so schwer.»
Interview: Reinmar Wagner

M&T: Alexander Zemlinsky erlebte in den letzten Jahren eine Renaissance, an deren vorderster Front Sie stehen. Woran liegt es, dass Zemlinsky so lange verkannt wurde?
J.C.: Zemlinskys Musik war im Dritten Reich verboten. Zu Zemlinskys Lebzeiten konnte sie also nicht gehört werden, die nächste Generation wuchs nicht mit ihr auf. Nach dem Krieg hat sich niemand daran erinnert. Es brauchte Leute, die aus Neugier hingingen und diese Stücke ausgruben und aufführten und damit andere ansteckten. Ein solcher Prozess braucht im Normalfall etwa eine Generation. Denken Sie an Gustav Mahler: Er wurde auch erst in den 60er Jahren wiederentdeckt, heute gehört er ganz selbverständlich zu den grössten Sinfonikern. Mit Zemlinsky und Schreker und einigen anderen aus dieser Zeit könnte jetzt etwas Ähnliches passieren.
M&T: Sie denken also, dass vor allem die Nazi-Ideologie ausschlaggebend war?
J.C.: Ja. Bei Zemlinsky wie bei Schreker auf jeden Fall. Beide waren wichtige Figuren im Musikleben der Weimarer Republik. Zemlinsky war als Dirigent sehr anerkannt, vielleicht stärker noch denn als Komponist. Und Schreker war Direktor der Musikhochschule in Berlin, eine der wichtigsten Stellen im Musikleben Deutschlands. Schreker wurde gebrochen durch die Nazis und starb 1934. Zemlinsky ging nach Amerika, aber auch er war ruiniert. Niemand in Amerika interessierte sich für ihn. Die «Sinfonietta» hat er noch komponiert, eines seiner besten Stücke überhaupt, und ein paar andere Werke, aber er musste bei Null wieder anfangen.
M&T: Es gab dann in den 50er Jahren eine kleine Wiederentdeckung Zemlinskys. Aber nur die «Lyrische Sinfonie» konnte sich etablieren.
J.C.: Genau. Ich habe das Stück in den 70er Jahren in New York von James Levine gehört. Ich hatte keine Ahnung, kannte den Komponisten nicht. Ich bin zu ihm hingegangen und habe ihn ausgefragt. Es stellte sich heraus, dass Levines Lehrer, Walter Levin vom LaSalle-Quartett, ihn zu Zemlinsky gebracht hatte.
M&T: Zemlinksy hat sich ja immer aus der zweiten Wiener Schule herausgehalten, obwohl er als Lehrer und Schwager Schönbergs enge Verbindungen hatte. Musikalisch aber wollte er diesen Weg nicht gehen. Liegt nicht darin auch ein Grund, dass er erst heute, wo die serielle Schule, die auf der Zwölftontechnik aufbaute, Geschichte geworden ist, wiederentdeckt wird?
James ConlonJ.C.: Natürlich. Nicht nur Komponisten, generell Künstler, die nicht zu einer Schule gehören, haben es doppelt so schwer, weil es niemanden gibt, der sie verteidigt. Zemlinsky hat immer seinen eigenen Weg gesucht, obwohl er sehr flexibel war und in völlig verschiedenen Stilen schreiben konnte. Es gibt Ballettmusik, die klingt fast wie Tschaikowsky, und in der «Sinfonietta» hört man Alban Berg. Aber es ist weniger ein Einfluss als ein Austausch. Zemlinsky hat immer seine eigene Identität bewahrt.
M&T: Wobei gerade Zemlinsky öfters sein Eklektizismus vorgeworfen wurde und wird.
J.C.: Ich kenne diesen Vorwurf, aber ich kann ihn nicht teilen. Wenn Eklektizismus heisst, dass ein Komponist ohne eigene Inspiration Anregungen von anderer Seite holt, dann ist es bestimmt negativ. Aber das kann man bei Zemlinsky nicht sagen. Seine eigene Stimme ist immer da. Strawinsky hat auch Neoklassik und Neobarock und ein bisschen Jazz und dies und das in seine Musik einfliessen lassen und blieb doch Strawinsky. Zemlinsky macht Ähnliches auf seine Weise. Ich bin dagegen, dass man jede Musik allein nach ihrem innovativen Gehalt für die Musikgeschichte beurteilt. Was bedeutet es, wenn man sagt, Brahms war konservativ? Was heisst es bei Bach? Die Substanz ist entscheidend, nicht, ob progressiv oder konservativ. Kunst kann eine kulturpolitische Aussage haben, aber sie muss nicht.
M&T: Ist es also irrelevant für Sie, wie Zemlinsky beispielsweise zu Schönberg stand? Immerhin musste er sich ja auch auseinandersetzen mit dessen Theorien und sich bewusst davon absetzen.
J.C.: Natürlich interessieren mich Zemlinskys Beziehungen zu den Komponisten der Zweiten Wiener Schule. Aber am Ende, wenn es nur um die Musik geht, ist es nicht mehr wichtig, wo in der Zeit sie stand.
M&T: Wir haben von Schreker gesprochen, Korngold und Goldschmidt sind wieder aufgetaucht, es gab einige weitere Komponisten, die damals erfolgreich waren. Weshalb ist es gerade Zemlinsky, der Sie fasziniert?
J.C.: Ich kann es nicht sagen. Seine Musik hat mich berührt. Goldschmidt ist ein spezielles Kapitel: Ich habe in London ein wenig Kontakt mit ihm gehabt, aber ich habe nicht kapiert, welche Bedeutung er hatte. Ich bereue es jetzt, da er gestorben ist. Ich bin durch Zemlinsky aber auch zu Schreker gekommen, wobei ich mir bei ihm nicht sicher bin, ob alles, was er gemacht hat, wirklich überdauern wird.
M&T: Sie fahren fort in Ihrem Zemlinsky-Zyklus. Was kommt als nächstes?
J.C.: Die beiden frühen Sinfonien und die Psalmen. Die frühen Sinfonien sind faszinierend: Man sieht den Studenten von Brahms und Dvorák. Es ist sehr schöne Musik, ganz frisch, ganz jung. In den Psalmen dagegen hören wir den reifen Zemlinsky. Und ich finde es sehr reizvoll, diese Werke auf einer CD zu vereinen, womit man die beiden Pole in Zemlinskys Entwicklung sehen kann.
M&T: Was gibt es weiteres zu entdecken bei Zemlinsky?
J.C.: «Traumgörge» wäre sehr interessant, auch «Kleider machen Leute», dann gibt es sehr schöne Orchesterlieder und Gesänge. Und «König Kandaules» würde ich auch gerne machen.
"Wie waren Rom oder Paris vor der Erfindung des Autos? Himmlisch!"
M&T: Es geht also jetzt vor allem um Opern und Vokalwerke?
J.C.: Es gibt fast nichts mehr für Orchester allein. Ausser der «Lyrischen Sinfonie», aber davon braucht es wirklich keine weitere Aufnahme. Es gibt heute – gerade auch mit Blick auf die Krise im Schallplattenmarkt – überhaupt keinen Grund, das nochmals zu machen, nochmals einen Brahms-Zyklus, nochmals einen Beethoven-Zyklus aufzunehmen etc.
M&T: Hatten Sie eigentlich keine Mühe, Ihren Zemlinsky-Zyklus bei EMI unterzubringen?
J.C.: Meine Begeisterung hat die Leute dort angesteckt, und sie bewiesen grossen Mut. Es fing klein an: Wir führten Werke auf, die mit Köln in einem Zusammenhang standen: Mahlers Fünfte oder Sinfonien von Bruch oder eben Zemlinskys «Zwerg», den Klemperer 1922 hier uraufgeführt hatte. Dafür liess sich EMI gewinnen. Dass es danach mit der «Seejungfrau» weiterging, war auch meiner Sturheit zu verdanken.
M&T: Sie sind Chefdirigent der Opéra National in Paris. Die Bastille-Oper ist mit vielen Querelen unglücklich gestartet. Jetzt ist es ruhiger geworden. Inwieweit ist das Ihr Verdienst?
J.C.: Ich bin Chefdirigent, und ich habe eine gute Beziehung zu Hugues Gall. Ich habe überhaupt keine Macht – ich will auch keine. Wenn die Chemie zwischen einem Team nicht klappt, nützen alle Regelungen nichts. Wenn man aber ein gutes Verhältnis hat, ist es besser, keine Macht zu haben. Gall ist der tollste Kollege, den man haben kann. Ein absoluter Profi, er hat einen internationalen Blick, aber er kennt auch Frankreich bis in den letzten Winkel, er ist Franzose, was sein muss in Paris, und er übernimmt die Verantwortung und schiebt sie nicht ab. Im Moment haben wir eine wunderbare Situation mit dem Orchester, mit dem Publikum und sogar mit der Presse.
M&T: In Köln tragen Sie als Generalmusikdirektor mehr Verantwortung...
J.C.: ...Paris und Köln: Das kann man nicht vergleichen. Die Opéra ist die Nationaloper Frankreichs. So etwas gibt es in Deutschland gar nicht, das ist ja das Schöne und Einzigartige an Deutschland, der grosse Reichtum an wunderbaren und wichtigen Theatern.
M&T: Sie haben viel Mahler dirigiert, viel Wagner und Liszt. Sie sind Amerikaner. Woher kommt eigentlich Ihre Vorliebe für das deutsche Repertoire?
J.C.: Ich glaube, Musik und Musiker sind immer mindestens teilweise losgelöst vom Ort, wo sie geboren wurden. Es gibt einige, die spiegeln ihre Kulturen und Nationen perfekt, andere sind eher Einzelgänger. Was tut denn einer, der in New York mit elf Jahren merkt, dass er bis über beide Ohren verliebt ist in eine fremde Musik? Mein Leben hat sich innerhalb von sechs Monaten völlig verändert, vom Moment an, wo ich Musik hörte. Ich hatte Glück: New York ist eine phantastische Stadt, wo es alles gibt: Ich konnte zur Oper gehen, ich konnte ins Konzert gehen, ich habe alle grossen Dirigenten gesehen. Das war eine phantastische Erziehung. Aber danach muss man weitersuchen, und ich habe schon ganz jung gemerkt, dass ich eine tiefe Anziehung für die Musik und Kultur Europas habe.
M&T: Was heisst das, in sechs Monaten hat sich Ihr Leben völlig geändert? Was genau passierte damals?
J.C.: Ich war elf, ich ging zum ersten Mal in die Oper. Es war wie ein Blitz, wie Donner, wie alles zusammen. Ich war so berührt, ich wollte alles sehen, wollte sofort Klavier spielen, Geige spielen, singen, alles sofort. Und mit dreizehn wusste ich, dass ich Dirigent werden wollte.
M&T: Wie präsentierte sich denn die amerikanische Sicht auf Europa für Sie persönlich?
J.C.: Der Vorwurf, den man uns Amerikanern macht, ist, wir hätten keine Kultur, keine alte Kultur. Das stimmt. Es gibt natürlich amerikanische Musik, aber diese breite Tiefe, die jahrhundertelange Dauer, die fehlt. Für einen amerikanischen Interpreten heisst das: Wie kann ich als Ausländer so gut deutsche Musik spielen wie ein Deutscher? Antwort: In der tiefsten Seele von grossen Musikern und Künstlern gibt es keine Landesgrenzen. Zweitens: Manchmal haben wir Amerikaner einen Vorteil, insofern, als wir weniger Vorurteile haben. Ich kenne viele Franzosen, die überhaupt nichts anfangen können mit deutscher Musik und umgekehrt. Wir Amerikaner hingegen haben tabula rasa in dieser Beziehung und kommen voran. Ich persönlich glaube, dass es interessant und künstlerisch sehr ergiebig sein kann, ein kleines Feld als Spezialist zu kennen. Aber ich halte den grossen Überblick für genauso wertvoll. Der englische Philosoph Bertrand Russell hat in der Einleitung zu seiner monumentalen Abhandlung über die Philosophien in West und Ost geschrieben: Es gibt in jedem Gebiet jemanden, der tiefer sieht als ich, aber es gibt nicht so viele, die soviel über alle Gebiete wissen wie ich. Diese Optik gefällt mir, und ich halte sie für genauso wertvoll.
M&T: Sie fühlen sich nicht nur bei Wagner, sondern genauso bei Donizetti und Rossini wohl. Ist das ein Resultat dieser weitgespannten Sichtweise?
J.C.: Ich verachte dieses Belcanto-Repertoire nicht, wie es manche Kollegen tun. Es ist viel schwieriger, eine Belcanto-Oper oder einen frühen Verdi zu dirigieren, als den ganzen «Ring». Wagner zu dirigieren, rein technisch, ist nicht sehr schwer. Natürlich braucht es die Farben und die Bogen. Aber ich möchte manchen Kollegen, der sich abschätzig über Donizetti äussert, einmal im «Don Pasquale» sehen. Das Problem im italienischen Repertoire ist, dass man extrem abhängig ist von den Sängern. Es lohnt sich nicht, mit zweitklassigen Leuten diese Opern aufzuführen. Deshalb hat die Callas diese Werke auch auf ein Niveau angehoben, das sonst niemand erreichte. Wenn wirklich gute Sänger und ein guter Dirigent zusammenkommen, kann es hinreissend sein. Wenn aber bei Wagner oder Richard Strauss die Besetzung nicht sehr gut ist, kann ein Dirigent mit dem Orchester allein den Abend retten.
M&T: Gerade bei einem «Ring» oder «Tristan», die Sie beide ab dieser Saison in Paris dirigieren, bekommen Sie heute ziemlich grosse Probleme, wenn sie diese Werke besetzen müssen. Als ein Grund dafür wird oft genannt, dass die Dirigenten immer lauter spielen lassen. Was sagen Sie dazu?
J.C.: Das ist eine sehr oberflächliche Bemerkung. Es kommt gewiss vor. Aber dazu kommt auch, dass das Niveau der Orchester viel höher ist, die Instrumente besser werden und unsere ganze Kultur von Lärm geprägt ist. Wie waren Rom oder Paris vor der Erfindung des Autos? Himmlisch!
Das Fatalste ist heute meiner Meinung nach das schnelle Tempo der Sängerkarrieren. Wenn heute ein junger Tenor an einem kleinen Haus in Deutschland einen Erfolg hat, weiss es zwei Tage später die ganze Fachwelt, und alle versuchen ihn zu engagieren. Er ist begeistert, fliegt zwei Jahre lang von Engagement zu Engagement und hat dann seine Stimme ruiniert. Man kann einem jungen Sänger nur sagen: Passen Sie auf, Ihre Stimme ist Ihre eigene Verantwortlichkeit. Niemand wird Ihnen helfen, wenn Sie Schwierigkeiten haben. Wir sind alle schuld: Opernhäuser, Agenten, Dirigenten, Regisseure, Schallplattenfirmen und die Sänger selbst. Wie bei Agatha Christie: Einer hat ihn umgebracht, aber das heisst nicht, dass alle anderen unschuldig sind.

An American in Paris

James ConlonJames Conlon ist seit 1989 Generalmusikdirektor der Stadt Köln und Chefdirigent des Gürzenich-Orchesters, womit erstmals seit Günter Wand wieder ein Dirigent sowohl für den Opern- wie für den Konzertbereich verantwortlich ist. 1996 übernahm er überdies die Position des Chefdirigenten an der Opéra National de Paris. James Conlon wurde 1950 in New York geboren und erhielt seine Ausbildung an der renommierten Juilliard School. Schon mit 24 debütierte er als Dirigent beim New York Philharmonic Orchestra und arbeitete dann sukzessive mit allen wichtigen Orchestern der USA und Kanadas sowie mit vielen bedeutenden europäischen Orchestern. Eine besonders intensive Beziehung pflegte Conlon zwei Jahrzehnte lang zum Chicago Symphony Orchestra und zum Ravinia-Festival. Acht Jahre – von 1983 bis 1991 – amtierte er als Chefdirigent des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters. Auch in der Oper schuf sich James Conlon einen hervorragenden Ruf an vielen führenden Häusern, allen voran an der New Yorker Metropolitan Opera, wo er 1976 mit der «Zauberflöte» debütierte und vor vier Jahren seine 200. Vorstellung feiern konnte. London, Paris, Chicago und Mailand wurden weitere Stationen seiner Opernkarriere.
Mit seinem CD-Zyklus der Werke Zemlinskys bei EMI machte er in den letzten Jahren auch im Schallplattenbereich auf sich aufmerksam. Zuvor erschienen bei EMI Webers «Oberon» sowie Sinfonien von Bruch und Mahler. Für Sony nahm Conlon den Soundtrack zum «Butterfly»-Film auf, für Erato spielte er eine ganze Reihe sinfonischer Werke von Franz Liszt ein.


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