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DAS RHEINGOLD

MAGAZIN OPERNHAUS ZÜRICH

[© Magazin Opernhaus Zürich. Testo pubblicato
con il consenso scritto della direzione della Dramaturgie]

 

«Und weiter nichts? Weiter nichts?», schrieb Richard Wagner am 14. Januar 1854 unter die in Zürich verfasste Kompositionsskizze zum «Rheingold». Was folgte, sollte sich als das wohl grösste Bühnenwerk der abendländischen Theatergeschichte herausstellen: Über 14 Stunden Musik, eine sich über vier Opernabende erstreckende Handlung, die verschiedene Sagenkreise verbindet, philosophische Weltanschauungen unterschiedlichster Provenienz aufgreift und gesellschaftliche Utopien entwirft. «Der Ring des Nibelungen» bringt Brudermord und Geschwisterliebe (von inzestuosen Verbindungen zweiten und dritten Grades ganz zu schweigen) auf die Bühne, ist zugleich mythische Familiensaga als auch erbitterter Kampf verschiedener Geschlechter, zeigt den Untergang einer Welt und birgt zugleich die Hoffnung auf eine neue und (hoffentlich) bessere in sich, steht für soziale Evolutionen und ewigen Kreislauf in einem.
Anfangs- und Endpunkt von Wagner Weltenschau ist der gleiche: Die Tiefe des Rheins, in der (ein Bühnencoup, der seinesgleichen sucht) die Ereignisse in der ersten Szene des «Rheingolds» ihren Anfang nehmen und der das Rheingold in der letzten Szene der «Götterdämmerung» wiedergegeben wird. Was dazwischen passiert, ist Gegenstand zahlloser Deutungsversuche geworden und verschliesst sich dennoch einer Interpretation, die alle Aspekte des «Rings» miteinander in Einklang bringt. Trotz der zahlreichen philosophischen und sozialrevolutionären Implikationen, die Wagner in seiner Nibelungen-Tetralogie» anlegte, ist sein «Ring» vor allem eines: Einer der wenigen Mythen der Neuzeit. Und zum Wesen des Mythos gehort seine Unerklärbarkeit.
Wagner konzigierte die Arbeit an der «Ring»-Tetralogie paradoxerweise (und anfänglich keineswegs bewusst) von ihrem Ende her - der heutigen «Götterdämmerung». Im Herbst 1848 verfasste er in Dresden eine Prossskizze («Der Nibelungenmythus»), in der er verschiedene Elemente des Nibelungenliebs, der nordischen «Edda» und anderer Mythologien zu einem synthetischen Sagenkreis verwob. Obwohl die Ereignisse, die später Gegenstand der drei Opern «Das Rheingold», «DieWalküre» und «Siegfried# bilden werden, in dieser Prosaschrift als mythische Vorgeschichte bereits erwahnt werden, plante Wagner zu diesem Zeitpunkt nur ein abendfullendes Werk: eine «grosse Heldenoper» mit dem Titel «Siegfrieds Tod».
Im Mittelpunkt dieser Oper sollten jene Begebenheiten am Hofe Gunthers stehen, die heute den Kern der «Götterdämmerung» bilden: Hagens Intrige und die Tauschung Brunnhildes, deren Rache und Siegfrieds Ermorbung durch die Hand Hagens sowie Brünnhildes Selbstaufopferung. Im Winter des Jahres arbeitete Wagner dann die drei Akte von «Siegfriebs Tod» aus und stellte ihnen abschliessend ein «Vorspiel» voran, in dem die Ereignisse vom Raub des Rheingolbs bis zum Beginn von «Siegfriebs Tod» als Bericht erzählt werden sollten. Bereits zu diesem Zeitpunkt ausserte Wagners Freund Eduard Devrient Kritik am «vielstoffigen Inhalt» des Werkes und weckte bei Wagner erste Bedenken, ob er möglicherweise «dem Publikum doch gar zu viel zumute, wenn es sich aus kurzen epischen Andeutungen so sehr viel, was meinem Stoffe das richtige Verständnis geben sollte, zu ergänzen hätte».
Unterbrochen wurde die Arbeit an «Siegfrieds Tod» im folgenden durch den Dresdner Aufstand des Jahres 1849, an dessen Vorbereitung Wagner massgeblich beteiligt war und in dessen Folge der steckbrieilich gesuchte Komponist aus Deutschland fliehen musste und neun Jahre im Zürcher Exil lebte. Im Haus «Abendstern» in der Enge versuchte sich Wagner am 12. August 1850 an einer ersten Kompositionsskizze von: «Siegfriebs Tod» und vertonte die gesamte, die Vorgeschichte erzählende «Nornenszene» und die erste Szene zwischen Siegfried und Brünnhilde.
Schon im folgenden Jahr war in Wagner der Entschluss gereift, «Siegfrieds Tod» zunächst eine weitere Oper vorauszuschicken. In einem Brief an den Dirigenten Hans von Bülow schrieb Wagner im Mai 1851: «'Siegfriebs Tod' ist jetzt - zunachst - unaufführbar und fur das Publikum unverstandlich: - ich schicke ihm daher einen 'Jungen Siegfried'voraus.» «Unaufführbar» - das hiess für Wagner, wie die Skizze zum Vorspiel von «Siegfriebs Tod» zeigt, zu diesem Zeitpunkt auch kompositorisch «unausführbar»: Denn die mittlerweile in der in Zürich verfassten Schrift «Oper und Drama» theoretisch formulierte Idee der Orchestermelodie und der Leitmotivtechnik liess sich musikalisch nicht umsetzten, solange die im Vorspiel zu «Siegfriebs Tod» erzählten Ereignisse nicht auch szenisch umgesetzt worden waren; denn «musikalische Motive [...] müssen, um sinnfallig und fasslich zu sein, mit einem sichtbaren Vorgang, einer handelnden Person oder einem symbolischen Requisit, verbunden werden konnen» [Carl Dahlhaus].
Statt eines dichten Netzes musikalischer Bezüge, wie es spater für die vier Abende des «Rings» charakteristisch werden sollte, erschöpfte sich das Vorspiel zu «Siegfrieds Tod» vorerst noch in motivarmer Deklamatorik. Wagner legte selbst Rechenschaft über diesen Umstand ab, als er im November desselben Jahres an Theodor Uhlig schrieb: «Als ich nun an die volle musikalische Ausfuhrung ging [...] fühlte ich das Unvollständige der beabsichtigten Erscheinung», und betonte, die «epische Erzahlung» müsse durch die «Darstellung des ganzen Zusammenhangs an die Sinne», d.h. durch die szenische Schilderung der Vorgänge ersetzt werden.
Bei den Entwürfen zu « Der junge Siegfried» muss Wagner erkannt haben, dass eine zweite Oper nicht ausreichen würde, um «Siegfrieds Tod» in allen Punkten verständlich zu machen, und so beschloss er noch im selben Jahr, das Werk zur einer Tetralogie nebst Vorspiel auszubauen: «Dieser Plan geht nun auf drei Dramen aus: 1. Die Walküre, 2. Der junge Siegfried, 3. Siegfriebs Tod. Um alles vollständig zu geben, muss diesen drei Dramen aber noch ein grosses Vorspiel vorausgehen: 'Der Raub des Rheingoldes'. Es hat zum Gegenstand die vollständige Darstellung alles dessen, was in bezug auf diesen Raub, die Entstehung des Nibelungenhortes, die Entführung dieses Hortes durch Wotan und den Fluch Alberichs im «Jungen Siegfried» erzählungsweise vorkommt», schrieb Wagner 1851 in Albisbrunn. Im gleichen Jahr reifte auch der Plan, die «Ring»Tetralogie «an einem eigens dazu bestimmten Feste» aufzuführen zu lassen, wie der Komponist in «Eine Mitteilung an meine Freunde» verlauten liess.
Wagner entwarf im folgenden erste Prosaskizzen zum «Rheingold» und der «Walküre» und schrieb dann, weiterhin seiner rückläufigen Vorgehensweise folgend, im Juni 1852 das Textbuch zur «Walküre» und im Herbst jenes zum «Rheingold». Nach der Beendigung beider Arbeiten erkannte Wagner die Notwendigkeit, umfangreiche Änderungen am «Jungen Siegfried» und «Siegfriebs Tod» vorzunehmen, um beide Dichtungen der nunmehr erweiterten Werkgestalt anzugleichen. Die gesamte «Ring» Dichtung schloss Wagner im Dezember 1852 ab, bereits im Februar des folgenden Jahres veranstaltete er Lesungen der Tetralogie im Zürcher Hotel «Baur au Lac» und veröffentlichte die Textdichtungen als Privaldruck in 50 Exemplaren. Lediglich der Schluss der «Götterdämmerung» wurde von Wagner bis 1856 mehrfach überarbeitet; zu einer endgültigen Textgestalt fand der Komponist erst 1874 bei der Vertonung der «Gotterdämmerung».
Ebenfalls 1856 erhielten die beiden letzten Abenden der Tetralogie dann auch ihre endgültigen Titel: «Der junge Siegfried» hiess nunmehr schlicht «Siegfried; «Siegfriebs Tod» wurde in «Gotterdämmerung» umbenannt. Mit dem neuen Titel des letzten Abends des «Rings» legte Wagner schon äusserlich Zeugnis von der mittlerweile gewandelten Konzeption seines Nibelungen Projekts ab: Mittel- und Endpunkt der Tetralogie ist nicht mehr die Person Siegfrieds, sondern ebenso die Tragödie Wotans, die nun mit dem Untergang der Götter im brennenden Walhall endet - eine dramatische Wendung, die sich in der epischen Keimzelle des «Rings», Wagners «Nibelungenmythus», bezeichnenderweise ebensowenig findet wie Wotans Frevel an der Weltesche. Im frühen Stadium von Wagners Beschäftigung mit der Nibelungensage waren die Ereignisse in erster Linie als politische Parabel konzipiert, Siegfried als Personifikation des von Wagner ersehnten «neuen Menschen», der vorerst freilich noch an der alten Gesellschaftordnung, vertreten durch die Gibichungen und Hagen, scheitert.
Der «Götter Ende», wie es später in der «Gotterdämmerung» heisst, war in den frühen Entwürfen Wagners bereits mitgedacht, stand allerdings im Dienste der von Wagner ersehnten «Freiheit des menschlichen Bewusstsein»: Der Mensch löst sich von Gott, indem er begreift, dass er eine Projektion des eigenen Denkens ist und sich in diesem Bild selbst erkennt. In Umkehrung von Ludwig Feuerbachs religioser Anthropologie schreibt Wagner im «Nibelungenmythus»: «In den Menschen suchen sie [die Götter] also ihre Göttlichkeit zu übertragen».
Der Feuerbach entlehnte religionsphilosophische Freiheitsgedanke wurde anfänglich freilich von den politischen Intentionen der Heroentragödie, nämlich der Loslösung von der als überkommenen empfundenen Gesellschaftsordnung und dem Aufbruch in eine neue, freie Welt, überschattet. Interessanterweise besteht ein wesentlicher Unterschied zum späteren «Ring» darin, dass in den frühen Entwürfen Wotans Macht nach Siegfriebs Ermorbung und Brünnhildes Freitod wieder restauriert wird - durch den Tod Siegfrieds nunmehr frei von der schuldbeladenen Verstrickung in die eigenen Gesetze.
So heisst es in Wagners «Nibelungenmythus»: «Hort denn, ihr herrlichen Götter, euer Unrecht ist getilgt: dankt ihm, dem Helden, der eure Schuld auf sich nahm». Dass Siegfrieds Tod von Wagner als Sühnetod für die Sünden der Götter (nicht jene der Menschen!) verstanden wird, ist eine (säkularisierte) Verkehrung des GnadentoUs Christi, die bereits ihre Schatten auf die paradoxe Formel «Erlösung dem Erlöser» im «Parsifal» vorauswirft. Diese Überlagerung von sozialer Utopie und christlichen Glaubensinhalte geht zurück auf Wagners 1849 geschriebenen Dramenentwurf «Jesus von Nazareth», der Christus als Sozialrevolutionär zeigte, und lässt sich in Ansätzen noch bis zur endgultigen Fassung des «Ring» nachweisen: Die charakteristischen Merkmale, die Wotans Herrschaft von der in der Person Siegfrieds angelegten Gesellschaftsutopie unterscheiden, sind bezeichnenderweise dieselben, die in der Bibel das Alte vom Neuen Testament abgrenzen: Die Legitimierung von Wotans Macht und das Mittel ihrer Konsolidierung sind die von ihm geschaffenen Verträge; Siegfrieds und Brünnhildes neue Botschaft hingegen ist die der Liebe.
Je weiter sich Wagner dann jedoch im Krebsgang zu den Anfängen seiner Nibelungendichtung vorarbeitete, um so mehr forderte der heidnische Göttermythos seinen Tribut. Was ursprünglich als mythische Vorgeschichte geplant war, drängte bei seiner Ausarbeitung nach einer Akzentuierung, die Wotans Person mit den Ereignissen an Gunthers Hof ursächlich in Verbindung brachte und über die (von Wagner erfundene) Genealogie hinausging. In dem Moment, in dem Wotan samt des ihn umgebenden Personals der Götter, Riesen, Zwerge und Rheintöchter aus dem Schatten eines Vorspiels zum Siegfrieddrama heraustrat und in persona auf der Bühne von Wagners «Ring» erschien, wandelte sich die Bedeutung seiner Figur zunehmend, bis sie in schliesslich zum dialektischen Antagonisten Siegfrieds wurde.
Dieser Prozess vollzog sich offensichtlich schrittweise, und zwar im wesentlichen während der Entwürfe zum «Jungen Siegfried»: Eine Reihe der Wotanszenen steht noch ganz in der Tradition der Nornenszene und erzählt Teile der mythischen Vorgeschichte - es hat geradezu den Anschein, als ob Wagner sich selbst noch nicht bewusst war, welche Details er in den anderen Dichtungen ausführen wollte. So dient «Wotans» Wissenswette mit dem Zwerg Mime im «Siegfried» noch wesentlich dazu, das Publikum über die handlungstragenden Geschlechter, insbesondere das der Wälsungen, aus welchem Siegfried hervorgeht, zu informieren. Wotans Begegnung mit Alberich verfolgt das Ziel, die in «Siegfriebs Tod» ursprünglich angelegte Dichotomie zwischen dem Lichtalben Wotan und dem Schwarzalben Alberich zu unterstreichen: Wotan ist der positive Gott Siegfrieds, Alberich der negative, der hinter Siegfrieds Gegenspieler Hagen steht.
In der Prosaskizze zu «Siegfried» aus dem Jahr 1851 findet sich in der Begegnungzwischen Wotan und Erda dann erstmals der Gedanke der Selbstvernichtung der Götter. Doch erst im Texthuch zu «Walküre» wird Wagner 1852 diesen entscheidenden Entschluss Wotans explizit formulieren, indem er Wotan sagen lässt: «Nur eines will ich noch: das Ende!» Wotans Entscheidung, den eigenen Untergang herbeiführen zu wollen, bedingt, dass Siegfried zugleich Wotans Gegenspieler als auch ein Instrument seines Willens wird. In einem Brief an seinen Dresdner Freund August Röckel vom Januar 1854 fasst Wagner zusammen, wie er die Wotanstragödie mit dem Siegfrieddrama letztendlich verbunden hat: «Wotan schwingt sich bis zu der tragischen Höhe, seinen Untergang - zu wollen. Dies ist alles, was wir aus der Geschichte der Menschheit zu lernen haben: das Notwendige zu wollen und es selbst zu vollbringen. Das Schöpfungswerk dieses höchsten selbstvernichtenden Willens ist der endlich gewonnene furchtlose, stets liebende Mensch: Siegfried. - Das ist Alles.»
Die sozialrovolutionäre Utopie, die fur «Siegfrieds Tod» bestimmend war, bleibt nach wie vor erhalten: In Wagners Konzeption ist Wotan nunmehr «die Summe der Intelligenz der Gegenwart, wogegen Siegfried der von uns gewünschte, gewollte Mensch der Zukunft ist, der aber nicht durch uns gemacht werden kann, und der sich selbst schaffen muss durch unsere Vernichtung.»
«Die Walküre» ist demnach das Bindeglied zwischen Wotanstragödie und Siegfrieddrama. «Das Rheingold», von Wagner konsequent als «Vorabend» zur Tetralogie bezeichnet, zeigt die Voraussetzungen für die dort einsetzende Entwicklung des Dramas. Wotan hat aus dem Holz der Weltesche einen Speer als Symbol seiner Macht geschnitzt und mit dieser «Ursünde» das Gleichgewicht der Natur ins Schwanken gebracht. Seine Vorherrschaft gründet sich auf Verträge, mit denen er die ihn umgebenden widerstreitenden Kräfte in der Schwebe halt. Als es dem Nibelungen Alberich gelingt, das Rheingold zu rauben, ist das Machtverhältnis gestört: zu einem Ring geschmiedet, verspricht das Rheingold dem Träger die Weltherrschaft.
Zwar gelingt es Wotan, Alberich den Ring abzunehmen, doch muss er ihn aufgrund eines Vertrages dem Riesen Fafner überlassen. Damit sind die Voraussetzungen für die drei Abende der «Ring»Tetralogie geschaffen: Wotans Vormachtstellung ist gefährdet, das ihm prophezeite Ende der Götter rückt durch den Raub des Rheingolds in bedrohliche Nähe, er selbst ist, durch Vertrage gebunden, handlungsunfahig. Und was weiter?
26 Jahre liegen zwischen dem Frühjahr des Jahres 1848, in dem Wagner nachweislich zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, eine Nibelungen-Oper zu schreiben, und der Vollendung der Partiturreinschrift der «Götterdämmerung», die Wagner 1874 in Bayreuth abschloss und mit den Worten «Vollendet in Wahnfried am 21. November 1874. Ich sage nichts mehr! R.W.» unterzeichnete. Im Zeitraum dieses Vierteljahrhunderts veranderte sich Wagners politisches und gesellschaftliches Umfeld ebenso wie seine philosophischen und ästhetischen Standpunkte sowie - nicht zuletzt - auch seine Kompositionstechnik. So uberzeugend Wagner der grosse Wurf eines sich über vier Abende erstreckenden musikalischen Dramas gelungen und sein dramaturgisches wie musikalisches Kalkül zu bewundern ist, so brüchig und in sich mitunterwiderspruchlich ist der «Ring des Nibelungen» dennoch.
Die musikalische Arbeit am «Ring», die sich über insgesamt 24 Jahre hinzog, wurde mehrfach unterbrochen und ruhte zwischen 1857 und 1864 fur ganze sieben Jahre, in denen Wagner «Tristan und Isolde» schrieb und mit der Arbeit an «Die Meistersinger von Nürnberg» begann. Die Erfahrung der die Tonalität bis an ihre Grenzen führenden Partitur des «Tristan» offenbart sich in dem satztechnischen Bruch, der sich im zweiten Akt des «Siegfried» vollzieht, und Wagners im Vergleich zum «Rheingold» und der «Walküre» nunmehr weit fortgeschritteneren Kunst der Motivvariation. Zwischen der Musik des «Rheingolds» und jener etwa der «Götterdammerung» liegen damit kompositionstechnische Welten.
Freilich liegt die im Vergleich zu den späteren Werken des «Rings» weniger komplexe Satzstruktur auch in der Natur der Dinge: Denn das «Rheinpold» erfullt nicht allein dramaturgisch die Funktion einer Exposition des eigentlichen «Ring»-Dramas; es schafft auch die motivisch-thematischen Gründlagen für die folgenden drei Abenden der Tetralogie. Im «Rheingold» wird ein Grossteil jener Motive, die auch in «Die Walküre», «Siegfried» und «Götterdämmerung» eine entscheidende Rolle spielen, erst angelegt. Da Wagner das musikalische Material erst langsam entfalten muss, finden sich insbesondere in den Dialogszenen des «Rheingolds» weite Strecken, in denen der Orchestersatz wesentlich dünner ist als in den folgenden Abenden der Tetralogie.