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PROGRAMMBUCH - OPERNHAUS ZÜRICH

ERICH WOLFGANG KORNGOLD

DIE TOTE STADT

INDEX


KORNGOLD ÜBER DIE TOTE STADT


DAS LEITUNGSTEAM IN GESPRÄCH
SCHÜRFEN IN DER NERVÖSEN SCHICHT


HEINRICH HEINE
Mein süsses Lieb...
Du hast mir beschworen...



ARNE STOLLBERG

DER «TRIUMPH DES LEBENS» DURCH DIE
«REINIGENDE KRAFT DES TRAUMES» ZUR DARSTELLUNG
EINER PSYCHISCHEN KATHARSIS IN ERICH WOLFGANG
KORNGOLDS OPER «DIE TOTE STADT»


[EINLEITUNG] - VERGESSEN ALS VORDERUNG DES LEBENS -
EINE PSYCHOLOGISCHE FALLSTUDIE - DIE TRAUMSEQUENZ -

DIE LÖSUNG DES PSYCHISCHEN KONFLIKTS


HANS HINTERHÄUSER
GEORGES RODENBACH -
EINE TODESSÜCHTIGE SEELE



RICCARDA HUCH
Komm am Morgen nict...


ULRICH SCHREIBER
AUGENKUNST MIT OHRWURMQUALITÄT
E. W. KORNGOLDS OPER «DIE TOTE STADT»


[EINLEITUNG] - BRUGES-LA-MORTE -
IST EIN TRAUM, KANN NICHT WIRKLICH SEIN?-
DIE WENDUNG INS BILDHAFTE


MARIE LUISE-KASCHNITZ
Sie sagen, dass wir uns im Tode nicht vermissen...

INGEBORG BACHMANN
Die Liebe hat einen Triumph...

OLAF KIENER
KORNGOLDS BRÜGGE LAG IN WIEN

ARTHUR SCHNITZLER
DIE NÄCHSTE

THÉOPHILE DE VIAU
Mir träumte heute Nacht...

INGEBORG BACHMANN
Und darum will ich dein Skelett...

13 BÜHNENPHOTOS

DAS LIBRETTO AUF DEUTSCH

© OPERNHAUS ZÜRICH

Die eigentümliche Brügge-Stimmung, der schwermütige Grundton, die beiden Hauptgestalten mit ihren fesselnden seelischen Konflikten, der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten, die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt, insbesondere der schöne Gedanke notwendiger Eindämmung der Trauer um teure Tote durch die Rechte des Lebens, dabei überall eine Fülle musikalischer Gestaltungs- möglichkeiten - all das zog mich an.
Und dies erst recht, als die letzte Umgestaltung des Stoffes durch Paul Schott alles Geschehen nur Ausfluss einer Vision des aus dem seelischen Gleichgewicht gebrachten Helden werden liess, eine poetische Ausdeutung, zu der durch Rodenbach der Anstoss gegeben ward Die traumhaft- phantastische Sphäre, in die der Stoff damit gerückt war, schien dessen eminente Musikfähigkeit
zu vollenden.

Von der Musik möchte ich in geziemender Zurückhaltung nur soviel sagen dürfen, dass ich gerade des traumhaft-phantastischen Charakters der Handlung wegen das Streben auf äusserst dramatische Knappheit richtete.
An der bereits in meinen einaktigen Opern beobachteten Zusammenfassung der einzelnen Szenen habe ich auch diesmal festgehalten. Und noch mehr als zuvor war ich bei aller Wahrung
der dramatischen Funktionen eines im Dienste von Stimmung, Schilderung und psychologisch-dramatischer Charakterisitik farbig und thematisch geführten Orchesters auf Hervortreten des singenden Menschen, auf Gefühl und Affekt widerspiegelnde, dramatische Gesangsmelodie bedacht. Dies alles unbeschadet moderner Diktion, in der ich höre und fühle.

Erich Wolfgang Korngold


DIE LÖSUNG DES PSYCHISCHEN KONFLIKTS

Doch der Mord an Marietta ist eben kein (reales) Geschehen, sondern nur eine Ausgeburt der Phantasie des Träumenden. Das anschliessende Erwachen bringt - wie Julius Korngold schreibt - «Lösendes und Erlösendes durch die reinigende Kraft des Traumes». Damit ist klar, welche Funktion die Traumsequenz in der Toten Stadt erfüllt: Sie bewirkt eine psychische Läuterung im Sinne der von Josef Breuer und Sigmund Freud in den «Studien über Hysterie» beschriebenen «kathartischen Methode», die auf der Annahme beruht, dass ein hysterisches Symptom sich beseitigen lässt, wenn die verdrängte Ursache seiner Entstehung - das pathogene Trauma - dem Patienten ins Bewusstsein zurückgerufen wird. Sobald der krankhafte psychische «Fremdkörper» sich auf diese Weise zu erkennen gibt und einer Verbalisierung durch den Patienten zugänglich ist, wird er ausgeschieden, und das hysterische Symptom verschwindet. Nichts anderes vollzieht sich in der letzten Szene von Korngolds Oper: Der «reinigende» Traum hat Paul vor Augen geführt, weich fatale Konsequenzen sich aus seinem hybriden Vergangenheitskult ergeben können. Nun erst vermag er zu erkennen, dass sein Glaube an die Wiederkehr Maries dem unterdrückten Bedürfnis geschuldet war, das neu erwachte Verlangen nach Liebe und Leidenschaft in der Gegenwart auszuagieren. Indem der Witwer sich diese verdrängte Triebregung bewusst macht, gelangt er auch zu der Einsicht, dass die Last des Vergangenen abgestreift werden muss, bevor sie das gegenwärtige Leben wie unter einem Sargdeckel begräbt. Und so erklärt er sich gegenüber Frank bereit, den ersten, entscheidenden Schritt zu tun: Brügge, die «Stadt des Todes», zu verlassen.
Abermals bedient sich Korngold des «Motivs der Lebenssehnsucht», um diese psychische Katharsis musikalisch nachzuzeichnen. Die Handlungssituation knüpft dabei an das erste Bild an, schliesst also einen Rahmen um die Traumsequenz. Marietta ist zurückgekehrt, wobei die an Paul gerichtete Bemerkung: «Da bin ich wieder, kaum, dass ich Sie verlassen» darauf hindeutet, dass seit dem Beginn des Traumes eine (Realzeit) von nur wenigen Minuten verstrichen ist. Paul freilich nimmt von den Worten der Tänzerin keine Notiz, zu sehr ist er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Und was in ihm vorgeht, spiegelt sich im Orchester wider: Zweimal deutet die Solo-Flöte das «Motiv der Lebenssehnsucht» an, aber nur noch wie von ferne herüberklingend, bis es schliesslich - nach Moll gewendet - in hoher Lage sanft erlischt. Nicht zuletzt aufgrund der (ätherischen) Instrumentation gewinnt man den Eindruck, dass der bohrende psychische Impuls in die Klarheit eines Gedankens überführt wird und damit seine Macht über das Subjekt verliert. Paul durchläuft gleichsam eine «kathartische Kur», an deren Ende die Herrschaft der Vergangenheit gebrochen ist, so dass sich dem Witwer die Möglichkeit eröffnet, mit der zuvor verweigerten Trauerarbeit zu beginnen, Der Schlu5s der Oper ist insofern zugleich ein Anfang.


IST EIN TRAUM, KANN NICHT WIRKLICH SEIN?

Die eigentliche Handlung nach dem Besuch Mariettas bei Paul (wie die Hauptpersonen nun heissen) erleben wir in der Oper nicht wie im Roman und Drama realiter, sondern als eine Traumfolge Pauls. Ausgelöst wird sie dadurch, dass seine verstorbene Frau Marie aus ihrem eigenen Porträt hervortritt (auch im Drama erscheint sie kurz visionär) und die ihr versprochene Treue ebenso fordert wie seinen Lernprozess durch das richtige Schauen. Danach erfahren wir in Pauls Traumperspektive: wie er die Haushälterin Brigitta, die ihn wegen seines angeblichen Treueverrats an der Toten verlassen hat, als Novizin in einem Zug der Beginen sieht (deren Viertel noch heute eine Touristenattraktion in Brügge ist); wie Paul zum Haus Mariettas eilt und dort Freund Frank als Konkurrenten vorfindet, dem er den Schlüssel zu ihrer Wohnung entreisst; wie er versteckt Marietta inmitten ihrer Komödiantentruppe beobachtet, die in einem Boot am Quai champagnerselig die Auferstehungsszene der Nonne Helena aus Meyerbeers Oper Robert le diable probt; wie er aus dem Dunkel hervortritt und sie der Verunglimpfung seines Glaubens an die fleischliche Auferstehung bezichtigt; wie Marietta Paul in sein Haus folgt, um erotisch den Kampf gegen ihre tote Nebenbuhlerin aufzunehmen; wie nach der Liebesnacht die Prozession des kostbaren Blutes am Hause Pauls vorüberzieht und er Marietta erwürgt. Als aber die Haushälterin Mariettas Rückkehr meldet, die in der ersten Szene Regenschirm und Rosen liegen liess, ist Paul aus seinen Visionen in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Er lässt die nicht ohne erotische Erwartungen auftretende Marietta unbeachtet und erklärt sich gegenüber Freund Frank als durch seinen eigenen Traum von allen nekrophilen (und möglicherweise auch sexuellen) Neigungen geheilt.
Der Versuch, ein Operngeschehen in die Zweiteilung von Realität und Vision aufzulösen, geht über dramaturgische Rahmungsverfahren wie in den Contes d'Hoffmann des Jacques Offenbach oder der Mona Lisa des Max von Schillings weit hinaus. Korngold hat hier in Vorwegnahme jener Traumperspektive, die in den 1970er Jahren eine Regiewelle auf dem Theater auslöste, Sigmund Freuds Methode der Traumdeutung aufgegriffen. Aber er überantwortet das Therapiemittel der rechten Deutung halluzinatorischen Wunscherfüllungen nicht einem Analysten (für eine solche Funktion ist Frank dramaturgisch zu unentwickelt), sondern dem seine «Ich-Dystonie» aufhebenden Analysanden selbst. Die Oper wird solcherweise zum Heiltraum, der über Männerphantasien triumphiert - ursprünglich hatten die Korngolds der «Töten Stadt» den Titel «Der Triumph des Lebens» geben wollen.
Dieser Prozess der gelingenden Eigentherapie hat natürlich etwas von jenem Wunschdenken an sich, das wir aus alten Märchen kennen -würde nicht Korngolds Leerstelle mit der allzu schnellen Selbstheilung des seelisch kranken Paul nachschöpferischer Regie einen Deutungsraum öffnen. Zudem greift Korngold der Kunstentwicklung in den audiovisuellen Massenkommunikationsformen der Moderne vor und driftet nicht nur musikalisch, sondern auch psycho-dramaturgisch schon in Richtung auf jene Hollywood-Kultur, der er selbst als Filmmusiker nach seiner Emigration eine wesentliche Stütze werden sollte. So taucht in krimi-spezifischer Fortsetzung des romantischen Doppelgängermotivs das Sujet vom verhängnisvollen Nachgeistern einer geliebten Toten an einem weltabgeschiedenen Ort in Alfred Hitchcocks Rebecca nach dem Roman Daphne du Mauriers wieder auf, von der wie Marie-Marietta - wenngleich in krimineller Absicht-auch eine Doppelrolle spielenden Kim Novak aus Hitchcocks Vertigo ganz zu schweigen. In James Stewarts ungläubigem Staunen vor der von ihm keineswegs geträumten Wirklichkeit, über die sich die von Novak alptraumartig gespielte wie eine Dunstglocke legt, lebt die Begriffsverwirrung von Korngolds Paul nach. Denn dieser beobachtet als Voyeur die Auferstehungsprobe der für ihn multiplen Persönlichkeit Marie-Marietta wie ein Spiesser, der insgeheim seine Moralinsäuernis allzu gern von erotischen Wunscherfüllungen überwunden sähe.

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