Erich Wolfgang Korngold:
Die tote Stadt


Aufführung


13. 4. 2003
(Première)
*
Musikalische Leitung: Franz Welser-Möst
Inszenierung: Sven-Eric Bechtolf
Bühnenbild: Rolf Glittenberg
Kostüme: Marianne Glittenberg
Lichtgestaltung: Jürgen Hoffmann
Chor: Ernst Raffelsberger

Paul: Norbert Schmittberg
Marietta / Marie: Emily Magee
Frank / Fritz: Olaf Bär
Brigitta: Cornelia Kallisch
Juliette: Elizabeth Rae Magnuson
Lucienne: Heidi Zehnder
Victorin: Boguslav Bidzinski
Graf Albert: Volker Vogel
Gaston: Daniel Chait

Erscheinung Mariettas: Megan Laehn
Erscheinung Maries: Catherine Treyvaud
Riese: Reto Götschi
Zwerg: Roberto Angeletti
Dicke Frau: Isabella Rütschi

Chor des Opernhauses Zürich
Jugendchor Opernhaus Zürich
Statistenverein des Opernhauses Zürich
Orchester der Zürcher Oper


SYNOPSIS / LIBRETTO


Rezensionen


15. 4. 2003

Vom Vergessen

«Die tote Stadt» von Korngold im Opernhaus Zürich

Ein erstaunliches Stück - und das Erstaunlichste daran: Erich Wolfgang Korngold war, als er «Die tote Stadt» schrieb, dreiundzwanzig Jahre alt. Gewiss, er galt als das musikalische Wunderkind seiner Zeit; bereits als Zehnjähriger war er zu Alexander Zemlinsky in den privaten Kompositionsunterricht gegangen, mit neunzehn war er mit zwei Operneinaktern zu einem ebenso grandiosen wie bekämpften Erfolg gekommen, und einen Verleger hatte er auch schon: keinen Geringeren als Schott in Mainz nämlich. Aber selbst wenn man das alles in Rechnung stellt, kann man die Souveränität des Handwerks und die Individualität der Handschrift in der 1920 in Köln und Hamburg zugleich uraufgeführten und sofort breitflächig nachgespielten Oper nur bewundern.

Dass sich das so sagen lässt, gehört mit zu jenen Veränderungen, denen das Bild von der Musikgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in der jüngeren Vergangenheit unterworfen wurde. Nach und nach kamen in den letzten Jahrzehnten die unzähligen Komponisten, die sich ausserhalb der Zweiten Wiener Schule an der Entfaltung der musikalischen Moderne beteiligt hatten, ans Licht: Franz Schreker zum Beispiel, der Bedeutendste unter ihnen, oder eben Korngold. Und wie Schreker brachten auch Korngold die späten zwanziger Jahre ein Ende; die Zeit der üppigen Orchesterspiele war vorbei, in den Vordergrund gerieten die Tendenzen um die Neue Sachlichkeit. Korngold verlegte sich aufs Komponieren von Filmmusik, worin er eine eigene Virtuosität entwickelte - zumal in Hollywood, wohin er zusammen mit seiner Familie 1934 ausgewandert war. Indes, so gewiss ihm diese glückliche Wendung das Leben gerettet hat, so sehr erhielt sie ihm bis zu seinem Tod im Jahre 1957 und darüber hinaus das Odium des effektvoll Unterhaltenden und damit des Unseriösen.

Der Ruf ist falsch und ungerecht - das lässt sich jetzt im Opernhaus Zürich erfahren, wo «Die tote Stadt» konsequent als ein Stück der Moderne gezeigt wird. Der zarten Nostalgie in «Glück, das mir verblieb», der zentralen Arie des Stücks (und Renner eines jeden Wunschkonzerts), bleibt Franz Welser-Möst nichts schuldig; auch den zahlreichen Anklängen an Richard Strauss und Giacomo Puccini lässt er Gerechtigkeit widerfahren. Vor allem aber stellt er heraus, wie vielgestaltig und vielschichtig die Partitur Korngolds gehalten ist, wie extrem sie zwischen zuckersüss und kantig-scharf pendelt. Zumal im ersten Akt hält der Dirigent das riesig besetzte Orchester - das Opernhaus muss für diese Produktion zwei Sitzreihen im Parkett hergeben - mustergültig im Zaum. In dem aufgelichteten Klangbild wird hörbar, dass Korngolds Musik ihren rauschhaften Charakter nicht allein aus dem Spiel mit den Orchesterfarben gewinnt, sondern ebenso sehr aus dem überaus dichten Netz an Motiven, die wie bei Wagner semantisch determiniert sind. Da könnte man sich denn einlassen und zu begreifen versuchen - nur müsste man, wie stets im Opernhaus Zürich, das Libretto auswendig können, denn vom Text sind naturgemäss etwa zehn Prozent verständlich, und auf die andernorts längst üblichen Texteinblendungen wird einmal mehr verzichtet.

Den Blick auf das Moderne in Korngolds Oper lenkt auch die szenische Realisierung. Nichts in dieser neuerlichen Arbeit des Schauspielers Sven- Eric Bechtolf lässt erahnen, dass mit der toten Stadt das alte Brügge gemeint ist, dass das Stück im 19. Jahrhundert spielt und dass es eine ausführliche Verweisung auf «Robert le diable» von Giacomo Meyerbeer enthält. Das Geschehen um den unglücklichen Paul, der von der Trauer um seine verstorbene Frau Marie nicht loskommt, der in der lasziven Tänzerin Marietta der Verkörperung seiner unterdrückten Triebe begegnet und in einem schweren Traum eine eigentliche Katharsis durchlebt, die ihm das Vergessen und den Neubeginn ermöglicht - dies Geschehen ist in einer Sphäre von Psychoanalyse und Traumdeutung angesiedelt. Das eheliche Schlafzimmer, von Paul unter Plasticbahnen bewahrt, als sei Marie nur kurz weggegangen, wird von dem Bühnenbildner Rolf Glittenberg ins Design der emphatischen Moderne gekleidet. Und später, wenn uns Pauls Albtraum in ein geräumiges Badezimmer versetzt, wo sich Riese und Zwerg, bärtige Frau und Hermaphrodit tummeln, spielen die Kostüme von Marianne Glittenberg beziehungsreich mit der geschlechtlichen Ambivalenz. Sigmund Freud also und das Trauma des untergegangenen Kaiserreichs, aber auch das ewige Dilemma des Mannes zwischen der Frau als Mutter und jener als Hure.

So weit, so interessant - wenn dabei nicht immer wieder und so nachhaltig zum Holzhammer gegriffen würde. Und dies schon am Ende des ersten Aktes, wo Frank (Olaf Bär, ausdrucksstark agierend) nicht als der vom Text vorgesehene Freund, sondern als Arzt erscheint und dem sichtlich verwirrten Paul eine Spritze verpasst, die ihn ins Delirium versetzt. Wo der benebelte Patient dann erstmals seinen gestauten Trieben begegnet, was zu einer ziemlich expliziten, wenn auch nicht mehr sonderlich provozierenden Tanzeinlage führt. Und wo handgreiflich, aber in freier Auslegung des Textes behauptet wird, die Gattin sei von eigener Hand aus dem Leben geschieden. Klar tritt hier der Hang des Regisseurs zu teils gewiss anregender, teils aber auch ärgerlich willkürlicher Interpretation zutage, und am Ende bleibt das Gefühl, dass hier wieder einmal das schlagkräftige Bild die Auseinandersetzung mit Text und Musik entbehrlich erscheinen lassen soll.

Im zweiten Akt, einer Art Tableau im Geist der Grand Opéra, gerät dann auch dem Dirigenten das Heft aus der Hand. Da trumpft das Orchester in seinem erweiterten Graben derart auf, dass sich beim Zuhörer alsbald Ermattung einstellt und er sich fragt, ob das Stück für ein Haus wie jenes in Zürich überhaupt geeignet sei. Vor allem aber geht dieser Ansatz zulasten der beiden Protagonisten, die sich mit Kraftanstrengungen sondergleichen dem reissenden Strom des Instrumentalen entgegenzustellen haben. Emily Magee (Marietta/Marie) gelingt das eindrücklich, sie bleibt stimmlich grossartig bei Kräften und bewahrt sich ihre erotische Ausstrahlung bis ans gewaltsame Ende. Norbert Schmittberg dagegen geht unter - in Ehren, wie man deutlich sagen muss. Der deutsche Tenor verfügt über ein nicht unproblematisches, weil relativ scharfes Timbre, zugleich aber auch über eine ungewöhnliche darstellerische Präsenz; wie er die Unruhe und das Getriebensein der Hauptfigur verkörpert, wird man nicht so leicht vergessen. Aber wenn er am Ende noch einmal zu «Glück, das mir verblieb» ansetzt, ist er stimmlich nur mehr ein Schatten seiner selbst. Und dass dieses Ende im Zürcher Opernhaus dem Geist der Partitur vollkommen widerspricht, dass es nicht von der These des Stücks, sondern vom Zweifel des Regisseurs an ihr berichtet - dafür hat man dann allenfalls noch ein ermüdetes Lächeln übrig.

Peter Hagmann

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15. 4. 2003

Die Anbetung der schönen Vergangenheit
Die Korngold-Renaissance erreicht auch Zürich. Begeisterungsstürme gabs im Opernhaus für «Die tote Stadt» - und eine hervorragende Produktion.

Von Michael Eidenbenz

Die musikalische Moderne ist Geschichte. Wenn es noch einen letzten Beweis gebraucht hat für das Ende all dessen, was man sich fast hundert Jahre lang dem strukturellen Hören in aufklärerischer Pflicht schuldig zu sein glaubte, so liefert ihn die phänomenale Renaissance, die Erich Wolfgang Korngolds Musik derzeit erlebt. Das frühe Schaffen des später im Exil als Hollywood-Filmkomponist berühmt und damit für die Nachkriegsavantgarde natürlich suspekt gewordenen Wieners taucht plötzlich allerorten auf Bühnen und in Konzertsälen auf - und wird bejubelt. Und zwar nicht nur von den ewigen Wien-Nostalgikern, sondern auch von jenen, die noch vor kurzem Wiens Beitrag zur Moderne im Wesentlichen bei Schönberg und seinen Schülern sahen.

Zumal «Die tote Stadt», der Geniestreich des 23-jährigen einstigen Wunderkinds Korngold, boomt. New York, Paris, Bremen, Braunschweig, Strassburg, Passau, Karlsruhe - die Liste liesse sich fortsetzen - haben in den letzten Jahren Neuinszenierungen gebracht. Da kann das Zürcher Opernhaus, ohnehin spezialisiert auf musiktheatralische Kulinarik, nicht abseits stehen und liefert nun seinen eigenen Beitrag zum gegenwärtigen Triumph des musikalischen Cinemascope-Formats. Und wie! Was Dirigent Franz Welser-Möst und ein Riesenapparat von einem Orchester mit dieser Partitur anstellen, ist nichts weniger als sensationell. Wenn je nuanciertes klangliches Schwelgen auf einer Opernbühne gefragt und geboten waren, dann hier. Wenn je erlesene orchestrale Farbmischungen, gepaart mit geschmeidig eingängiger harmonischer Faktur und unaufhörlichen Modulationen, ihre rauschhafte Wirkung entfalten durften, dann vom Orchester der Oper. Wenn je Üppigkeit zur Geltung kam, ohne die geringste Einbusse an Klangtransparenz, dann hat sich hier Welser-Möst als der richtige Mann dafür bewiesen.

Ein kolossaler Soundtrack
Diese Musik ist ein kolossaler Soundtrack, praktisch frei von Motivsymbolik oder semantischer Mehrschichtigkeit. Sie ist im Grunde purer Klang in raffiniertester Ausarbeitung - und damit zeitgenössischen Aspekten der Neuen Musik vielleicht doch nicht so fremd. Überspitzt gesagt: Der Klang an sich, derzeit in der neuen und neuesten Musik zelebriertes Faszinosum, findet hier im Wiener Kaffeehaus einen überraschenden Ahnen. Liegt darin vielleicht sogar eine tiefere Erklärung für Korngolds Revival? Kehrt hier eine unerwartete Moderne durch die Hintertür zurück?
Um genau diese Fragen der Vergangenheitsbewältigung dreht sich auch der Stoff des Stücks, einem Roman Georges Rodenbachs entnommen und von Korngolds Vater Julius zum Libretto geformt. Die tote Stadt ist Brügge, die versandete Hafenstadt, abgeschnitten von der Welt und dem Kult ihrer Vergangenheit verfallen. Hier lebt Paul in seiner «Kirche des Gewesenen» und feiert im Reliquienkult die Treue zu seiner toten Frau Marie. Geheilt wird er durch die Begegnung mit der Tänzerin Marietta, die ihm zuerst real, dann im Traum ambivalent als Wiederkehr der toten Gattin und gleichzeitig erotische Versuchung zum neuen Leben erscheint. Der Mord an ihr befreit ihn schliesslich vom nekrophilen Wahn.

Da liessen sich nun trefflich Realitätsbezüge finden. Angefangen bei der Befindlichkeit von «Old Europe» bis zu jener des Opernbetriebs, dem Pauls Motto ja nicht fremd ist: «Wir beten Schönstes an: Vergangenheit.» Dass die Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf auf dieses Angebot weit gehend verzichtet, könnte man bedauern, würde sie nicht mit einer sorgfältig durchdachten psychologischen Studie des Traums mehr als entschädigen. Die historisch exakte Situierung entfällt in Rolf Glittenbergs Bühnenbild, das mit Requisiten, Mobiliar und den Kostümen von Marianne Glittenberg Versatzstücke aus verschiedenen Vergangenheiten zwischen den Zwanziger- und Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts präsentiert. Was davon im ersten Akt reales Lebensumfeld ist, erfährt darauf in Pauls Traum seine surreale Übersteigerung und Vervielfältigung. Aus der Badewanne mit Maries Leiche (der Todesort lässt auf Suizid schliessen) wird im zweiten Bild ein ganzes Hallenbad mit Dusche, aufgereihten Lavabos, Wasserbecken und Wanne; die schillernden Wasserschatten an den Wänden sind nur ein Beispiel für Jürgen Hoffmanns durchweg raffinierte Lichtgestaltung.

Die multiplizierte Blondine
Marie ersteht nicht nur als Marietta wieder, sondern als gleich dutzendfach multiplizierte Blondine. Ihre erotische Macht ist allgegenwärtig, erklingt stimmlich auch aus dem Off und dem Zuschauerraum und gelangt mit einer Konsequenz auf die Bühne, die auch Beinahe-Nacktheit nicht scheut. Ihre singende Verkörperung leistet die Sopranistin Emily Magee mit phänomenaler, bei aller Anforderung an stimmliche Kräfte nicht nachlassender Wärme und intensiver Fülle. Hinreissend bewältigt auch Norbert Schmittberg die nicht minder horrende Rolle als Paul. Schmittberg ist kein Strahl- und Schmelz-tenor, sondern ein Sänger des Ausdrucks mit einem breiten Spektrum an charakterisierender Tongestaltung. Und der Überzeugungskraft, die er der Figur des sich in seinem Traum zusehends verlierenden Paul darstellerisch verleiht, bleibt er in den zwar dankbaren, doch kräfteraubend hohen Phrasen seines Parts bis zuletzt ebenbürtig.

Cornelia Kallisch ist eine Haushälterin Brigitta, deren moralische Empörung durchaus ambivalent erscheint, so wie Olaf Bär als väterlicher Freund Frank seine Doppelgesichtigkeit unvermutet in der Funktion des Konkurrenten um Mariettas Gunst auszuspielen hat. Und drastisch übersteigert in hermaphroditisch-grotesken Kostümen wirkt auch Mariettas Schauspielertruppe, in der Heidi Zehnder, Boguslaw Bidzinski und Daniel Chait zusammen mit Volker Vogel als Graf die hervorragende sängerische und darstellerische Gesamtleistung dieses Abends komplettieren.

Bis ins Detail ausgearbeitet ist Bechtolfs Personenführung, und während sich die Musik an der Oberflächen-Raffinesse labt, gibt die Regie - von der psychologischen Symbolkraft des Wassers bis zu den gesichtslosen Brautpaaren, die dem von weiblichem Bindungswillen bedrängten Paul erscheinen - in zahllosen eigenwilligen Interpretationsdetails dem Stoff seine Vielschichtigkeit zurück. Mit und gegen Korngolds Musik: Wo diese narkotisiert, löst die Inszenierung unser Schönstes aus: Denken.



15. 4. 2003

Das krude Leben, die sensible Seele

«Die tote Stadt» ist eine Oper für Enthusiasten. Schon nach dem ersten Bild war der Applaus finalwürdig, und nach einer unerhörten Parforceleistung zweier Hauptdarsteller und des gesamten Ensembles unter der Leitung von Franz Welser-Möst war er so exzessiv wie die Aufführung selber.

Herbert Büttiker

«Glück, das mir verblieb»: So bekannt das schwermütig-zauberhafte Lied ist, das Marietta in einer der ersten Szenen Paul zum Besten gibt und in das er tief ergriffen mit einstimmt, so selten ist die Aufführung der ganzen Oper, die nur schwer zu besetzen ist. Aber es braucht eben dieses Ganze um zu erfahren, wie sich der verzückte Ton dieses Liedes in der breit aufgefächerten «modernen» Tonsprache des grossen Orchesters und eines hochexpressiven Operngesangs auflöst und sich die zuversichtliche Melodie – «Sterben trennt uns nicht» – am Ende mit dem ganzen Schmerz des Verlusts auffüllt. Der «Ohrwurm» ist so der Kristallisationspunkt einer abgründigen Psychodramatik.
Dass diese Musik von einem gerade gut Zwanzigjährigen geschrieben wurde, ist schwer fassbar. Der 1897 als Sohn des Wiener Musikkritikers Julius Korngold geborene Komponist, muss nicht nur ein musikalisches Wunderkind gewesen sein – die Fachwelt, Mahler, Zemlinsky, Strauss, war sich da einig –, sondern auch ein sensitiver Mensch, der die Strömung des Lebens erfasste, wie sie sich ihm in Wien, der Stadt Sigmund Freuds und der Hauptstadt der eben untergegangenen Habsburger Monarchie, darbot. Uraufgeführt wurde die erste grosse Oper des jungen Komponisten allerdings nicht in Wien – eine taktische Entscheidung der Korngolds –, sondern zeitgleich in Köln und in Hamburg, am 4. Dezember 1920.
Die tote Stadt, die Wien sein könnte, ist in der Oper Brügge, das Venedig des Nordens und wie die Lagunenstadt ein Ort des Zerfalls, des dunklen Wassers, der nebligen Unwirklichkeit. Der belgische Symbolist Georges Rodenbach hat mit seinem Roman «Bruges-la-Morte» (1892) die Stoffvorlage der Oper geliefert: die Geschichte des Mannes (in der Oper Paul), der nach dem Tod der geliebten Frau (Marie) das Haus zur «Kirche des Gewesenen» macht und eine ihr ähnlich sehende Frau (Marietta) für die wiedergekehrte Tote hält. Diese aber möchte um ihrer selbst begehrt werden. Ihre herausfordernde Erotik und Pauls Schuldgefühle gegenüber Marie werden so zur explosiven Mischung, und als Marietta ihre Eigenexistenz durchsetzt, indem sie sich an den Reliquien der Toten vergreift, wird sie von Paul umgebracht – im Traum. Das Libretto, das mit dem Changieren zwischen realem Geschehen und Traumhandlung von der Vorlage abweicht, macht den symbolistischen Roman zum freudianischen: «Ein Traum hat mir den Traum zerstört» – so deutet der Protagonist selber den Vorgang als Heilprozess, und die Frage, wie weit Trauer gehen dürfe, beantwortet er damit, dass er der Aufforderung seines Freundes folgt und die tote Stadt verlässt.

Mit analytischer Schärfe
Einen der Fetische, die ihn an Marie binden, packt Paul in der Zürcher Inszenierung allerdings schnell noch ein, bevor er den Raum verlässt: eine der vielen deutlichen szenischen Aperçus, mit denen Sven-Eric Bechtolf die Figuren des Stücks psychologisch durchdringt. Der Regisseur, der in Zürich vor drei Jahren mit demselben Team (Rolf und Marianne Glittenberg für Bühnenbild und Kostüme) «Lulu» – durchaus eine Verwandte Mariettas – schlüssig auf die Bühne gebracht hat, geht mit analytischer Schärfe ans Werk, mit unerwartetem, verstörendem Resultat vielleicht, und ist dann gleichwohl – manchmal freilich weit ab vom äusseren Handlungsrahmen – ein genauer und phantasievoller szenischer Erzähler.
So erinnert nichts auf der Bühne an die belgische Stadt. Freilich ist der Ort von Pauls Traumwirklichkeit ebenfalls vom Wasser beherrscht, aber seine Fixierung auf die reine Beziehung zur verstorbenen Frau macht Brügge zum klinisch kalten Raum eines Hallenbades, in dem sich nun zu seinem Entsetzten Leben auch in den skurrilen Formen sexueller Anomalie einnistet. Das burleske Treiben von Mariettas Tänzergesellschaft auf der Piazzetta im Mondschein, wie es der Text vorsieht, ist so ins Schaurige gewendet, und in der «sentimentalen Tanzliedweise», die der Pierrot alias Fritz als tuntenhafter schwarzer Schmetterling zum Besten gibt, klingt mit dem schönenSchmelz des Baritons (Olaf Bär) sichtbar das ganze Elend eines abwegigen Daseins.
Träume orientieren sich ja nicht am guten Geschmack, und doch bietet die überflutete Bühne bei allem kruden Inventar mit den an den gekachelten Wänden sich spiegelenden Reflexen des bewegten Wassers, mit den kalten Glaswänden, mit dem zwischen Gelb und Blau schimmerenden Licht eine perfekte Ästhetik von magischer Wirkung. Dieses Hallenbild, das im weniger spektakulären Interieur des ersten Bildes zitatweise schon angekündigt ist, ist hier auch der Schauplatz des dritten Bildes: von der Handlung her nicht zwingend, da ja Paul, aus dem Traum erwacht, sich wieder im Raum des ersten Zusammentreffens mit Marietta befindet. Dem seelischen Klima aber entspricht diese Verschiebung sehr wohl: Das Traumerlebnis klingt nach, und ein Steg macht es nun auch möglich, von der Bühne zu gehen, ohne durchs Wasser waten zu müssen. Wohin? Zu neuem Leben?

Glanzleistungen
Die Inszenierung lässt das im Zweifel. Dass der Konflikt des Mannes zwischen der als Heiligen verehrten Verstorbenen und der als Hure beschimpften Lebenden nicht nur das Problem des trauernden Witwers ist, erscheint ohnehin nahe liegend in einer Femme-fatale-Oper im Gefolge des Fin de Siècle, in der noch einmal eine Carmen tanzend, singend den Mann verführt und von ihm getötet wird. Die Inszenierung akzentuiert dessen sexuelle Pathologie bis zur Auflösung der Geschlechtsidentität, wenn er auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Marietta Brautschleier und Haar Maries trägt. Wie der Tenor Norbert Schmittberg die Darstellung dieses physischen und psychischen Zerfallens meistert, ist um so faszinierender, als die Partie musikalisch gleichzeitig die Sammlung aller Kräfte verlangt. Und das macht ihm wohl heute kaum einer so schnell nach: die dramatische Deklamation in hoher Tessitura, die fast pausenlose Bühnenpräsenz im expressiven Geschehen mit Prägnanz und Höhenglanz, dann wieder die Intensität der leisen Töne und dazu die bedrängte Gestalt in ihrem schwachen sich Aufbäumen und der schieren Auflösung.
Wie hat Paul die geliebte Marie verloren? Die Oper sagt darüber nichts, die Inszenierung deutet einen gewaltsamen Tod an. Selbstmord oder Mariettas Schicksal? Wie auch immer: In der dreifachen Rolle als (musikalische) Erscheinung der Toten, der Tänzerin des wirklichen Rendezvous und der Traumbegegnung mit Paul ist Marie/Marietta eine ungemein vielschichtige Figur und als grosse Sopranpartie ebenso herausfordernd als die des Tenors. Grenzüberschreitung, damit scheint Emily Magee mit Fülle und Strahlkraft phänomenal klarzukommen: Die elegischen Töne Maries aus der Ferne, der verführerisch leichte, der stählern aggressive Gesang der Blondine im Leopardenlook, alles auch von schauspielerischer Wendigkeit und Bestimmtheit begleitet, alles ist da, vor allem auch der ekstatische Vollklang, in dem die Partie mit allem Glanz – unter vielen Spitzentönen in grossen Noten der einzige Aufstieg zum hohen C – im «Schrei» der verwundeten Seele («errang mir an mich selbst den Glauben») expressionistisch kulminiert.

Zarte Farben, heftige Hiebe
Neben dem Protagonistenpaar bleibt wenig Raum, aber Olaf Bär als Pauls Freund, Cornelia Kallisch als seine Hausangestellte treten doch mit Profil und Arioso als Hauptfiguren in Erscheinung. Anspruchsvolle Episodenarbeit für eine Hand voll Nebenfiguren kommt hinzu, und präzis erfüllen auch die Chöre des Opernhauses kleinere Aufgaben (hinter der Bühne). Die dritte ganz grosse Partie des Abends ist dem Orchester aufgebürdet. Gleitende Melodik, wechselvolle Rhythmik und die schillernde Farbigkeit der Instrumentation verraten die Schule Zemlinskys, die Freundschaft Puccinis und die prägende Epochenfigur von Richard Strauss. Aus der Spannweite zwischen melodischer Süsse und trockenen Klangeruptionen, zarten Farben und heftigen Hieben spricht aber vor allem Korngolds eigene Souveränität, die eben auch den expressionistischen Ton der Zeit trifft: «Schwarz stürzt der Klang sich in die Nacht», kommentiert Paul im zweiten Bild selber das musikalische Geschehen. Die tiefen Glocken dröhnen, und das Orchester schwingt sich ein in den schweren Klang.
Zumal in den Vorspielen zu den drei Bildern brilliert das Opernorchester in grossartigen symphonischen Tongemälden, aber mit reich differenziertem Instrumentarium – viel Schlagwerk, Klavier, Celesta und beispielsweise auch Mandoline für zusätzliches Kolorit – bestimmt es auch das dramatische Geschehen mit. Franz Welser-Mösts Dirigat lässt beidem, dem Gesang und dem Instrumentalen, viel Atem und Raum und führt beides auch stringent zusammen. Wohl könnte noch einiges an Überdruck zurückgenommen werden, zu dem es an dieser Premiere auch kam, aber sie war auch reich an glücklichen Momenten geballter Dramatik und ausschwingenden Musizierens.



15. 4. 2003

Wenn wir Toten erwachen
Berauschender Erfolg am Opernhaus mit Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt»

Als Filmmusik-Komponist hat sich Korngold in den dreissiger Jahren die höchste Auszeichnung erworben: den begehrten Oscar. Gäbe es einen Oscar für die beste Operninszenierung, man dürfte ihn dieses Jahr mit gutem Gewissen dieser «Toten Stadt» verleihen - nach achtzig Jahren erstmals wieder auf der Bühne des Zürcher Opernhauses.

WERNER PFISTER

Oper als psychiatrische Fallstudie; die Bühne ein gekachelter Anstaltsraum in arztkittelfarbenem Lindengrün, mit Lavabos und Badewanne; die Musik ein psychologisch koloriertes, rauschendes Klangbad der Seele - so viel Seelenarbeit leistet Oper kaum sonst irgendwo. «Die tote Stadt» ist das Werk eines 23-Jährigen, und es atmet die schwüle Luft seines Entstehungsortes: Sigmund Freuds nervenkränkelndes Wien Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart vermengen und bekämpfen sich, moralische Mächte und sexuelle Triebkräfte ebenfalls.

«Klrche des Gewesenen»
Paul, der Protagonist, hält seiner verstorbenen Gattin Marie die Treue weit über ihren Tod hinaus, Das entfremdet ihn dem Leben, dem so triebkräftigen, und genau darauf zielt dieses Verhalten auch: ihm die Keuschheit und moralische Treue zu bewahren, was ihn vor den Auseinandersetzungen mit seiner Psyche, seiner Sexualität, überhaupt dem eigentlichen Leben gleichsam dispensiert. Er lebt ganz für die Toten, betet sie an, ist fixiert auf Reliquien (ihre Haare zum Beispiel, ihre Handtasche) und aufs Ritual - eine «Kirche des Gewesenen», wie er das fatalistisch nennt. Als er unverhofft Marietta begegnet, einer Tänzerin, meint er, seine wieder auferstandene Frau vor sich zu haben: als würden Tote wieder erwachen. Er ist, was Frauen anbelangt, derart pathologisch auf seine tote Gattin fixiert, dass er alles lebendig Weibliche nurmehr aus solch erstarrter Perspektive wahrnehmen kann.

Psychotherapeutische Aufgabe wäre es nun, Paul aus diesem fixierten Frauen- und Weltbild herauszulösen. Sein Freund Frank, offenbar Arzt, versucht das bereits zu Beginn der Oper, indem er ihm eine Injektion verabreicht: Sedativum oder Analeptikum? Im weiteren Verlauf der Oper wird dergleichen dann in einer abgrundtief seelenforschenden Traumsequenz geschehen, die den grössten Teil der Handlung einnimmt.

ErInnerungsräume
Zu Beginn allerdings herrschen noch «reale» Raum- und Daseinsverhältnisse. Ein Schlafzimmer, möbliert im Stil der fünfziger Jahre, was für uns Nachgeborene mittlerweile wohl den Inbegriff der Dekadenz ausmacht. Hölzerne Frisiertoilette, Marietta im Leopardenfell-Mantel, ein raumgreifend platzheischendes Doppelbett - und, um die krankhafte Lebensatmosphäre, die hier herrscht, zu bebildern, im Zimmerzentrum ein ärztlicher Behandlungsstuhl. Erscheint Paul dann die Vision seiner verstorbenen Frau Marie, öffnet sich im Hintergrund ein Erinnerungsraum: gekachelte Innenräume einer geschlossenen Anstalt, eines Spitals.

In dieser festgemauerten, analytisch kühlen Räumlichkeit, mit einer phänomenal suggestiven Symbolkraft entworfen von Bühnenbildner Rolf Glittenberg, spielt sich in den beiden folgenden Akten die Traumsequenz ab. Sven-Eric Bechtolf inszeniert sie als ein wahrlich menschentheatralisches Rollenspiel, welches Paul die Möglichkeit geben soll, sich von seinen-Fixierungen zu lösen.

Gedanken- und Seelenarbeit
Rollen werden getauscht: Marietta tritt als Mann im schwarzen Frack auf, dazu lila Slip und BH; Victorin und Graf Albert, Gauklerfreunde Mariettas, agieren in ausschnitttief geschlitzten Domina-Leder-Dessous und hochhackigen Lackstiefeln. Fritz, der Anführer dieser Gaukler- und Tänzergruppe, trägt schwarze Strümpfe, die ebenso viel den Blicken preisgeben, wie sie vor ihnen verbergen, dazu ein Frauenkorsett mit angehefteten, übergrossen Schmetterlingsflügeln. Rollenspiele mit allen nur erdenklichen Erscheinungsformen psychischer respektive sexueller Identität, die es Paul ermöglichen sollen, aus seiner Fixierung herauszufinden.

Ob es ihm gelingt? Im dritten Akt, gegen Ende, wird er Marietta erwürgen, und wenn er anschliessend zur Toten sagt: «Jetzt gleicht sie ihr ganz - Marie», dann kann das zweierlei besagen. Entweder, dass er mit diesem therapeutischen Traummord sich von seiner Fixierung zu lösen vermocht hat, oder dass er auch Marietta, diese heiss atmend Lebenstolle, nur als tote Frau ertragen (und lieben) kann - wie schon seine Frau Marie... Viel Gedanken- und Seelenarbeit, die Sven-Eric Bechtolf damit dem Publikum zumutet. Aber seine Inszenierung ist allein rein bildlich schon derart stringent und folgerichtig, überwältigend klar in der Personenführung (und deshalb «wahr»), dass sich das Publikum fordern liess wie von einem Krimi, wo man die Spannung irgendwann fast nicht mehr aushält. Sie entlud sich zum Schluss in einem wahren Tumult frenetischer Begeisterung.

Klangreize
Alle haben ihn wahrlich verdient, diesen Applaus: Sven-Eric Bechtolf, Rolf Glittenberg, auch die Kostümbildnerin Marianne Glittenberg. Und Franz Welser-Möst, der musikalische Leiter. Die schwierigste Partitur, die er seit seinem Einstand als Chefdirigt am Opernhaus dirigiert habe, sagt er. Wie leicht klang sie unter seinen Händen, farbsprühend und schillernd, überspülte und unterspülte Seelenlagen und Triebkräfte, offenbarte ihren verschwenderischen Reichtum an Inspiration und Ideengut, an satztechnischer Virtuosität und fantasievollster Klangreize, was das Vergessen oder Verdrängen dieser fast nirgends mehr gespielten Oper erst recht unbegreiflich macht. Wer immer noch meint, Korngold nur als zweitrangigen Filmmusik-Komponist abklassifizieren zu müssen (wobei er einer der besten war), würde gerade in dieser Oper, in Franz Welser-Mösts kongenialer Interpretation, Mühe haben, musikalisches Zelluloid zu entdecken.

Den Applaus verdient haben aber auch alle Sänger, restlos alle. Norbert Schmittberg ist in der mörderischen Partie des Paul eine eigentliche Entdeckung - mit metallischem Tenor, der mühelos durch die Orchesterfluten durchzudringen vermag, mit Satter Mittellage, einer vorbildlichen Diktion und einer schauspielerischen Intensität, die ihresgleichen sucht. Seine Leistung hier dürfte für den weiteren künstlerischen Werdegang einen Durchbruch bedeuten. Emily Magee ist die Inkarnation der Doppelrolle Marietta/Marie: mit jugendlich dramatischer Strahlkraft in ihrer golden leuchtender Sopranstimme wie eine ägyptische Helena von Richard Strauss, dazu in Spiel und Haltung ganz die heitere, lebenslustige Unbefangenheit, naiv und eitel, aufbegehrend und leidenschaftlich. Ihr beider grosses Duett im zweiten Akt schwang sich raumgreifend und phonstark zu «Tristan»-Wonnen auf - herrlich.

Hingehen
Grandios, virtuos und einprägsam auch die weiteren Rollengestaltungen: Olaf Bär in der Doppelpartie Frank/Fritz, mit balsamischen Bariton-Wonnen in der grossen Szene «Mein Sehnen, mein Wähnen», sowie Cornelia Kallisch als Haushälterin Brigitta, derart streng auf Haltung bedacht, dass einen Angst vor so viel distance und noblesse packen könnte. Auch die Mitglieder der Gauklertruppe - Elizabeth Rae Magnuson (Juliette), Heidi Zehnder (Lucienne), Boguslaw Bidzinski (Victorin),Volker Vogel (Graf Albert) und Daniel Chait (Gaston) - boten fesselnde, in jedem Zoll spannende Zurschaustellungen.

Hingehen, hinsehen, hinhören - ein Opernabend, der psychologisch Unterschwelliges respektive sexuell Subkutanes an die sicht- und erlebbare Oberfläche zu bringen vermag, wo es dann auf der Haut brennt.



15. 4. 2003

Tod und Leben ganz nah beisammen
Im Opernhaus Zürich feierte Korngolds «Die tote Stadt» eine gelungene Premiere

Es ist ein anspruchsvolles und mörderisch langes Werk, Korngolds Psychodrama «Die tote Stadt». Die Tenorpartie des Helden Paul setzt den Ansprüchen einer Wagnerpartie noch eins oben-drauf. Und auch die Sopranpartie der dem Trauernden endlich wieder Leben einhauchenden Marietta braucht enorm viel Kraft und Schmelz.
Dem Zürcher Team mit Franz Welser-Möst am Pult und dem Schauspielregisseur Sven-Eric Bechtolf ist, zusammen mit den grandiosen Protagonisten Norbert Schmittberg und Emily Magee, eine herausragende Umsetzung gelungen.

Erfolgreiches Comeback
Erich Wolfgang Korngold war ein Wiener Wunderkind. Wegen des Nationalsozialismus nach Amerika ausgewandert, sorgte er in Hollywood für gehaltvolle Filmmusik. Diese Tendenz Korngolds zum stimmungshaft Plastischen, aber auch seine Liebe zur Operette, ist in seiner grossen Oper «Die tote Stadt» ohrenfällig. Dies mag auch mit ein Grund dafür sein, dass Korngolds Musik zurzeit eine erfolgreiche Renaissance erlebt. Zemlinsky, Mahler und Wagners Leitmotivtechnik klingen hier an - und doch ist der Stil unverkennbar eigen.
«Die tote Stadt» ist Sinnbild für die Seele des trauernden Paul, der die tote Stadt nicht verlässt, um möglichst nahe bei seiner verstorbenen Frau Maria bleiben zu können. Die Trauer ist übermächtig und isoliert ihn. Da taucht die Tänzerin Marietta auf, fordert ihn erotisch heraus und mokiert sich über seine Vergangenheit. Anhand von Träumen gelingt es Paul schliesslich, sich vom Bild der Toten zu lösen und die Stadt zu verlassen, um ein neues Leben zu beginnen.

Musikalisches Seelendrama
Für dieses Seelendrama à la Sigmund Freud hat der Komponist ein riesig besetztes Orchester gewählt, das mit vierfachem Blech an Mahlers «Sinfonie der Tausend» anknüpft. Dieses wird aber nicht einfach dramatisch ausgepowert, sondern steht im Dienste von Stimmungen, Schilderungen und psychologisch-dramatischer Charakteristik. Das Orchester ist farbig, schillernd auch in den ständig wechselnden Polyrhythmen. Franz Welser-Möst und dem Opernorchester ist es an der Premiere vom Sonntag gelungen, diese Massen in Schach zu halten, die Schwebe des Klangs auszubalancieren und trotzdem die innere Spannkraft zu halten. So wurde daraus nie eine dicke Sauce, und die geforderten Stimmen waren, auch wenn sie eintauchten, mit flexiblen Ausdrucksnuancen präsent.

Innenräume an Stelle der Stadt
Die Seele so konkret als Ort des Geschehens darzustellen, ist natürlich eine Herausforderung an die Phantasie eines Regisseurs. Entsprechend gross ist die Gefahr des Kitsches, des Übertreibens seelischer Sinnbilder. Sven-Eric Bechtolf, der grosse Exzentriker unter den Schauspielern, hat diese Herausforderung brillant gelöst. Sein Schauplatz ist nicht die tote Stadt, sondern sind Innenräume: der ehemalige Schlafraum der toten Maria und das Badezimmer, in welchem die Tote gefunden wurde (Bühnenbild: Rolf Glittenberg). Erstmals taucht diese Vision der Toten anhand eines grossen Videobildes im Schlafzimmer auf. Die Leiche wird in durchsichtiges Plastik eingehüllt und damit verhüllt gezeigt; das eingetrocknete Blut unter den Handgelenken lässt einen Selbstmord erahnen. Voyeuristisch ist das aber nicht.

Musik hat Sprengkraft
Ausgesprochen intensiv und erotisch übersteigert ist die Szene, in welcher die beiden Frauen gleichzeitig präsent sind: hinten im Baderaum die tote Maria, und im Schlafzimmer die von einer Tänzerin mit nacktem Busen dargestellte Marietta. Paul selbst liegt hinten am Boden, klammert sich an die Badewanne und an seine tote Frau. Die Musik dazu ist zum Sprengen geladen; die Gleichzeitigkeit von Tod und Leben ist einer der Höhepunkte des Abends. Auch wenn diese starken und klaren Bilder einen die Musik mehrmals fast vergessen lassen - sie kommt immer wieder kraftvoll zurück.

Leder statt Pierrotkostüme
Zudem führt Bechtolf die wenigen Figuren mit schauspielerischem Raffinement. Das ist alles andere als Rampensingen und Operngestik. Gleichzeitig wird sein Hang zur Exzentrik aber durch das Singen moderiert - das Natürliche der Sänger paart sich mit dem surreal und androgyn Überzeichneten der Gauklertruppe (Kostüme: Marianne Glittenberg). Diese tritt im zweiten Bild mit knalligen Leder-Erotikgewändern auf: Fellini lässt grüssen. Der mit weissen Kacheln ausgekleidete Baderaum ist jetzt, im Traum, übergross; an der Wand spiegelt sich das Wasser als phantastisches Lichtspiel.

Schauspielerische Glanzleistung
Und immer stellt sich die Frage: Kann Bechtolf das den ganzen Abend lang durchhalten? Und wie er das kann. Das Schlussbild mit dem verzweifelt sich an seinem Marienkult festkrallenden Paul und der daneben spöttisch ihre Sinnlichkeit darbietenden Marietta ist umwerfend.
Während er Grablämpchen anzündet und überall Marienbilder aufstellt, um zu beten, lackiert sie sich rote Fussnägel, zündet sich am Lämpchen eine Zigarette an und versucht, ihn zu verführen. Eine schaupielerische Leistung sondergleichen. Auch der Moment, in dem Paul Marietta im Traum erwürgt und sich damit befreit, wird nicht ausgeschlachtet - das findet hinter der schwarzen Bettdecke statt.
Es bleibt das Lob auf die Sängerinnen und Sänger. Norbert Schmittberg ist zurzeit wohl der einzige Tenor, der diese Monsterpartie durchstehen kann. Er hat den Paul denn auch schon an mehreren Häusern gesungen. Für ihn gibt es kaum einen Moment, in dem er nicht präsent wäre. Alles dreht sich um ihn; und er muss in weiten Phrasen und in der hohen Lage von üppigem Orchesterklang umgarnt singen. Schmittberg hat das nicht nur mit betörender Strahlkraft und unerhörter Intonationssicherheit gemeistert, er weiss auch schauspielerisch echt zu leiden.
Daneben Emily Magee als Marietta, mit grossem Atem, kraftvollem Organ und sinnlichem Schmelz in der Stimme. Zu dieser erotisch-seelischen Dramatik setzte Olaf Bär, der grosse Liedgestalter, als Frank einen lyrisch weichen, beruhigenden Akzent. Und die an einer Bronchitis erkrankte Cornelia Kallisch verkörpert die nonnenstrenge Brigitta und damit die Moral mit eindrücklicher Bühnenpräsenz und dunkler, stimmlicher Erotik.  
Sibylle Ehrismann

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15. 4. 2003

Ein beispielloser Rausch der Sinnlichkeit

Seit 1922 wurde Erich Korngolds Oper «Die Tote Stadt» nicht mehr auf Schweizer Bühnen gespielt. Wer erleben will, was Musiktheater heute kann, muss sich diese sensationelle Zürcher Produktion ansehen.

REINMAR WAGNER

Was für ein Stück, was für eine Inszenierung! Das Zürcher Opernhaus knüpft mit Erich Korngolds «Die Tote Stadt» an die Sternstunden der letzten Jahre an - vor allem «Tannhäuser» und «Lulu», die zum Teil demselben Team zu verdanken waren: Franz Welser-Möst als Nicht-mehr-Chefdirigent, aber mit diesem Orchester noch immer hörbar ein Klangfarbenzauberer von allerhöchsten Fähigkeiten, und Sven-Eric Bechtolf mit der Ausstattung von Rolf und Marianne Glittenberg, die zusammen in Zürich schon «Lulu» und «Otello» zu Opern-ereignissen von europäischen Dimensionen gemacht hatten.

Die Geschichte, die auf ein Drama des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach zurückgeht, ist so skurril wie operntauglich. Sie passt gleichermassen in das künstlerisch bewegte und gesellschaftlich durchgerüttelte Wien der 20er-Jahre, wo Korngold und sein schreibender Vater sie ansiedelten, wie sie heute in unserer individualisierten und psychologisierten Gesellschaft geschehen könnte: Ein Witwer errichtet seiner verstorbenen Frau ein Mausoleum voller Reliquien, er trifft eine Tänzerin, die ihr gleicht, verliebt sich und kommt aus dem Konflikt zwischen Treue und Begehren, toter und lebendiger Liebe nur heraus, indem er sie schliesslich umbringt. Allerdings ist alles nur geträumt, und da ist Bechtolf in seinem Element: Er schuf für Zürich ein Panoptikum des Fantastischen, Abgründigen, Hintersinnigen, Erotischen, eine Orgie des Sehens, ein Rausch von Sinnlichkeit, der kaum ein Beispiel auf den Opernbühnen kennt.
Schon in «Lulu» und «Otello» hat der Schauspieler Bechtolf seine Opernsänger sehr präzis geführt. Auch hier sind seine Bilder bei aller Fantastik genau ausgearbeitet, die Gesten und Bewegungen korrespondieren in erstaunlichem Mass mit der Musik. Im hervorragenden Zürcher Ensemble gab es niemanden, der nicht bis an seine Grenzen gefordert worden wäre, und alle überzeugten denn auch wie selten Sänger auf Opernbühnen, und das alles, während stimmlich allerhöchste Anforderungen anstanden. Da kommen die Stimmen selbstverständlich an ihre natürlichen Grenzen. Emily Magee und Norbert Schmittberg in den Hauptrollen versuchten gar nicht, dies zu kaschieren. Sie sangen, ohne zu forcieren und ohne sich zu gefährden, aber auch ohne sich zu schonen. Magee floh manchmal in leichtere Stimmgefilde, was zur koketten Figur der Marietta passt, Schmittberg hingegen schonte sich nie: Immer wieder von neuem liess er in den pausenlos angesetzten Spannungsbögen seine stark fokussierte Stimme aufglühen und hielt die Dramatik und Intensität seiner langen Töne ohne Mühe strahlkräftig aufrecht.
Aber auch Olaf Bär bewies sängerisches Format und hatte als schwarzglänzender Schmetterling im unvergleichlich schönen Lied der Gaukler den schönsten Auftritt des Abends, auch dank Welser-Möst, der hier wieder einmal im unnachahmlichen Wiener Idiom schwelgen konnte. Cornelia Kallisch sang trotz Erkältung tadellos, und das gilt für alle Beteiligten bis hin zu den Choristen, die Bechtolf mit seinen Anforderungen auch in kleinen Auftritten vor grosse Herausforderungen stellte. Sie alle hatten in Franz Welser-Möst auch einen ungewöhnlich engagierten und kundigen Führer und Begleiter in dieser horrend schwierigen Partitur. Die Fähigkeit des Dirigenten, trotz grosser Besetzungen immer wieder aus dem Piano heraus zu musizieren, sorgte nicht nur für Spannung, sondern entlastete auch phasenweise die Stimmbänder, allerdings nicht für lange, der nächste Ausbruch kam bestimmt, und da liess Welser-Möst denn auch das Orchester in den kräftigsten Farben aufblühen.
Korngolds «Tote Stadt», das wurde hier deutlich, ist Musik von einer Intensität und Dramatik, die keinen Vergleich zu scheuen braucht, die in der Meisterschaft und Souveränität ihrer Instrumentierung mit Richard Strauss konkurrieren kann, die nicht weniger als Gustav Mahler mit traumverlorenen Nostalgie-Rückblicken verzaubert, ohne je Gefahr zu laufen, kitschig oder schwülstig zu werden, die mit Debussys Meisterschaft atmosphärischen Schilderungen mithalten kann und die nicht zuletzt immer wieder mit energischen Impulsen, viel Schlagwerk und eruptiven Ausbrüchen die Handlung vorantreibt und die Stimmung rasant kippen lässt. Die Seligkeit goldener Erinnerungen steht nur einen Schritt neben dem Abgrund des Albtraumhaften.

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15. 4. 2003

Psychiatriefall mit Klangrausch

Die Neuinszenierung von Korngolds selten gespielter Oper «Die tote Stadt» macht die morbide Geschichte auf psychologische Abgründe durchsichtig.

VON FRITZ SCHAUB

Es ist eine abstruse Geschichte, die da der junge Erich Wolfgang Korngold Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts nach einem Libretto von Paul Schott (Pseudonym für Julius Korngold, den Vater des Komponisten) vertont hat. Da lebt ein Witwer, Paul, behütet von einer Haushälterin, jahrelang in einer Wohnung voller Reliquien aller Art. Es sind Erinnerungen an Pauls verstorbene Gattin Marie, die er wie eine Heilige verehrt. Da begegnet er eines Tages einer Frau, die er als die verstorbene Gattin wiederzuerkennen glaubt. Doch es ist nicht Marie, sondern Marietta, eine flatterhafte vulgäre Tänzerin.

Ekstatische Liebesduette
Dass in dieser Geschichte sehr viel Zündstoff verborgen ist, erkannte schon Puccini, der den Stoff vertonen wollte, aber davon absah. So war es Korngold, der die heissblütigen Möglichkeiten der Dreieckskonstellation nutzte - im zweiten Akt zu einem ekstatischen Liebesduett, im dritten, immer sinfonisch breit untermauert, zu einer hochdramatischen Auseinandersetzung, an deren Ende Paul Marietta ermordet. Er stösst sie nämlich wieder zurück, nachdem er erkannt hat, dass er Marie untreu geworden ist, indem er Marietta sinnlich liebte. Diese aber lässt sich dies nicht gefallen, begreift, dass Paul nicht sie, sondern die tote Frau liebt, möchte ganz Maries Stelle einnehmen und von Paul ganz geliebt werden - ein unauflöslicher Knoten, der nur durch den tödlichen Ausgang seine Lösung findet. Aber Verführung und Mord finden nur im Traum statt: Dass im Traum verdrängte Triebe auftauchen, im Unterbewusstsein unbewältigte Vergangenheit sich regt, wusste man damals, als Sigmund Freuds «Traumdeutung» erschienen ist.

Zwischen Realität und Traum
Hier setzt der Regisseur Sven-Eric Bechtolf an. Er löste mit dem Bühnenbild von Rolf Glittenberg und den Kostümen von Marianne Glittenberg das Geschehen aus dem Umfeld der Entstehungszeit, dem Wiener Fin-de-siècle, rückte es in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Ein hermetisch abgeschlossener weisser Raum, in dem sich eine Art Zahnarztstuhl und eine mit einer Plastikhülle verdeckte Liegestatt nebst diversen Andenken an Marie wie das in einer Vitrine aufbewahrte blonde Haar befinden, beherrscht den ersten Akt. Im zweiten und dritten Akt nimmt er für die Traumsequenzen riesige Dimensionen an. Eine Grossleinwand vergegenwärtigt schon im ersten Akt die tote Marie. Sie liegt in einer Badewanne, und von ihrem Arm verläuft eine Blutspur über die Aussenwand der Wanne. Hat sie Selbstmord begangen beziehungsweise wurde sie in ihn getrieben? Von wem, etwa gar von ihrem Ehemann?

Das bleibt im Dunkeln, wie auch der Schluss offen bleibt: Paul wird von seinem Freund Frank aus der toten Stadt und von der toten Frau weggeführt - angeblich ins Leben. Aber im letzten Moment ergreift er ein Kleidungsstück der Toten. Rechts vorne stellt sich Brigitta (Cornelia Kallisch, trotz gemeldeter Bronchitis rollendeckend); die Haushälterin, in, wartender Haltung auf. Wird Paul doch wieder zurückkehren in die Totengruft?

Höllisch schwierige Rollen
Eindrücklich, wie präzis der Regisseur die Sänger führt. Norbert Schmittberg zeichnet das Bild eines zerrissenen Menschen mit Hang zu Aggressionen. So wie er gleich zu Beginn mit einem Messer hereinstürmt oder wenn er - immer in der realen Welt - Marietta Maries Schal um den Hals legt und für einen Moment den Eindruck erweckt, als wolle er sie erwürgen, traut man ihm alles zu. Stimmlich bringt Schmittberg als Einziger Erfahrungen mit der Rolle mit, deren exorbitante Schwierigkeiten er imponierend meistert. Dass er ganz am Ende seiner Parforceleistung noch den melodiösen «Hauptschlager» des Werks, «Glück, das mir verblieb» mit vollem Wohllaut zu intonieren vermag, ist schon beeindruckend. Aber auch Emily Magee, aufgemacht wie eine Hollywood-Diva, steht den Balanceakt zwischen dem «Lied der Marietta» und den fast pausenlos geforderten hochdramatischen Ausbrüchen fabelhaft durch. Olaf Bär singt sowohl Frank als auch Fritz alias Pierrot hochkultiviert und textverständlich. Und das Orchester verströmt unter der Leitung von Franz Welser-Möst einen Klangrausch, der die Emphase dieser Tonsprache voll zum Tragen bringt und doch immer bildhaft gegliedert und gefasst bleibt.



15. 4. 2003

Von Liebe, Rausch und Raserei
Das Opernhaus Zürich setzt sich erfolgreich für Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt» ein

• MARTIN ETTER

Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) war kaum dreiundzwanzig Jahre alt, als seine Oper «Die tote Stadt» mit sensationellem Erfolg uraufgeführt wurde. Die kometenhafte Karriere des genial Begabten wurde aber wenig später durch den Naziterror unterbrochen: Korngold musste nach Amerika emigrieren und starb dort als hochgeachteter Filmmusikkomponist.
Die «Tote Stadt», basierend auf dem Roman «Brugues-la-Morte» von Georges Rodenbach und einem Libretto von Korngolds Vater, dem Starkritiker Julius Korngold, führt in die Dekadenz der vorletzten Jahrhundertwende und beschreibt das Schicksal des krankhaft um seine verstorbene Frau Marie trauernden Paul, der auf die leichtfertige, Marie ähnelnde Marietta trifft, dieser dann verfällt und nun nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden vermag. Dieses sinnverwirrende Psychogramm hat Korngold junior mit Musik ausgestattet, die dank unüberhörbaren Anklängen an Mahler, Strauss, Zemlinsky, Puccini, Giordano und sogar Lehár von Rausch zu Raserei und von Raserei wiederum zu Rauschzuständen führt, auf keine Exaltation verzichtet und mit unaufhörlicher sensualistischer Klangüppigkeit aufwartet. Ähnlich spätromantisch leidenschaftlich haben nur Strauss und Zemlinsky komponiert: Wer dem Jugendstil verfallen ist, wird bei Korngold also voll auf seine Rechnung kommen.

Szenisch äusserst fragwürdig
Die beifallumtoste Zürcher Wiedergabe krankt leider an den extrem hässlichen Bühnenbildern und Kostümen von Rolf und Marianne Glittenberg vor allem die Akte zwei und drei besitzen mit ihrer modischen Nobelpissoir-Kachelung nicht die geringste werkentsprechende Atmosphäre. Und der Regisseur Sven-Eric Bechtolf verzichtet konsequent auf jeden Bezug zum Text:Dass das Werk «Die tote Stadt» heisst, wird in seiner synthetisch-kühlen, auf jede historische Anlehnung verzichtenden und nur auf ablenkende Mätzchen erpichten Inszenierung überhaupt nie deutlich.

Musikalisch hochkarätig
So ist man dem Zürcher Chefdirigenten Franz Welser-Möst und seinem blendend disponierten Orchester dankbar, dass zumindest Korngolds lange Jahrzehnte in Vergessenheit geratener Partitur mit einer leuchtkräftigen, inspirierten und rauschhaft aufklingenden Deutung volle Gerechtigkeit widerfährt. Das Instrumentalensemble und auch der von Ernst Raffelsberger instruierte Chor belegen dabei nachdrücklich das international anerkannte Niveau der Zürcher Oper.

Besetzungsfreud und -leid
Die überaus anspruchsvollen Hauptpartien werden insgesamt auf respektable Weise interpretiert. Starke Eindrücke gehen von Cornelia Kallisch (trotz Indisposition eine expressive Haushälterin Brigitta), von Olaf Bär (vokal und darstellerisch in der Doppelrolle Frank und Fritz sehr souverän) und von Volker Vogel (originell als Graf Albert) aus. Für die ebenfalls als Doppelrolle angelegten Figuren der Marie und der Marietta bringt Emily Magee die glaubhafte Ausstrahlung und stimmliches Durchhaltevermögen mit Forcierungen in den Spitzenregionen des an und für sich schönen Soprans und hohe Textunverständlichkeit belasten aber ihre Leistung.

Einen legitimen Triumph ersingt und erspielt sich dagegen Norbert Schmittberg als Paul mit einem verzehrend intensiven, erschütternd glaubhaften und mit geradezu phänomenaler Selbstaufgabe durchgehaltenen Rollenporträt. Da stellt sich ein Künstler vor, der seine Mittelpunktsfunktion tadellos ausfüllt und sich gesanglich und schauspielerisch unwiderstehlich für ausserordentliche und ausserordentlich schwierige Aufgaben empfiehlt.

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15. 4. 2003

«Die tote Stadt»

Premierenerfolg in Zürich: Das Opernhaus bringt «Die tote Stadt» des vor allem als Filmmusik-Komponist bekannten Erich Wolfgang Korngold auf die Bühne. Solisten, Orchester und Regieteam wurden bejubelt. Franz Welser-Möst scheut die Extreme nicht, lässt einmal sehr laut spielen, dann wieder schwelgerisch romantisch, arbeitet einzelne Instrumente deutlich heraus, und verblüfft mit präzisen Rhythmuswechseln. Mit dem deutschen Tenor Norbert Schmittberg und der US-Sopranistin Emily Magee sind die Hauptrollen ideal besetzt. Regisseur Sven-Eric Bechtolf erweist sich als sensibler Personenführer, mutet dem Publikum aber auch viel zu. Wegen der skurrilen Theatertruppe aus Monstern, Verkrüppelten und viel nackter Haut gingen einige Premierenbesucher vorzeitig nach Hause. (sda)

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15. 4. 2003

Orgie des Sehens, Rausch der Sinnlichkeit

Das Opernhaus in Zürich inszeniert Erich Korngolds Oper «Die tote Stadt»

Seit 1922 wurde Erich Korngolds Oper «Die tote Stadt» nicht mehr auf Schweizer Bühnen gespielt. Wer erleben will, was Musiktheater heute bewegen, bewirken und bedeuten kann, der muss sich diese Zürcher Produktion ansehen und anhören.

VON REINMAR WAGNER

Was für ein Stück! Und was für eine Inszenierung! Das Zürcher Opernhaus knüpft mit dieser Produktion an seine ganz grossen Sternstunden der letzten Jahre an - «Tannhäuser» und «Lulu» im Besonderen, die beide mindestens zum Teil demselben Team zu verdanken waren: Franz Welser-Möst als Nicht-mehr-Chefdirigent, aber mit diesem Orchester noch immer hörbar ein Klangfarbenzauberer von allerhöchsten Fähigkeiten, und Sven-Eric Bechtolf mit der Ausstattung von Rolf und Marianne Glittenberg, die zusammen in Zürich schon «Lulu» und «Otello» zu Opernereignissen von europäischen Dimensionen gemacht hatten.

Konflikt zwischen toter und lebendiger Liebe
Die Geschichte, die auf ein Drama des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach zurückgeht, ist so skurril wie operntauglich, und sie passt gleichermassen in das künstlerisch bewegte und gesellschaftlich durchgerüttelte Wien der Zwanzigerjahre, wo Korngold und sein schreibender Vater sie ansiedelten, wie sie heute in unserer individualisierten und psychologisierten Gesellschaft geschehen könnte: Ein Witwer errichtet seiner verstorbenen Frau ein Mausoleum voller Reliquien, er trifft eine Tänzerin, die ihr gleicht, verliebt sich deswegen in sie und kommt aus dem Konflikt zwischen Treue und Begehren, zwischen toter und lebendiger Liebe nur heraus, indem er sie schliesslich umbringt.

Allerdings ist alles nur geträumt - und da war Bechtolf in seinem Element: Er schuf für Zürich ein Panoptikum des Fantastischen, Abgründigen, Hintersinnigen, Erotischen, eine Orgie des Sehens, ein Augenschmaus, ein Rausch von Sinnlichkeit, der kaum ein Beispiel auf den Opernbühnen kennt.

Allerhöchste Anforderungen
Schon in «Lulu und «Otello» hat der Schauspieler Bechtolf seine Opernsänger sehr präzis geführt. Auch hier wieder sind seine Bilder bei aller Fantastik sehr genau ausgear-beitet, die Gesten und Bewegungen sit-zen und korrespondieren oft in erstaunlichem Mass mit der Musik. Im hervorragenden Zürcher Ensemble gab es niemanden, der nicht bis an seine Grenzen darsteIlerisch gefordert worden wäre, und alle überzeugten denn auch wie seIten Sänger auf Opernbühnen, und das alles, während stimmlich allerhöchste Anforderungen anstanden.

Da kommen die Stimmen selbstverständlich an ihre natürlichen Grenzen, und Emily Magee und Norbert Schmittberg in den Hauptrollen versuchten schon gar nicht, diese Tatsache zu kaschieren. Sie sangen ohne zu forcieren und ohne sich zu gefährden, aber auch ohne sich zu schonen. Magee floh manchmal in leichtere Stimmgefilde, was zur koketten Figur der Marietta passt, Schmittberg hingegen schonte sich nie: Immer wieder von neuem liess er in den pausenlos angesetzten Spannungsbögen seine stark fokussierte Stimme aufglühen und hielt die Dramatik und Intensität seiner langen Töne ohne Mühe strahlkräftig aufrecht.

Engagierter Dirigent
Auch Olaf Bär bewies sängerisches Format und hatte als schwarzglänzender Schmetterling im unvergleichlich schönen Lied der Gaukler den schönsten Auftritt des Abends, auch dank Welser-Möst, der hier wieder einmal im unnachahmlichen Wiener Idiom schwelgen konnte. Cornelia Kallisch sang trotz Erkältung tadellos, und das gilt für alle Beteiligten bis zu den Choristen, die Bechtolf mit seinen Anforderungen auch in kleinen Auftritten vor grosse Herausforderungen stellte.

Sie alle hatten in Franz Welser-Möst auch einen ungewöhnlich engagierten und kundigen Führer und Begleiter in dieser für alle Beteiligten horrend schwierigen und komplexen Partitur. Die Fähigkeit des Dirigenten, trotz grosser Besetzungen immer wieder aus dem Piano heraus zu musizieren, sorgte nicht nur für Spannung, sondern entlastete auch phasenweise die Stimmbänder, allerdings nicht für lange, der nächste Ausbruch kam bestimmt, und da liess Welser-Möst denn auch das Orchester in den kräftigsten Farben aufblühen, Wellen, die auch schonungslos über die Sänger hinwegschwappten.

Weder kitschig noch schwülstig
Korngolds «Tote Stadt» ist Musik von einer Intensität und Dramatik, die keinen Vergleich zu scheuen braucht, die in der Meisterschaft und Souveränität ihrer Instrumentierung mit Richard Strauss konkurrieren kann, die nicht weniger als Gustav Mahler mit Nostalgie-Rückblicken verzaubert, ohne je Gefahr zu laufen, kitschig oder schwülstig zu werden, die mit Debussys Meisterschaft atmosphärischer Schilderungen mithalten kann, und die nicht zuletzt immer wieder mit energischen Impulsen, viel Schlagwerk und eruptiven Ausbrüchen die Handlung vorantreibt und die Stimmung rasant kippen lässt. Die Seligkeit goldener Erinnerungen steht nur einen Schritt neben dem Abgrund des Alptraumhaften.

In Deutschland wurde Korngolds «Tote Stadt» in letzter Zeit wieder verschiedentlich auf die Bühne gebracht, für die Schweizer Opernszene ist diese fulminante Zürcher Produktion die Entdeckung der Saison. Auf denn nach Zürich, und auf denn, ihr Opernhäuser, in nah und fern! Vom frühreifen Wiener Wunderkind Erich Korngold gibt es noch eine ganze Reihe weitere Opern dem Vergessen zu entreissen.



15. 4. 2003

Die Treue zu einer über alles geliebten Toten
Oper, spannend und gewagt: Sven-Eric Bechtolf inszeniert und Franz Welser-Möst dirigiert "Die tote Stadt" von Erich Wolfgang Korngold in Zürich

Puccini soll aus dem Häuschen gewesen sein, als Erich Wolfgang Korngold ihm seine dritte Oper auf dem Klavier vorführte. 23 war der mehr als ein Jahrzehnt zuvor zum komponierenden Wunderkind ausgerufene junge Mann, als "Die tote Stadt" 1920 an ein und demselben Abend zwei Uraufführungen erlebte, in Hamburg und in Köln. Den Welterfolg leitete die Wiener Premiere kurz darauf ein. Noch heute lässt der Hit der Duettszene "Glück, das mir verblieb" die Melomanen wonniglich erschauern. Diese Sehnsuchtskantilene, dieses sich mehr und mehr in die Höhe schraubende Ohrwurm-Sentiment wäre auch des darob begeisterten Puccini würdig gewesen. Was aus dem Wiener Wunderknaben wurde, ist bekannt: Mit dem Aufkommen der Neuen Sachlichkeit ging's wie bei Schreker, bei Zemlinsky bergab. Das Verdikt der braunen Barbaren besorgte den Rest, und nach dem Krieg konnte das strikte Fortschrittsdenken nichts mit einem anfangen, der schon anno 20 den Hollywood-Komponisten ahnen ließ, der in der Tat für zwei Oscars gut sein sollte.

All diese Assoziationen lässt Franz Welser-Möst an der Spitze des exzellenten Zürcher Opernorchesters aufscheinen. Lange ist es, als sei der Dirigent, den Zürich seit dieser Saison mit dem Cleveland Orchestra teilt, auf eine gebändigte, eine Kammerversion des in Mahler'schen Ausmaßen röhrenden und zuckenden Klangbilds aus, auf ein genüssliches Ausbreiten des exquisiten Partitur-Raffinements. Aber mehr und mehr arbeitet sich diese Interpretation zu einer ungeheuren Dringlichkeit vor. Sie bewahrt sich vorm Keuchen, aber sie atmet schwer, und sie ist sehr intensiv.

Manisches Andenken an eine reliquienhaft vergötterte Frau

Großdimensioniert das alles - und großdimensioniert auch die zentralen Stimmanforderungen, nimmt man die Doppelrolle aus, die Olaf Bär mit seinem beeindruckenden baritonalen Format ausfüllt: Frank, der Freund (und - laut Inszenierung - Arzt) des Helden Paul, und Fritz, der Pierrot, mit dem zweiten Schlager "Mein Sehnen, mein Wähnen" aus der Theatertruppe der Primadonna Marietta. Derem unausgesetztem Hinauf-in-die-Höhe trotzt Emily Magee mit anscheinend unversiegbarem Sopranstrahl auf geradezu atemraubende Weise. Norbert Schmittberg ist auf die abnorm höhengepfefferte Partie des Paul - unter anderem seit Karlsruhe und Straßburg - beinahe schon abonniert: ein gerader deutscher Heldentenor, der zwischen eminentem Gelingen und bedenklicher Angegriffenheit eben die Kurve kriegt.

Um diesen Paul geht es - um sein fast manisches Andenken an seine reliquienhaft vergötterte tote Frau Marie und die erotische Verfallenheit an die ihr aufs Goldhaar gleichende, allerdings vulgäre tanzende Wiedergängerin Marietta. Des Komponisten berühmter Kritikervater Julius Korngold (Pseudonym: Paul Schott) fand den Stoff in der Dramatisierung des Romans "Bruges-la-Morte" (Das tote Brügge) des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach. Präzis: Es geht um das Recht des Lebens wider die selbstdiktierte Treue zur über alles geliebten Toten. Oder, wie Frank es in dem außerordentlich blumig geschraubten Text ausdrückt: "Dein Blut murrt gegen diese Trauer."

Brügge und seine Morbidität spielen indes für das Zürcher Inszenierungsteam (Regie: Sven-Eic Bechtolf; Bühne und Kostüme: Rolf und Marianne Glittenberg) kaum eine Rolle. Denn: Mit der Ansicht, dass Korngolds Brügge im Wien des Sigmund Freud liegt, macht diese Deutung ernst. Und das wiederum, weil im Unterschied zur Romanvorlage die Traumsequenz den weitaus größten Teil der zur psychologischen Studie anwachsenden Handlung ausmacht. Pauls Mord an Marietta - er erdrosselt sie mit dem in einer gläsernen Reliquiensäule aufbewahrten Haar seiner Frau! - geschieht im Traum.

Dem Wiener Burgmimen Bechtolf gelang nach "Lulu" und "Otello" in Zürich abermals eine überaus spannende und auch gewagte Opernvergegenwärtigung. Paul ist ein strubbelig-abgerissener Morgenmanteltyp. Wie sich Marietta auf dem - anfangs mit einem Plastikschutz "versiegelten" - Bett breit macht und nachher ihr Double sich in Rotlicht-reifem Tanz übt, das ist durchaus plakativ ausgestellt. Der Toten Baderaum weitet sich in der Traumhandlung mit den "Ariadne"-nahen Szenen von Mariettas Komödiantenkollegen zum Mittelding aus Badeanstalt und Großaquarium. Die Theatertruppe: ein groteskes Gauklerensemble, Transvestiten mit einem Stich ins Irre - ein Mummenschanz mit Liliputaner, Riese, Schwergewichtlerin und einem (Damen-)Pierrot mit Rieseninsektenflügeln.

Die Prozession mit dem angesichts seiner Heiligenfigürchen betenden Paul und der ostentativ rauchenden und in einem Magazin blätternden Marietta: schrill auf den Punkt gebrachter Konfliktstoff. Paul, das Haar seiner Toten, ihren Brautkranz, ihr Unterkleid überstülpend, ihren Schal anlegend: der psychische Zusammenbruch, der definitive Wahn. Ob er, von Frank zum Weggehen aus Brügge animiert, jemals irgendwo ankommt, zerstört wie er ist? Kein Zufall, dass mit dem Wiedereintritt der Realität Bild Nummer eins nicht wiederhergestellt wird, der Rahmen sich nicht wirklich schließt. Enthusiastische Zustimmung.

Heinz W. Koch

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15. 4. 2003

Korngolds "Tote Stadt": Ein musikdramatisches Meisterwerk
In Zürich gelang eine Opernpremiere von seltener Intensität.

VON WILHELM SINKOVICZ

Das war der Angstgegner von Richard Strauss. Nicht der feinnervige Zemlinsky, schon gar nicht Franz Schreker mit seinen amateurpsychologisch veroperten Seelen-Gemischtwaren konnten dem Meister des "Rosenkavaliers" etwas anhaben. Aber der 23jährige Wiener Erich Wolfgang Korngold schrieb mit der "Toten Stadt" ein Musikdrama, das vom Publikum gestürmt wurde.

Es ist müßig, nachzudenken, warum der Welterfolg nach dem "tausendjährigen" Schweigen nicht erneuerbar schien. Wohl trägt das Verdikt des engstirnigen Adorno und seiner mafiosen Nachbeter einige Schuld. Doch spätestens mit dieser Wiederbelebung in Zürich ist das Stück wieder da.

Denn Dirigent Franz Welser-Möst und Regisseur Sven Eric Bechtolf glauben an die musiktheatralische Variante des Fin-de- siècle-Romans von Georges Rodenbach, spüren darin brisante Bezüge zu unserer Zeit auf. Und sie bringen das Kunststück zuwege, ihr Publikum mit einem Rausch an musikalischer Schönheit nicht sinnlos zu betäuben, sondern wach zu machen für die Botschaft des Werks. Die schält Bechtolf mit Chirurgenhänden aus der scheinbar so oberflächlich im Zwischenkriegs-Zeitgeist verhafteten Vorlage. Gewiss, da ist die beginnende Psychoanalyse mit sexueller Obsession, Persönlichkeitsspaltung usw. Da findet einer nach dem Tod seiner geliebten Frau den Anschluss an die Außenwelt nicht mehr und schielt nach einem Phantom. Die Tänzerin Marietta sieht aus wie die tote Marie, verwandelt sich in eine Idée fixe, wird vom verwirrten Helden zuletzt getötet. Denn nur so gleicht sie Marie ganz und gar.

Diese Handlung entpuppt sich als Traum. Ein Traum, der zugleich "Trauerarbeit" ist: Erst danach ist der Weg zurück ins Leben frei. Vor dem Zuschauer läuft der Alp in starken Bildern ab, die Bechtolf mit Hilfe der Szene (Rolf und Marianne Glittenberg) etwa am Beginn der Moderne ansiedelt und durch Überzeichnung der Figuren in Regionen künstlerischer Nachtmahre irgendwo zwischen Kafka und Herzmanovsky-Orlando verweist. Da werden aus den Obsessionen des Witwers Paul die Obsessionen unserer Zeit, in der unbewältigtes Seelen-Wirrwarr im Ausklang eines großen, kaum mehr in Ansätzen begriffenen Kulturerbes nur noch in Perversionen ausartet.

So rückt Bechtolf die im Stück nobel umschriebene Sehnsucht Pauls nach seiner toten Frau zur Nekrophilie, definiert ihr Sterben als Selbstmord. Die Leiche liegt als Devotionalie in der Badewanne. So verwandelt sich die Gaukler-Kompanie in ein Gruselkabinett der Monstrositäten und Abartigkeit.

Korngolds Musik trägt, jagt, peitscht uns durch dieses Panoptikum und schärft unsere Sinne, um dessen Gehalt zu dechiffrieren. Welser-Möst zaubert aus dem Zürcher Opernorchester ein Pandämonium klanglicher Expression. Da wird nicht nur das böse Wort entkräftet, dass schon beim jungen Korngold alles wie Filmmusik klinge. (Die Wahrheit ist: Hollywood klingt immer nach Korngold!) Vielmehr wird in Zürich dank Auslotung der genialen Partitur der Stellenwert des Komponisten redefiniert. Korngold schrieb Musik auf der Höhe seiner Zeit, farbiger vielleicht sogar als Strauss, voll kühner harmonischer Schnitte, klanglicher Hexenmeistereien: von der hässlichen Karikatur bis zum schwelgerischen Sehnsuchtsklang - alles, was die Ära zwischen Schönberg und Lehár in ihrer Schatztruhe bewahrt.

Eine solche Orgie an Effekten Punkt für Punkt zu realisieren, daraus große Szenen, packende Steigerungen, orchestrale Delirien zu formen und dabei den organisierenden klaren Kopf nicht zu verlieren, ist Mösts große Leistung. Er hält die szenischen und die nicht minder sprunghaften musikalischen Bilder zusammen, formt ein unentrinnbares Gesamtkunstwerk.

Aus der symphonischen Fülle heben sich die Stimmen. Leuchtkräftig und stark wie jene von Emily Magee (Marietta), oder wacker um große Linien und kleine Siege gegen die Widerspenstigkeit des (von Korngold so strapazierten) höchsten Registers kämpfend (Norbert Schmittbergs Paul). Olaf Baer gibt den fürsorglichen, im Traum zum Nebenbuhler mutierten Freund Frank, singt das Pierrot-Lied vom "Sehnen und Wähnen" mit anschmiegsamem Bariton. Eine makellose Tänzerin verkörpert Pauls sexuelle Phantasien im wahrsten und nacktesten Sinn des Wortes. Cornelia Kallisch verleiht der treuen Haushälterin Brigitta die rechten vokalen und szenischen Konturen.

Ein Opernabend von Sonderformat. Wiener Staatsoper und Salzburger Festspiele wollen 2004 mit einer eigenen Version der "Toten Stadt" Paroli bieten. Man kann ihnen nur viel Glück wünschen.

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