DIE BIOGRAPHIE
VON ALEXANDRA CAROLA GRISSON

ERMANNO WOLF-FERRARI WEBSITE


III. Kapitel

Vorfahren. Erlebnisse der Urgroßeltern nach der Französischen
Revolution. Wolf-Ferraris Musikbegabung und Musikerfahrung.


Wenn wir die Lebensbeschreibungen von Musikern und Dichtern mit innerer Hellhörigkeit in uns aufnehmen, so werden wir beobachten können, wie äußerst mannigfaltig der Boden beschaffen ist, den Eltern und Voreltern durch Art, Rasse, Wesen und Charakter ihren Nachkommen bereiten.
Ermanno Wolf-Ferraris Vater gab seinem Sohne die deutsche Herkunft, von seiten der Mutter stammt er von Lombarden ab. Die deutschen Vorfahren lassen sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie sind um diese Zeit als Bergleute und Bauern (auch ein Waffenschmied war unter ihnen) in Thüringen ansässig - also in der Heimat eines Martin Luther und Johann Sebastian Bach. Später führen die Spuren nach Süddeutschland, wie Schwaben, Baden und der Pfalz.
Der Ur-Urgroßvater Ermanno Wolf-Ferraris väterlicherseits war der erste, der die alte feste Heimat Thüringen, wo alle seine Vorfahren über 250 Jahre im Umkreis weniger Kilometer gelebt und gestorben waren, verließ und in die Ferne zog; ja, auch sogar (nach damaligen Begriffen) von 'weit her', nämlich aus dem Odenwald, seine Frau holte.
Die Mutter dieses Ur-Urgroßvaters war eine geborene Hillebrand aus Atzerode und hieß Anna Magdalena. Er selbst wurde 1715 in Seligental (Thüringen) geboren und auf den Namen Johann Sebastian getauft. Als er das Licht der Welt erblickte, war der größte aller deutschen Musiker, Johann Sebastian Bach, gerade 30 Jahre alt. Den seltsamen Zusammenhang der gleichen Namen kennen wir nicht. Auffallend ist jedenfalls, daß der Sohn dieses Ur-Urgroßvaters, Christian Theodor Wolf, Dr. theol., durchaus Bach'sche Züge trägt, ja, daß diese physiognomische Ahnlichkeit sich auch auf den späteren Urenkel Ermanno Wolf-Ferrari übertragen hat.
Johann Sebastian Wolf, Ermannos Ur-Urgroßvater, war der erste seines Stammes, der durch seine Tätigkeit mit der Kultur in Berührung kam. Der Fürst zu Leiningen nahm ihn mit nach der Pfalz und machte ihn zu seinem Kammerdiener, was zu damaliger Zeit auch eine Art Privatsekretär bedeutete. Aus den wenigen Aufzeichnungen über Johann Sebastian Wolf geht hervor, wie innig zugetan ihm der Fürst zu Leiningen gewesen sein muß. Er besuchte seinen aufgeschlossenen und unterhaltsamen Kammerdiener und unternahm mit ihm gemeinsame Wagenfahrten zu einer Zeit, da dieser sich längst selbständig gemacht hatte durch Ausübung des Schneiderhandwerks.
Der Sohn Johann Sebastian Wolfs, Christian Theodor, besuchte die Universität und wurde Doktor der Theologie. Das bedeutete für den gesamten Stamm einen großen Sprung aufwärts. Ermannos Vater überholte diesen noch, indem er Künstler wurde, während in Ermanno selbst diese Aufwärtsbewegung ihren Gipfelpunkt erreichte.
Ermannos Urgroßvater, Christian Theodor Wolf, Dr. theol., war zu Grünstadt in der Pfalz geboren. Er starb am 10. März 1848 zu Heidelberg als Kirchenrat und 1. evang. protestant. Stadtpfarrer an der Sankt-Peter- und Providenzkirche. Zuerst amtierte er in Hochspeyer, drei Stunden von Kaiserslautern, und zwar vom April 1768 bis April 1796.
Nach Ausbruch der französischen Revolution wurden die jenseitigen Rheinlande, mithin auch Hochspeyer, zuerst von preußischen Truppen durchzogen, dann aber von den Heeren der französischen Republik als erobertes Land besetzt und furchtbar heimgesucht.
Der Urgroßvater selbst gibt uns darüber in seinen Aufzeichnungen folgenden Bericht: Die Franzosen, welche nach Ostern des Jahres 1793 aus Hochspeyer abgezogen waren, wo sie damals noch menschlich gehandelt hatten zogen auf dtn Neujahrstag 1794, als ich eben von einer Fieberkrankheit, genesen war, in Begleitung einer Ausleerungskommission mit schrecklicher Wut wieder ein. All meine Habe ging zugrunde. Meine Bücher wurden verbrannt. Keine Besoldung wurde mehr gegeben. Im Februar 1794 starb meine liebe Mutter an Konvulsionen, welche ihr die Beängstigung des Feindes verursacht hatte. Als damals einige französische Soldaten durch pfälzische Bauern erschossen worden waren, wurde ich samt meinem ganzen Ortsvorstande nach Kaiserslautern geschleppt. Wir wurden hier alsbald zum Tode verurteilt und sollten erschossen werden. Nachdem ich aber dem französischen Befehlshaber einige silberne Löffel überreicht hatte, die derselbe ganz gleichgültig in einen Sack voll Silber werfen ließ, und dieser mir darauf bedeutete, es solle das über mich gefällte Todesurteil nicht vollzogen werden, ich müsse mich nur
schnell davonmachen, ging ich nicht, sondern bat ihn vielmehr, er möge auch meine Ortsvorsteher entlassen, worauf er mich und die mit mir Gefangenen zu unserer Freude entließ, doch nicht, ohne die beleidigendsten Schimpfreden über uns auszuschütten. Auf dem Heimwege tröstete uns ein elsässischer Offizier in deutscher Sprache und gab uns zur Labung etwas Speise und eine Flasche Wein aus dem Keller eines Gasthauses in Kaiserslautern, welches die Franzosen gerade ausplünderten. Er erteilte uns den freundlichen Rat, uns hinter die Mauern eines nahen Kirchhofes zu flüchten und dort die Stunde zur Weiterreise abzuwarten. Hier saßen wir nun in der Neujahrsnacht 1794 im Schnee und warteten. Meine Kenntnisse der französischen Sprache waren das Hauptmittel unserer Rettung. Einige Franzosen, welche ich darum ansprach, geleiteten uns eine Stunde Wegs. Das Vorankommen war aufs äußerste erschwert durch einen schrecklichen Schneesturm, der uns viele hohe Bäume in den Weg gelegt hatte, die alle überschritten werden mußten. In dunkler Nacht, früh um 5 Uhr, langten wir zu Fuß in Hochspeyer an, freudig von unseren Lieben daheim begrüßt.
Ich hatte in Kaiserslautern den oben genannten Befehlshaber inständig gebeten, um der Rettung der zu Hochspeyer aus Hunger und Durst sterbenden Säuglinge willen, der armen Gemeinde ein paar milchende Kühe zu belassen. Allein der Befehlshaber hatte hart erwidert: 'Das Kind im Mutterleibe muß merken, daß Freiheit und Gleichheit kommt!'
Meine lieben Eltern sahen sich, wie Tausende sonst, von allem ihrem Eigentum beraubt. Die über das arme verwüstete Land verbreiteten Franzosen hatten ihnen fast nichts gelassen als das nackte Leben. Die preußischen Verschanzungen hinter Hochspeyer und im ganzen Vogelgebirge waren unerwartet von den Franzosen eingenommen worden, weil Verräter ihnen den Weg durch die Bergschluchten gezeigt hatten. Auf diese Weise waren ihnen die Bewohner des linken deutschen Rheinufers schutzlos bald völlig freigegeben. Ganz besonders waren von den Franzosen die Schlösser des Adels und die Kirchen unseres schönen Landes zur Verwüstung ausersehen worden. Alle Besoldungen hörten für lange auf.
Mutet uns diese ergreifende Schilderung nicht an, als hätten wir einen Bericht aus jüngst vergangener Zeit vor Augen?
Hören wir, was Ermannos Großvater, Georg Friedrich Wolf, über das fernere Leben seines Vaters, des oben genannten Urgroßvaters, schreibt:
Der schwergeprüfte Mann lebte jetzt nur von den Wohltaten seiner Gemeindemitglieder. Aber aus dem Kargen, was ihnen selbst blieb, gaben sie ihm gerne. Zur Würzung ihrer in den Kriegsdrangsalen so wenigen Nahrungsmittel hatten meine Eltern nur noch Viehsalz. Ihre Betten reichten nicht mehr für sie hin, und zu dieser außerordentlichen Nahrungsnot kam nun noch eine sieben Monate dauernde Krankheit meines Vaters, das Nervenfieber, durch welches damals Tausende in die Arme des Todes sanken. Von der fünf Stunden entfernten Stadt Türkheim a. d. Haardt mußten die Arzte an das Krankenlager meines Vaters herbeigerufen werden.
Mein Vater erzählte oft im Leben von jenen schrecklichen Ereignissen. Auch meine gute Mutter sprach nicht selten mit Rührung von den damals erduldeten Leiden und Beschwerden. Einigermaßen genesen, blieb meinem Vater und ihr mit den Kindern jetzt als einziges Rettungsmittel aus dem Jammer nur noch die Flucht aus ihrem heimatlichen Pfarrort Hochspeyer. Er wanderte daher mit den Seinen, aller Habseligkeiten beraubt und von seiner Krankheit noch nicht völlig erstarkt, aus dortiger Gegend fort, während hinter ihnen die Flammen ihres Dorfes, welche die Franzosen angelegt hatten, emporloderten. Welch eine schreckliche Stunde im Leben meiner Eltern!
Sie zogen nach Mannheim; aber nachdem sie hier keine Wohnung zu längerem Aufenthalt fanden, von dort weiter nach Heidelberg. Hier, in dieser Stadt reiner, gesunder Luft, wie ingleichen durch freundliche, herzliche Aufnahme war mein Vater in Bälde in seiner Genesung weit vorgeschritten, so daß er sich in wenigen Wochen so stark fühlte, in der Providenzkirche als Kanzelredner aufzutreten. Bei einem Unwohlsein des lutherischen Kirchenrats Zehner in Heidelberg, des würdigen Mannes, welcher dieser schönen Kirche Bau erwirkt hatte, predigte er für diesen seinen lieben Freund und hatte das Glück, der Gemeinde als Redner so sehr zu gefallen, daß diese ihn einstimmig zu ihrem zweiten Pfarrer erwählte. Die Nachricht erreichte ihn in Hochspeyer, wohin er inzwischen wieder auf seine alte Pfarrstelle zurückgekehrt war. Seine Berufung nach Heidelberg war von 14 Briefen begleitet gewesen, in denen man ihm kundtat, wie gerne ihn viele Mitglieder der lutherischen Gemeinde in ihrer Mitte gesehen hätten.
Mit heißen Tränen von seinen lieben Hochspeyerern scheidend, bezog mein Vater am 13. Januar 1796 seine neue Pfarrstelle. - Im Jahre 1803, am 26. Mai, ward er zum Großh. Bad. Kirchenrate und Spezialsuperintendenten ernannt. Am 9. Juli 1818 ward er Dekan der Diözese Oberheidelberg und nach der Kirchenvereinigung 1822 am 26. Januar Präses des Heidelberger Pfarrministeriums und Kirchengemeinderates, womit die Leitung des ganzen evangelischen Kirchen- und Schulwesens der Stadt selbst und ihrer Umgebung seiner kräftigen Hand und seinem liebevollen Herzen anvertraut war, und worin ihn Gottes Gnade und Segen so beglückende Früchte ernten ließ, bis er am Abend seines Lebens in hohem Greisenalter der wohlverdienten Ruhe von seinem ausgebreiteten, reinen Wirken bedurfte.
Interessieren wird noch, daß man ihm zu verdanken hat, daß das Heidelberger Schloß überhaupt noch als Ruine existiert! Sie sollte abgetragen werden. Da trat Wolf-Ferraris Urgroßvater, dank seiner hohen Stellung, energisch dazwischen und verhinderte es.
Dieses Verweilen bei dem ebenso gütigen wie geistig bedeutenden Urgroßvater Ermannos erscheint mir aus zwei Gründen wichtig. Wir haben Gelegenheit, aus den angeführten authentischen Quellen die damaligen Zeitumstände zu erleben, wir erfahren aber auch, wie unter ihren Einflüssen eine starke Persönlichkeit durchpulst wird, die ihr seelisches Antlitz auf das unseres Meisters weitervererbt. So lebt aus der Vergänglichkeit des Formalen das Unsichtbare fort, und wir fühlen hier ein Zentrum der Klarheit, der Kraft und eine über alle Leiden siegende Glaubensstärke.
Allein durch diese vier Generationen dienen Träger des Geschlechtes Wolf einem Ideal. Ihr Erdenleben steht unter dem Zeichen einer inneren Berufung - jedes in seiner besonderen Prägung.
Ermannos Großvater, Georg Friedrich Wolf, wird 1798 in Heidelberg geboren. Auch er tritt als evangelischer Pfarrer in den geistlichen Stand ein. Sein Amt übt er in Oberöwisheim, Dühren und zuletzt in Dossenheim aus, wo er 1866 gestorben ist. Das nach innen gerichtete Gelehrtengesicht Georg Friedrich Wolfs verrät eine reichbewegte Welt des Gefühls und der Gedanken. Doch irgendwie scheint sein hoher Schwung gehemmt zu werden. Die feingeschnittenen Züge machen den Eindruck, als lägen sie unter dem Schleier einer stillen, wehmütigen Ergebenheit.
Dieser Großvater Ermannos heiratete die um fünf Jahre jüngere Luise Eichhorn, 1803 als Tochter eines Arztes in Nürnberg geboren. Ihr Dasein wirkt sich höchst bedeutsam für unseren Meister aus; denn sie bringt nicht nur eine starke Musikliebe mit, die sich im Laufe der Jahre zu einem über allem Durchschnitt stehenden Musiksinn entwickelt, sondern wird auch ausübende Musikerin. Als Mädchen singt sie in einer der Nürnberger Kirchen. Bei einer Aufführung bricht ihr die Stimme. Die Ursache für diesen tragischen Unfall war eine akute Heiserkeit. Noch zuvor drängte der Vater zur Absage. Aber die lebhafte und zur Durchsetzung ihres Willens neigende Tochter nimmt die Besorgnis nicht ernst - und verliert ihre Stimme für immer.
Seitdem wird das Klavier ihre Zuflucht. Sie ist Zeitgenossin von Schubert, Weber - sie erlebt das Unsterblichwerden des noch nicht sehr lange verstorbenen Mozart. Dem Genius Beethovens ist sie zutiefst erschlossen. Als er die Erde verläßt, befindet sie sich im 25. Lebensjahr. Nach damaligen Begriffen kann man ihren Enthusiasmus für Beethoven im wahrsten Sinne des Wortes mit 'modern' bezeichnen.
1880, also zwei Jahre vor ihrem Tode, durfte Luise Wolf noch die Freude erleben, ihren vierjährigen Enkel Ermanno in die Arme schließen zu können.
Ermannos Vater, August Wolf, unternahm zu dieser Zeit mit dem kleinen Sohn die lange, beschwerliche Reise von Venedig nach dem Pfälzer Städtchen Ladenburg, wo die Großmutter wohnte. Was mag ihr Gemüt bewegt haben, als sie in die klaren und tiefen Augen des Kindes schaute?!
Wem Musik Lebenselixier ist, wer sie versteht, dem öffnet sie meist den Sinn für ein höheres Begreifen der noch nicht erkennbaren Erscheinungen in der menschlichen Seele. Und so ist es wohl möglich, daß ihr eine Ahnung von der einstigen Größe des Enkels durchs Herz gegangen sein mag.