ERMANNO WOLF-FERRARI

LETTERE DALL'ESILIO ZURIGHESE
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Briefe aus einem halben Jahrhundert

Herausgegeben von Mark Lothar

Langen Müller

München-Wien 1982

 

 

An Clemens von Franckenstein

1875-1942. Komponist von Opern und Liedern.
Generalintendant der Münchner Hofoper 1912-1934.

Hohenbrunn/München, Waldkolonie «Ottohain»

12. Okt. 1915

 

Sehr geehrter, lieber Herr Intendant!
Schon lange hätte ich Sie gerne besuchen wollen und somit der mir selbst aufgelegten Klausur eine kurze angenehme Unterbrechung gegönnt, aber da das Warten im Hoftheaterwartezimmer mich einer zu großen Ausfragerei ausgesetzt hätte, so habe ich es immer wieder hinausgeschoben. Denken Sie sich, was es heißt, von einem deutschen Vater und einer italienischen Mutter abzustammen, jetzt im Kriege! Wer eine chromatische, ja enharmonische Seele besitzt, kann sich meine innere Zwiespaltslage vorstellen. Hätte ich gewußt, wo ich Sie besuchen könnte, ohne andere Menschen zu sehen, wäre ich schon gekommen.
Ich wohne jetzt draußen in den Wäldern und komme nur dann in die Stadt, wenn ich ganz bestimmt weiß, daß ich den finde, den ich suche. Falls es Ihnen nicht weniger Vergnügen bereiten würde, mich zu sprechen, als es bei mir der Fall wäre, Sie wiederzusehen, wäre ich sehr froh, wenn Sie mir mitteilen könnten, wann und wo ich Sie treffen könnte. Aber bitte nicht im Theater - da gibt es zu viele Begegnungen.
Heute früh las ich, daß Sie mit einer Oper «Li-Tai-Pe» in Köln einen schönen Erfolg errungen haben. Es freut mich sehr für Sie, daß Sie in diesen schweren Zeiten etwas so Erfreuliches erleben konnten. Wann kommt sie nach München? Es würde mich interessieren, etwas Musikalisches von Ihnen zu hören. Sie benehmen sich im Verkehr so natürlich, daß ich die besten Hoffnungen auf Ihre Tonsprache habe. Ist doch heute die Zeit der musikalischen Wichtigtuerei, der komplizierten Pose. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß Sie als Komponist nicht ebenso einfach (ich meine: wahr) wie als Intendant wären. Da habe ich schon die unmöglichsten Variationen von... Eitelkeit bei Intendanten erlebt. Was vermag nicht die Eitelkeit alles! Und doch ist nur die Echtheit einfach.
Mir geht es jetzt äußerlich nicht gut: hier bin ich durch das «Ferrari» Italiener, als «Wolf» deutsch. Die Wahrheit ist, daß ich Beides bin, und in politicis eine Null. Die Ewigkeit ist ernster als unser aller Ernstestes. Merkwürdig, daß die Menschheit immer noch nicht gelernt hat, das Leben als einen schönen Traum aufzufassen. Traum ist es jedenfalls: warum dann nicht auch diesen Traum schön wollen? Ach...
Mit warmem Gruß aus der tiefsten Einsamkeit
Ihr E. W-F
 

An Hans Pfitzner

Zürich, 30.7.1917

 

Lieber, hochverehrter Mensch!
Ich muß Ihnen wieder aus der Ferne, in innerer Nähe (die Ihnen vielleicht fremd erscheint), schreiben. Zunächst las ich Ihre Erwiderung an Busoni, und alles klang mir darin so vertraut, so wahr: und jetzt - Ihre Dichtung «Palestrina»! (Die Musik kenne ich noch nicht!) Als Palestrina seine Messe geschrieben hatte und einschlief, war ich vor innerem Aufruhr, in Tränen, unfähig eine unmeßbare Zeit lang, wieder die Augen zu öffnen und mich zu rühren. Die toten Meister waren mir dabei nicht eng gefaßt die Meister der Kunst, sondern die verschütteten Gestalten meiner Seele, meine begrabenen und doch lebendigen Hoffnungen in mir, das Große, Furchtbare, Hohe, dem ich aus innerem schmerzlichstem Zwiespalt ausgewichen bin, um nicht zermalmt zu werden. Und nun sprechen diese Gestalten so liebevoll gebieterisch, so streng und milde zugleicht ...
Ich bleibe bei der Skizzierung dieses subjektiven Eindrucks: ich kenne nur den meinen: jeder wird ihn anders erleben. Sie haben aber aus jenem Munde gesprochen, der so tief ist, da er Ihr jersönlichster und zugleich der der allgemeinen Menschheit ist. Diese Stimme braucht die atomistisch zerteilte Menschenseele, die arme Stumme mit dem BedürEnis des Schreies.
Unsere Einsamkeiten treffen sich mehr als wir ahnen. Unser Spaziergang im Laufschritt, voriges Jahr, in München, brachte unser damaliges Bewußtsein nicht nahe: Sie waren in sich, kaum erwacht, nachdem der Schlaf, der Ihrer Messengeburt folgte, halb aufgehört hatte: Sie sehnten sich verzweifelt hoffend nach Wirkung; ich war ein lächelnder Toter, ein Aufgebender, ein Nur-noch-Zuschauender. Seitdem habe ich mich mit meinem Tode versöhnt: ich begrub noch, was tot war, denn es mußte sterben: ein neues Leben, wie es sein mag, entsteht aus dem Ende, ob nur Mensch oder auch Künstler durch den neuen Menschen, das weiß ich nicht, denn - ich gehe mich nichts an, so bin ich mir am treuesten. Aber ich weiß jetzt, warum Sie mir so viel Symbol sind: Sie wissen es kaum; aus meiner Kunst, der bisherigen, können Sie es kaum.
Habe ich ja doch bisher mich hinter meiner Kunst verborgen vor mir selbst! Denn ich hatte Angst vor mir und lächelte, auch in Tönen. Das war furchtbar. Sie flohen nicht Ihr Leid! Sie sangen aus Ihrem Leid. Sie haben sich dadurch besser behandelt: Sie haben sich dadurch erlöst. - Doch jeder hat seinen Weg und seine besondere Art, sich selbst zu finden und zu fliehen. Gleich ist nur die Quelle: das Leben, das zweifelhafte, der Gott-Teufel in uns. -
Ich fühle, ich bin Ihr Freund: leider ein unnützer, dehn ich bin kein Handelnder. Aber Sie sagen es: «nicht kann jemand anders Trost dem andern geben als durch sein Sein.» Wenn Sie mich bemerken, bin ich, für Sie, etwas. Wenn Sie je danach fühlen, so werden Sie mir schreiben, ich werde antworten. Es kann Menschliches daraus werden. Wie es kommen mag.
Ich spreche so viel von mir, weil ich in dieser einen Haut stecke und keine andere besser kenne: je individueller ein Gespräch ist, umso allgemein menschlicher ist es auch, ganz ungewollt: Theorien suche ich nicht mehr, ich bin daran beinahe verblutet. Da mir die Welt von jeher zu viel nur Symbol war, und ich rnich auch in der Kunst nicht eigentlich realisierte (ich flüchtete bloß in ihre umzäunten Gärten), so können Sie sich meine Einsamkeit vorstellen. Sehen Sie zu, ob es Ihnen gut bekommt, mit so einem Menschen in Berührung zu kommen. Ich weiß aber, Sie sind kein Furchtsamer. Gegenwärtig male ich und dichte: die Musik schweigt, damit sie, vielleicht, wieder klingt, wenn sie will. Ich erdrosselte so vieles an mir: jetzt lasse ich wachsen, was wachsen will. Meine Passivität, mein Negativismus war eine Notwendigkeit. Schwer.
Wie dieser Brief auf Sie wirkt, kann ich mir nicht vorstellen, da ich Ihr bewußtes Wesen zu wenig kenne, es mag mir fremd sein. Ich kenne eigentlich nur das Unaussprechliche an Ihnen, soweit es in Ihren Werken klingt und es meine Intuition, ich möchte sagen, telepathisch mir offenbart. Ob diese Nähe die persönliche, selbst briefliche erträgt? Es sind zwei verschiedene Dinge...
Jetzt höre ich auf, sonst verfalle ich in einen Monolog: diesen kann ich zur Genüge allein machen.
Seien Sie nur noch auf das wärmste gegrüßt, beglückwünscht und bedankt, Sie Wahrhaftiger, Großer, Reiner, Heldenhafter! Mit tiefer Liebe
Ihr E. W-F
(Ein deutscher Vater, eine italienische Mutter! Schwer, schwer!)
 

An Eugen Keller-Huguenin

Dr. jur., geb. 1872 in Pernambuco, Brasilien, gest. 1941 in Florenz, später Rechtsanwalt Wolf-Ferraris.

Zürich, 23.8.1918, Universitätsstr. 8

 

Sehr verehrter, lieber Herr Doktor!
Seit dem schönen Sonntag bei Ihnen muß ich viel an Sie denken und ich tue es gerne. Ich teile es Ihnen mit, anstatt es für mich zu behalten, weil ich wirklich nicht weiß, wie weit... Telepathie reicht. Ist der unsichtbar verbindende Faden da, so bleibt er doch, auch wenn ich davon rede, und ist er's nicht... so kann ihn das Wort spinnen. In Ihrem Wesen ist Musik, ich meine jene, die hinter dem Ton ist, die erst da sein muß, damit es überhaupt Töne gibt: das fühle ich. Das ist meine Verwandtschaft zu Ihnen.
Wie auch die sichtbaren Zwecke unserer Naturen seien (Sie drängt es zur schönen Tat, mich zum schönen Bild), so sind die tiefsten Quellen in uns aus gleich reinem Wasser. Ich wünsche mir manche stillen Duette mit Ihnen; ich liebe das Duett als die vollkommenste Form der gegenseitigen Mitteilung. Es kann sehr fruchtbar für uns Beide werden, wenn wir uns etwas sagen, denn gerade daß wir Ähnliches schauen und in eine verschiedene Sprache kleiden, kann uns fördern.
Für heute nicht mehr. Wie Sie sehen - ich angle nach Ihnen. Andererseits, von Ihnen lasse ich mich gerne angeln. Diese Zeilen werden Ihnen Manches sagen, was ich nicht leicht in Worte fassen kann, es sei denn erst nach und nach.
Ihr E. W-F
 

An Ernst Kurth

Geb. 1.6.1886 in Wien, gest. 2.8.1946 in Bern. Professor für Musikwissenschaft, lehrte ab 1920 an der Berner Universität. Seine Bücher über «Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts», «Romantische Harmonik», «Bruckner» u.a. waren zu ihrer Zeit richtungweisende Werke.

Zollikon b. Zürich, Z3.11.1918

 

Sehr geehrter Herr!
Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen meine Bewunderung und meinen Dank für Ihr prachtvolles Buch «Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts», das ich soeben «verschlungen» habe, ausspreche. Ich sage «verschlungen», weil ich nicht anders konnte, als es zunächst in wahrer Gier, pausenlos, in rasendem Tempo, mit fieberhafter Aufmerksamkeit in einem Zuge zu lesen; ich stehe jetzt vor dem Genuß, das Ganze in zweiter Lektüre langsam zu schlürfen und zu genießen. Seitdem ich, vor vielen Jahren, Riemann, der mir viel gab, aber auch... nahm, verlassen habe, beschäftigte ich mich wenig mit theoretischen Büchern; umsomehr aber versuchte ich, auf meine Weise, einige theoretische Klarheit im Musikalischen zu gewinnen. Nun decken sich unsere Standpunkte über AufFassung des Dualismus, des Linearen und des Harmonischen, wie auch besonders der allgemeinen grundlegenden energetischen Quellen und Wesen der ganzen Musik so genau, daß es für mich wahrhaft erlösend war, bei Ihnen dies alles in so vollendet ausgereifter Form zu finden.
Ich habe sofort Ihre «Voraussetzungen der theoretischen Harmonik» bestellt. Es ist mir, als ob ich den Bruder Ihres Buches über das «Lineare» nun aruch im Harmonischen möchte, in ebensolcher erschöpfenden Ausführung. Ich bitte Sie, mir die Titel aller Ihrer Werke mitzuteilen: ich will sie ganz kennen lernen. Ja, ich habe die schöne Hoffnung, da Sie in Bern sind, so nahe bei mir, daß wir uns persönlich kennen lernen. Ich glaube, daß dies glückliche Stunden mit sich bringen müßte. In Anbetracht dieser Hoffnug will ich nicht einmal versuchen, Ihnen im Detail zu beschreiben, was mir alles Ihr Buch gab, das so menschlich ist. Ich fand immer, daß man bei der Musiktheorie den Hörer vergaß, als ob Töne draußen wären anstatt innen.
Schon vor 20 Jahren wünschte ich mir eine Harmonietheorie, die den hörenden Menschen mit in Betracht zieht; kurz, eine psychologische. Schon als Kind fragte ich meinen Vater, der mir keine Antwort geben konnte, weil er Maler war und kein Musiker, warum einige Töne, bei der Berührung mit den Fingern auf dem Klavier, mir elektrisch zuckend (wie ich damals sagte) vorkamen: es waren die Leittöne und alle alterierten leittonartigen. Die Harmonielehren sagten mir später darüber nichts, besonders Wagner stand ich theoretisch ganz ratlos gegenüber: nur das Gefühl konnte klar sein, nicht aber der Verstand darüber. Gefühl und Verstand aber kamen auf diese Weise nicht zusammen. Nun finde ich zum ersten Mal von einem anderen Menschen diese Fragen klar und lebendig behandelt.
Sie können sich meine Freude vorstellenl Schreiben Sie mir bitte zwei Zeilen und, falls Sie nach Zürich kommen sollten, so lassen Sie es mich wissen. Wenn Sie unbeweglich sind, so besuche ich Sie in Bern (ich bin eigentlich selbst ein unbeweglicher). Haben Sie nochmals Dank für Ihr herrliches Werk.
Ihr E. W-F
 

An Ernst Kurth

Zollikon, Dufourstr. 32

28. November 1918

 

Sehr geehrter, lieber Herr Doktor!
Herzlichsten Dank für Ihre lieben Zeilen. Wie freue ich mich, daß das gewünschte Buch nun schon fertig ist und von Ihnen: denn nur Sie mußten das Gegenstück zu der «linearen Anschauung» schreiben! - Ihre «Voraussetzungen» habe ich gestern gelesen: ich hatte den Eindruck, den Sie selbst erwarteten: keine Enttäuschung - sondern die Einsicht, daß diese noch mehr Auseinandersetzungen sind... Ihre Auffassung des Entgegenwirkens von horizontaler Linie und vertikalen Harmonien als ein Kampf ist genial, wahr, fruchtbar, erlösend.
Besonders tief berühren sich Ihre Probleme, weil ich noch nie ohne inneren Zwiespalt meine große Liebe für Bach und Wagner tragen konnte; ich fühlte dabei ein Entgegengesetztes und zugleich die verwirrende Tatsache, daß ich sie beide zugleich lieben muß, als ob sie zwei Seiten meines Wesens symbolisierten, die im liebenden Kampf zueinander stünden. Es hat mich beinahe zerrissen, da ich die psychologische Vereinigung in mir nicht fand, oder besser nicht wußte, wie ich so ungeteilt lieben könnte und doch intellektuell nicht verbinden könnte. Schwer, mich auszudrücken, doch Sie verstehen gewiß, was ich meine. Daß Sie mich als Künstler kennen und mir Sympathie entgegenbringen, freut mich innig - trotzdem ich selbst nicht mehr weiß, wie ich eigentlich zu meiner früheren Musik stehe.
Ich bin seit einigen Jahren in einem Verwandlungsprozeß mitten inne, aus dem ich entweder neugeboren herauskomme oder - verschmachte. Meine Natur neigt einerseits zur Mystik, andererseits zum Komisch-Grotesken: auch 2 Gegensätze, die ich früher nicht vereinigen konnte, d.h. ich begriff nicht, wie ich sie zugleich haben konnte: ersteres schien mir göttlich, das zweite teuflisch (trotz Liebenswürdigkeit) und ich begriff nicht, warum ich das mittlere Ding - die «saftige Leidenschaft» floh. Im «Schmuck der Madonna» versuchte ich dieses Mittlere - aber ich hatte das Gefühl dabei, als ob ich sündigte: ich bekam davor einen Ekel, der heute noch andauert. So habe ich noch den «Liebhaber als Arzt» und eine Oper (komisch) «Honny soit qui mal y pense», die in Wien beim Verleger seit Kriegseinbruch liegt, geschrieben - dann schwieg ich ganz: zog mich von allem zurück und arbeitete einige Dichtungen aus, die seit langem in mir gärten - dort fand ich mich ganz selbst, reif und wahr.
Aber das verpflichtet mich zu einer eigensten Musik, einer synthetischen, die ich an mir noch nicht kenne. Ich fürchte mich beinahe vor dem neuen Ausbruch. Gerade während dieser tonstillen Zeit mußte ich viel über Musik und ihre Beziehung, sowohl ihrer Elemente unter sich als ihrer psychologischen Quellen, nachdenken. Da kam Ihr Buch. Sie können sich denken, wie sehr ich Sie als helfenden Freund auffassen mußte. So schrieb ich Ihnen, und Ihr Brief gibt mir die Sicherheit, daß wir uns fortan etwas sein werden.
Riemann war mir in der Jugend geradezu schädlich. Einerseits war er der einzige Theoretiker, an dem ich eine Persönlichkeit spürte, so daß er mich anzog: andererseits - (lachen Sie mich nicht aus!!) ist er, unter uns gesagt, so gewagt es erscheint, eigentlich unmusikalisch zu nennen, denn er ist ein Begriffsmensch durch und durch, er konstruiert blind nach Begriffen, und der Instinkt, der Leib, der hörende Mensch, kurz alles das, was der Musik erst ei-nen Grund und Sinn im Lebensdasein verschafft, ist bei ihm tot und tötend - wenn man ihm glaubt. Wenn die Musik so kompliziert wirken müßte, wie er sie erklärt, so wäre sie die gräßlichste aller Künste anstatt die sinnlichste.
Schon vor zwanzig Jahren, als ich Riemann zum Teufel wünschte (er kam mir später doch zwischen die Beine, die laufen wollten!), sagte ich mir: die Natur gibt uns Naturtöne, aber schon daß wir sie im Akkord realisieren können, ist «voluntaristisch», erst recht in jeder Dissonanz. Die ist vom Künstler gewollt, geschaffen, erbaut und nicht irgendwo draußen in der Welt als Kristall fix und fertig zu finden.
Eine Bitte: verlieren Sie keine Zeit mit Polemik. Bauen Sie einfach positiv auf, wie es Kant in der Philosophie machte, als ob keine andere Seele philosophierte außer ihm. Sie haben Herz, Verstand und Ohren! Sie sind subtil und fassen zusammen! Sie sind in Einem Gefühls- und Verstandesmensch! Sie gehen nun allein, Sie brauchen niemanden sonst. Sie werden viel Klarheit bringen und Vielen dadurch helfen. Ich will Sie in Bern aufsuchen, da Sie so schwer abkommen können. Lassen wir alles ausreifen, wie es ausreifen will. In der Schweiz befinde ich mich, weil ich, von deutschem Vater und italienischer Mutter stammend, in dem verfluchten Krieg nirgends mehr heimfand. Ich bin der geborene Neutrale. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus entgegengesetzten Liebesströmungen. Schwer - aber reich ist das.
Ihr E. W-F
 

An Ernst Kurth

Zollikon b. Zürich, 28.4.1919

 

Sehr geehrter Herr Doktor!
(. . .) Meine künstlerische Not hat einen Höhepunkt erreicht; die Krisis will kein Ende nehmen; Gegensätze stoßen aneinander... ich weiß es nicht zu sagen. Eine teilnehmende, wissende, männliche Seele könnte mir vielleicht helfen. Ach, zu was die vielen Worte? Wir müssen uns vor Allem sehen.
In der letzten Zeit habe ich Halm's Harmonielehre (sehr fein), dann... die Schönbergs (erstaunlich für ihn, den ich für einen Anarchiker hielt) und die Thuilles (sehr langwe~ lig) gelesen; Schumann und Chopin durchgenommen (diesen mit höchster Liebe und Bewunderung für seinen Kampf um Form). Dann alles mögliche Philosophische (ich war lange bei den Indern und den Romantiker-Dichtern und Philosophen), dann wieder Nietzsche einmal, plötzlich Bach und Wagner zugleich, zuletzt mich selbst, d.h. ich machte wieder die Bekanntschaft mit früheren Sachen von mir, seit langem Vergessenes - kurz, wie Sie sehen ein Chaos - aber nur scheinbar. In letzter Zeit habe ich mich ganz in Musik konzentriert, Ihr Buch wieder gelesen, und finde zum ersten Mal eine Beziehung zwischen Bach und Wagner.
Die letzten Jahre haben mich zu sehr in mich selbst einspinnen lassen; ich bin zu einsam geworden. Mir fehlt ein musikalischer Freund, einer, der die Musik so liebt, wie ich sie liebe. Ich fühle mich durch die plumpe Schwere dieser Zeit im Innersten wie zerdrückt und fühle, daß ich allein nicht genügend Gegengewicht finde. Nur künstlerische Produktion könnte es mir wiedergeben. Aber dazu gelange ich noch nicht, weil innen noch alles in Aufruhr ist. Die Geschlossenheit Bachs, die Einheit Wagners beneide ich und möchte etwas Ähnliches erreichen. Ich suche ein Gesetz, dem ich mich beugen muß: es kann nur in mir sein in solcher chaotischen Zeit; manchmal glaube ich, es schon zu greifen - aber es schwindet mir wieder, es zerfließt. Ein tiefschauender Freund könnte mir helfen. Er würde durch sein pures Vorhandensein Mitschöpfer werden.
Nun höre ich aber wirklich auf. Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich so dreist bin, Sie mit meiner Seelennot zu belästigen. Früher war ich anders, war viel erfreulicher. Vielleicht werde ich es wieder auf einer höheren Stufe.
Ihr E. W-F
 

An Ernst Kurth

Zollikon b. Zürich, 3.5.1919, Dufourstr. 32

 

Sehr geehrter Herr Doktor!
Wie haben Sie es verstanden, meinem wirren Brief (den ich schon bedauerte, geschrieben zu haben) einen Sinn zu entnehmen! Und wie lieb und treu sind Sie sich und mir geblieben, indem Sie so schnell geantwortet haben nach meiner sicher nicht «selbstverständlichem» Schreibpause! - Ich danke Ihnen dafür mit der Freude Desjenigen, der Dank als Synonym von Freude kennt und einzig schätzt. - Sie können nicht kommen; so will ich, sobald es geht (und das Wetter freudig stimmt), an einem Sonntage zu Ihnen kommen. Jetzt will ich nicht mehr so ungestüm alles auf einmal haben: ich will, nacheinander, unsere Weiterspinnung genießen, stückweise - wie eben die Zeit vor sich geht - sekundenweise geht sie, die Schlimme-getreue. - Ich will Ihnen zur Auswahl, falls es Sie nicht belästigt, darauf zu antworten, einige Fragen stellen, die sich sowohl auf Ihre vorigen zwei Briefe beziehen als in mir nach Lösung strebend sind, wobei ich bemerken will, daß Ihre Briefe an mich wohlbewahrt sind und Ihnen immer zur Verfügung stehen sollen, talls Sie - improvisierend herausholend aus Ihrem Vorrat im Inneren - rückblickend bemerken sollten, daß Ihnen für Sie Wichtiges aus der Feder fließe:
1) Sie schrieben mir: «Sonderbar ist mir Ihr Zwiespalt gegenüber einer Vereinigung von Bach und Wagner, denn die Beiden schienen mir von je stark zusammengehörig.» - Meine Frage ist: Wie? Welche sind, nach Ihrem Urteil, die gemeinsamen Punkte, und zwar technisch ausgedrückt? (Also nicht allgemein poetisch, sondern - nach den tonenden Beziehungen?)
2) Dann schrieben Sie: «Auch würde ich gerne mit Ihnen über den Gegensatz von Mystik und Grotesk-Komik mich tiefer unterhalten, in denen ich durchaus Zusammengehöriges, in den Wurzeln sogar Identisches sehe... - Meine Frage: Wie und was? - (Ich fühle. . . den Gegensatz, ja das Zusammengehörige, vielleicht als... Abwendung vor der Realität ins Uberpersönliche [göttlich und teuflisch[], kann es aber nicht weiter definieren.)
3a) Kann man, was den Modulationskreis irgend eines Musikstückes bei Bach anbelangt (das heißt - sein Grundthema für Alles - denn so einfach muß es bei diesem «göttlichen» Handwerker - Sie verstehen micht! - doch sein), anders, d.h. weniger frei ausdrücken, als etwa so: «Er geht von zu Hause weg, geht spazieren (nicht sehr weit!), aber mit intensivem Erleben selbst des Allernächsten, als ob er schon sehr ferne wäre - und kehrt wieder, launenlos, heim? - Ich meine: hat er ein bestimmtes Modulationsschema, das nicht schon dadurch zu pedantisch ausgedrückt wäre, wenn man etwa sagte: zuerst zur Dominante, dann zu einigen Parallelen?
3b) Ist er hauptsächlich zwei- oder dreiteilig? - Könnte man Bach einige seiner «Hausregeln», die von einer verblüffenden Einfachheit furchtbar «praktisch» klingen müßten - entnehmen? Ich meine nämlich (und das mag etwas mit Ihrer Reform des Pädagogischen zusammenhängen) - daß wir alles Gesunde-Handwerksmäßige verloren haben, vor lauter grübelnder Theorie (Riemann etc. ). - Ich glaube, die Alten müssen über Harmonie, Kontrapunkt und, besonders Prosodie, ungeheuer Einfaches, aber umso Wertvolleres gelehrt haben. Aber - was? Mit einigen Seiten Hauptsätze müßte man alles gesagt haben, was zu sagen möglich ist, bevor einer komponiert. Alles andere sagt die Musik ja selbst. (Zu einfach von mir, wie? Zugestanden!) -
4) Ich kenne Schütz gar nicht. Ich freue mich, ihn kennen zu lernen. Welche Werke empfehlen Sie mir?
Sie sehen, daß ich schon viel frage. Da ich Sie jetzt so beschäftigt weiß, bitte ich, sich mit den Antworten Zeit zu nehmen, so lange Sie brauchen. Ich fürchte ja nicht mehr, jetzt, daß Sie mir zürnen.
E. W-F
 

An Ernst Kurth

Zollikon, 22.6.1919

 

Sehr verehrter, lieber Herr Doktor!
Ihren letzten Brief weiß ich hoch zu schätzen, denn ich hatte, bald nachdem ich Ihnen das letzte Mal schrieb, das Gefühl, als ob Sie beim Lesen meiner Frage über die 2- oder 3teilige Form bei Bach die Hände über den Kopf hätten schlagen können mit dem Ausruf: «Wie kann er denn so etwas fragen, nachdem er mein Buch, wie er sagt, sogar öfter gelesen hat? Das steht ja alles drin!» Und nun haben Sie die Geduld gehabt, dennoch zu antworten. Nun, einerseits habe ich bei Bach, besonders bei den Arien in den Kantaten, den Eindruck wie bei gewissen Volksbildern in Italien, bei welchen, wenn man von links hineinschaut, Garibaldi sieht, von rechts Mazzini und von der Mitte Vittorio Emanuele; d.h. die Periodisierung ist so klar und fest, daß dagegen eine Beethovensymphonie konfus erscheint; andererseits ist alles dabei so ineinanderfließend, so wundersam zueinander in unmerklicher Beziehung stehend, so organisch fest und weich zugleich, daß man den Eindruck hat, nichts sei dabei scharf begrenzt.
Während bei Wagner das Zerfließende aufdringlich ist, ist dieses Unendliche bei Bach apollinisch klar, und von einer Demut der Größe, die einen immer wiedert verwirrt. Diese Harmonie des Mathematischen mit dem Irrationalen... bei Gott: wie ist das gemacht? Andererseits - der Teufel hole Riemann und alle Phrasierer samt den Formenlehrern. So was hat man als Junger mit Heißhunger gelesen, in der Hoffnung, Belehrung zu empfangen, besonders wenn man Autodidakt ist; und man hat nur fest sitzende Nägel in den Kopf bekommen, die man nicht mehr ganz los wird, die sich dagegen stemmen, daß sich in dem nach Verständnis ringenden Kopf eine Theorie bildet, die sich mit dem schöpferischen Vorgang verträgt.
Gerade den Motor, der alles erst in Bewegung bringt, das Leben, das Werden, das sich Erformen in der Musik hat Riemann nie gesehen: er seziert Musik als Leiche, nicht aber so, als wenn der nächste Takt noch nicht da wäre. Und die Musik entsteht doch so, daß sie immer vor einem Ton steht, der noch nicht da ist. Und trotzdem ich diesen umstürzlerischen Formelmenschen schon lange hinausgeworfen habe, verbarrikadiert er immer noch Manches in mir. (...)
Nun der Vergleich zwischen Bach und Wagner. Die Ähnlichkeiten, die Sie finden, sind wahr und wirklich. Da Sie aber bei den seelischen Strömungen anknüpfen, möchte ich zu Ihren Ausführungen (nicht als Gegensatz, sondern als ergänzende Betrachtung) Folgendes hinzufügen: die Unendlichkeit bei Bach spiegelt sich als reinstes Wunder, das aus der Anbetung und Ehrfurcht stammt; weil er sich davor klein dünkt, wirkt er groß. Er erscheint selbst im Himmel, sei es als Punkt, doch im Himmel; so daß er keine Himmelsleiter zu besteigen braucht. Seine Bewegung ist innerlich, sie hat Ruhe. Er ist die Kraft, deshalb braucht er keine Leidenschaft und kennt die Anstrengung nicht, deswegen hat er die große Stille wie kein anderer. Allerdings hatte er Glück: in seiner Zeit waren Gott und Teufel fest projiziert in Himmel und Hölle und von der Kollektivität gemeinsam getragen. Er hatte keine Gefahr, sich selbst als Gottbesessener zu fühlen - er hatte Distanz, weil auch Gott in ihm war.
Dazu hatte Bach in sich eine große Kultur von technischen Musikformen. Es war viel Festes, Geformtes um ihn: er hatte nur zusammen zu fassen. Dazu diente ihm sein großes Genie.
Bei Wagner jedoch, da ihm die von der Aufklärung gemordeten Götter und Teufel als innere Gespenster aufstiegen, die er allein zu tragen wähnte, konnte es nicht anders sein, daß er ein vom Gotteufelbesessener wurde, der zwischen Selbstquälerei und Gottähnlichkeit hin und her pendelte. Das machte ihn moralisch klein, musikalisch bei aller Pracht schwül. Seine Unendlichkeit ist Schwärmerei, nicht Himmelsäther; er hat nie Stille, er strengt sich an, er ersteigt die Himmelsleiter und schnaubt und schwitzt dabei. Ein Moderner, ein Nervöser, der Nietzsche auf die Nerven ging, weil er auch ein Besessener war, der heldenmütig kämpfte, aus dem Dionysischen das Apollinische zu erzeugen oder wenigstens zu erleben. Man sage mir nicht, Wagner sei ein Dramatiker und deshalb sei er aufgeregt.
Auch Gluck und Mozart sind Dramatiker und haben Stille, Ruhe, Größe; nicht nur Breite. Ihr Gefühl ist eben nicht mehr körperlich. Wagner kennt nur den ewigen Anstieg, nicht aber die Entspannung und noch weniger die Harmonie der ganzen Welle. Bach hat lange Linien, aber er betrügt uns nicht in einem fort mit Trugkadenzen. Er schiebt uns nicht immer vorwärts, er trägt uns mit sich. Wagner habe ich geliebt und gehaßt, nun bewundere ich ihn und lasse ihn sein wie er ist. Bach kann lieben: das ist aber eine demutvolle «Arbeitsleistung» der Seele, keine Hirnlüsternheit, kein Narzißmus. Ich bekenne, daß ich den modernen Menschen nicht liebe. Lieber Giotto als ein Dekadenter. Aber - kann man seiner Zeit entrinnen?
Ihr E. W-F
 

An Ernst Kurth

Zollikon, 23.6.1919

 

Sehr verehrter Herr Doktor!
Gestern bin ich über Wagner recht losgezogen: ich wehre mich selbst gegen seinen «Zauber», der etwas ganz anderes ist als die «Hohe Lehre» bei Bach. Was ich musikalisch gesprochen am meisten bei Wagner bewundere,.ist die Erfindung seiner Themen, die so viel enthalten, wie es bei solcher Kürze selten der Fall ist; gerade deshalb sind sie aber von Hause aus nicht zur Fortspinnung geeignet. Er wiederholt eher, als daß er fortentwickelt; seine Fortspinnung ist eigentlich primitiv, barbarisch: sie hat kein eigenes Leben. Auch seine Dramatik ist mir mit realistischen Elementen zu gemischt, zu viel Sprache, die man hinter der Musik meistens nicht verstehen kann, trotzdem sich die Musik dafür oft opfert. Zu viel Aus-drücken, eher - Druck.
Ihr E. W-F

1919 FORTSETZUNG