BETTINA MATHES


DOKTOR FAUST ZWISCHEN TRAUM UND WACHEN
– EINE REISE INS UNBEWUSSTE DER KULTUR


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© PROGRAMMBUCH STAATSOPER
STUTTGART UND AUTOR



Ferruccio Busoni und Sigmund Freud waren Zeitgenossen, wobei der 1856 geborene Freud den zehn Jahre jüngeren Musiker um fünfzehn Jahre überlebte. Wahrscheinlich sind beide Männer sich nie begegnet. Freuds psychoanalytische Erklärungsversuche über das Unbewusste (der Kultur) aber bieten einen Schlüssel zum Verständnis des Doktor Faust. Das Fragmentarische, Kombinatorische und Sprunghafte der Geschichte, der stilistische Eklektizismus der Musik, die Verweigerung gegenüber den chronologischen Ansprüchen der Narration, das &Mac226;fehlende’ Ende: alle diese Kompositionsmerkmale der Oper erzeugen den Eindruck des &Mac226;Unrealistischen’ und scheinen darauf zu insistieren, dass das, was wir auf der Bühne sehen und hören, nicht dem Modus des Wachzustands verpflichtet ist, in dem das Realitätsprinzip regiert, sondern dem Modus des Unbewussten, und dem mit ihm verbundenen Lustprinzip. Freud hat geschrieben, die Prozesse des Unbewussten seien „zeitlos, d.h. sie sind nicht zeitlich geordnet, werden durch die verlaufende Zeit nicht abgeändert, haben überhaupt keine Beziehung zur Zeit“. Dieser Zeitlosigkeit, die auch die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart besagt, entspricht der Umstand, dass die unbewussten Vorgänge „keine Rücksicht auf Realität kennen. Sie sind dem Lustprinzip unterworfen“ und kümmern sich nicht um logische Unvereinbarkeiten oder Widersprüche. „Es gibt in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Sicherheit“. Der Doktor Faust ist im Übrigen nicht die einzige Bearbeitung des Fauststoffes, die sich den Zwängen der Chronologie und erzählerischen Geschlossenheit verweigert. Auch die gegen Ende des 16. Jahrhunderts anonym erschienene Historia von D. Johann Fausten – einer der ersten Bestseller der deutschsprachigen Literatur überhaupt – bedient sich eines kompilatorischen Prinzips, um die scheinbar unzusammenhängenden Episoden aus Fausts Leben zu ordnen. Busoni selbst hat das von Karl Simrock 1846 verfasste auf der Historia basierende Puppenspiel Doktor Johannes Faust als Inspirationsquelle angegeben.
Nun muss man das System des Unbewussten nicht nur auf die Psyche des einzelnen beziehen, auch Kulturen haben ein Unbewusstes, indem sie symbolische Ordnungen hervorbringen, die wiederum nur über die von ihnen erzeugten Symptome (Kunst, Wissensordnungen, Körperpraktiken, etc.) zugänglich werden. Im Doktor Faust wird der Zuschauer mit folgenden Worten auf das Bühnengeschehen eingestimmt: „Die Bühne zeigt vom Leben die Gebärde / Unechtheit steht auf ihrer Stirn geprägt / ... / gebt zu, daß sie das Wahre nur entwerte, / dem Unglaubhaften wird sie erst gerecht: / und wenn ihr sie, als Wirklichkeit, belachtet, / zwingt sie zum Ernst, als reines Spiel betrachtet.“ Nicht der nüchternen, vernünftigen materiellen Wirklichkeit verleiht der Doktor Faust Ausdruck, sondern mit den sehr bewussten Mitteln der Kunst erzählt die Oper etwas von den vielstimmigen, unlogischen immateriellen „Wunschregungen“ der Kultur. Das bedeutet auch, an der Geschichte eines Individuums werden kollektive Denkmuster der abendländischen Kultur verhandelt. Zugleich ist Busonis bewusste Entscheidung, der Oper den Charakter des Unbewussten zu verleihen, aber auch als Plädoyer zu verstehen, Phantasien als das zu nehmen, was sie sind: Wunschregungen, denen nicht unbedingt eine physische Wirklichkeit entsprechen muss und die nicht zwangsläufig nach Verwirklichung streben. Die Rekonstruktions- und Komplettierungsversuche, die Busonis &Mac226;unvollendete’ Oper nach dem Tod des Komponisten erfahren hat und die sich als Versuch interpretieren lassen, ihr den Charakter des Unbewussten zu nehmen, zeugen davon, wie wenig man bereit ist, die Differenz zwischen Wollen und Können zu akzeptieren. Kurzum, die Einsichten der Psychoanalyse erlauben es, Busonis Doktor Faust als eine dem Wesen des Traums (oder der Neurose?) verwandte Phantasie über das Unbewusste der christlich geprägten, abendländischen Kultur zu beschreiben; als Dramatisierung einer symbolischen Ordnung, die gerade weil sie symbolischer Natur ist, eine verführerische Wirkungsmacht entfaltet. „Es gibt einzelne Männer,“ – so Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur – „denen sich die Verehrung ihrer Zeitgenossen nicht versagt, obwohl ihre Größe auf Eigenschaften und Leistungen beruht, die den Zielen und Idealen der Menge durchaus fremd sind. Man wird leicht annehmen wollen, daß es doch nur eine Minderzahl ist, welche diese großen Männer anerkennt, während die große Menge nichts von ihnen wissen will. Aber es dürfte nicht so einfach zugehen, dank den Unstimmigkeiten zwischen dem Denken und dem Handeln der Menschen und der Vielstimmigkeit ihrer Wunschregungen.“ Es scheint, Faust ist einer dieser Männer. Über Jahrhunderte hat der Teufelsbündler das Denken und die Phantasie von Dichtern, Philosophen und Musikern angeregt, hat Leser, Zuschauer und Zuhörer in seinen Bann geschlagen und – so darf man wohl vermuten – ihre dem Reservoir des kulturellen Unbewussten entstammenden „Wunschregungen“ befriedigt. Busonis Faust – so will es das Libretto – ist ein „Phantast“, „es naht mit ihm das Wunderbare“, „das Ungewohnte ist an ihm natürlich“ .

„Mache mich frei!“
Dass die Oper als Ausdruck kollektiver Sehnsüchte verstanden werden kann, die das Lustprinzip gegen das Realitätsprinzip ins Spiel bringen, zeigt sich vielleicht am deutlichsten daran, dass Faust den Pakt u.a. deshalb eingeht, um in den Besitz einer „Vollkommenheitsgewalt“ zu gelangen, über die er allein verfügen kann, die ihn von den Disziplinierungen befreit, die die kulturelle Gemeinschaft den Lüsten und Bedürfnissen des Einzelnen auferlegt. „Beschaffe mir für meines Lebens Rest / die unbedingte Erfüllung jeden Wunsches / ... / auf daß ich glücklich werde wie kein anderer. / ... / Mache mich frei!“ , verlangt Faust von Mephistopheles. Eben dieser Widerspruch zwischen individuellen und kollektiven Glücksvorstellungen ist das große Thema, dem Freud sich in Das Unbehagen in der Kultur widmet. „Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung aller – nein, der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat. ... ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“ Und zwar deshalb nicht, so Freud weiter, weil die durch Wissenschaft und Technik erlangte Gottähnlichkeit eine kulturelle, von keinem einzelnen oder einzigen Menschen zu besetzende Position darstellt, deren Entwicklung und Aufrechterhaltung dem Individuum ein hohes Maß an Trieb- und Lustverzicht abfordert. „Diese Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. ... Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut“. Das „Mache mich frei“, das Faust dem Teufel entgegenschleudert, besagt den Wunsch nach der Befreiung von den Zwängen der Kultur. Zugleich aber gehört das, wonach Faust strebt, „daß die Tat / zugleich ins Leben trete mit der Absicht“ , zu den wirkmächtigsten und produktivsten Phantasmen der abendländischen Kultur – ein Indiz dafür, dass in der Gestalt des Faust kollektive Denkmuster, die eine lange Geschichte besitzen, darstellbar werden. In der Tat gehört das Faszinosum, „daß Erfüllung schreite mit dem Wunsche“ , zu den zentralen Gründungsphantasien des Christentums. Die Motivation hinter dem Teufelspakt wird voll und ganz vom berühmten Anfang des Johannesevangelium gedeckt. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. ... Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“ (Joh. 1, 1-3). Dies ist das Vorbild für Fausts größenwahnsinnigen Traum „Ich, Faust, / ein ewiger Wille“ . Mit anderen Worten, Faust stellt mit dem Abschluss des Teufelspaktes die christliche Ordnung nicht in Frage, er strebt vielmehr danach, sie zu erfüllen; Doktor Faust ist nicht Ketzer, sondern Fundamentalist. Seine Freiheit ist erkauft durch Unterwerfung. „Wo ist mein Wille, wo mein Stolz geblieben!“ , ruft der Teufelsbündler hellsichtig aus, als er schon nicht mehr zurück kann. Das, was Faust will, ist das, was der christliche Gott ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – vorschreibt. Bezeichnenderweise wird der Pakt an Ostern geschlossen und die Unterzeichnung von einem Chor begleitet, der das katholische Glaubensbekenntnis vorträgt. „Credo in unum Deum. Patrem omnipotentem, creatorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium. – Et resurrexit tertia die secundum scripturam et ascendit in coelum, sedet ad dexteram Patris“. Der Pakt wird gleichsam &Mac226;im Namen des Vaters’ unterzeichnet; er wird vollzogen mit der Anerkennung des christlichen Vatergottes, getragen von dem Glauben an die Fleischwerdung des Wortes – nichts anderes meint „daß die Tat zugleich ins Leben trete mit der Absicht“ – und der Gewissheit der Auferstehung nach dem Tode. Tatsächlich identifiziert Faust sich sowohl mit dem Gottvater als auch mit seinem sterblichen Sohn: „gib mir Genie / und gib mir auch sein Leiden“ fordert er von Mephistopheles, der hier – wie schon in der Historia – als Agent des christlichen Gottes auftritt. Gleichzeitig – oder gerade deswegen – versucht Faust seine Unterwerfung zu leugnen. Nachdem er sich dem christlichen Glaubenssystem ausgeliefert hat und dem Teufel sein Leben übereignet hat – „Du, Faust, bist nun ein Toter“ –, lehnt er sich starrsinnig dagegen auf: „dem Jenseits trotz ich ... Vielleicht unterliegst noch Du. Bin ich nicht dein Herr?“ . Busoni hat diese Dynamik nicht erfunden. Bereits in der 300 Jahre älteren Historia erweist sich Männlichkeit als ein Unterwerfungstypus, der seine Unterwerfung verschleiert. Dort wird Faust ein eigenständiger Wille zum Bösen zugeschrieben, der die vorausgegangene Bezwingung seines Willens leugnet: „Was zum Bösen will, das lässt sich nicht aufhalten“ . Busoni lässt den mit den Mächten des Himmels ausgestatteten Teufelsbündler in Ohnmacht fallen. Die Reise ins Unbewusste der Kultur kann beginnen.

Die Bilder verführen
Zwar leitet sich Fausts Wunsch, der Gedanke möge Wirklichkeit werden, vom Logos der Alphabetschrift ab, das Medium, in dem er seine Kunst erprobt, ist jedoch das Bild. Das ist nicht verwunderlich, denn nicht nur waren Photographie und Kino zwei der wirkmächtigsten und faszinierendsten Simulationstechniken zu Busonis Lebzeiten, mit dem Bild verband man spätestens seit der Renaissance die Hoffnung, Vorstellung und Wirklichkeit, (Signifikant und Signifikat) könnten ununterscheidbar werden. Eben darin bestand (und besteht) die große Verführungskraft der Bilder. Zum einen schien das Bild der Wirklichkeit überlegen, es war sozusagen wirklicher als die Wirklichkeit; zum anderen – Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray ist hier das bekannteste Beispiel – entstand der Wunsch, den menschlichen Körper in ein Bild zu verwandeln, während das Bild die Endlichkeit des wirklichen Lebens zu tragen hatte. Mit anderen Worten, die optischen Simulationstechniken versprechen das Paradies auf Erden. Wer die Herstellung der Bilder beherrscht, ist der Herrscher in diesem Paradies. Faust will herrschen und er tut dies, indem er die Menschen durch optische Simulationstricks verführt und ihr Begehren weckt. Ein scharfer Verstand mag bestechend sein, aber er wird auch als kalt und leblos empfunden. Es stimmt, die Studenten verehren den Professor Wagner, der einst bei Faust als Famulus begonnen hatte, aber sie spüren auch: seine „Weisheit fühlt sich an so kalt“ . Faust dagegen „brenzelt gleichsam von unheiligem Feuer“ . Aber seine Glut ist tödlich – sie &Mac226;verbrennt’ vor allem die Frauen. Faust weiß um die Verführbarkeit der Frauen (ihren Wankelmut); nicht umsonst projiziert er am Hof des Herzogs und der Herzogin von Parma zwei der berühmtesten Verführungsdramen der Literatur- und Musikgeschichtegeschichte: die aus dem Alten Testament stammende Geschichte von Samson und Dalila, die Camille Saint-Saens 1877 als Oper vertonte, und die Verkörperung der femme fatale schlechthin: Salomé, deren „Tanz der sieben Schleier“ Maler, Schriftsteller und Musiker im 19. Jahrhundert gleichermaßen inspirierte. In beiden Geschichten setzen Frauen ihre Verführungsmacht ein, um Männer zu töten und in beiden Geschichten ist die Tötung jeweils als symbolische Kastration interpretiert worden. Dalila verführt den Helden Samson, schneidet ihm im Schlaf das Haar, in dem seine übermenschlichen Manneskraft ihren Sitz hat, und liefert ihn auf diese Weise seinen Feinden aus. Busoni lässt den Chor singen: „Sie hebt die Schere – / das ist bekannt – / die listige Mähre – / Ha, wird er entmannt?“ Bevor es dazu kommen kann, erlöscht die Szene und die Herzogin verlangt ein neues Bild. Salome und Johannes treten in Erscheinung, „daneben der Scharfrichter mit erhobenem Schwert. Letzterer trägt die Züge des Herzogs“ . Mit diesem letzten Bild hat Faust die Herzogin gewonnen. „Ach er berückt mich, betört mich, ergreift mich! ... / Wer ich gewesen, und was ich vorstellte, / ist mir entschwunden – seh nur den einen Weg, / den Weg zum teuren Manne. / ... / Faust, / du, mein Faust! – / ich komme!“ Es ist sicher richtig, dass die femme fatale eine Männerphantasie darstellt, eine Kunstfigur, die dazu dient, dem männlichen Künstler sein narzisstisches Begehren nach sich selbst zurückzuspiegeln. An der Figur der Salome berauscht der Künstler sich an seiner eigenen Schaffenskraft. Indem er die Frau als Bild erschafft, beweist der Mann sowohl seine Potenz als auch seine Verführungskraft. Busoni hat dies sehr klar herausgearbeitet, indem er dem Motiv eine neue Wendung hinzufügte. Im Doktor Faust ist die femme fatale das Werkzeug des Künstlers. Faust benutzt die Bilder der Verführung, um selbst zu verführen. Das Bild der femme fatale ist gewissermaßen sein Geschlechtsorgan. Am Ende jedoch erweist sich Faust als unfruchtbar, sein Sohn – Allegorie für das Werk, das ihn überleben, für die Botschaft, die von seiner Potenz künden sollte – wird totgeboren und von Mephistopheles verbrannt. Und nun ist auch Faust verführbar; er verfällt dem Bild der schönsten Frau des Abendlandes: „maßlos an Schönheit, unerschöpft an Liebe, / an Jugend unvergänglich, Helena.“ Ihr Bild verkörpert all das, wonach Faust strebt: „Traum der Jugend, / Ziel des Weisen! / Reinster Schönheit / Bildvollendung: / Dich zu üben, / Dich zu preisen, / Dich zu lehren / War mir Sendung“ . Die Erscheinung der Helena ist ein in den vielen verschiedenen Bearbeitungen des Fauststoffes immer wiederkehrendes Motiv. Sie gilt als der Inbegriff weiblicher Schönheit, von der schon die Griechen behaupteten, sie habe nicht wirklich, sondern nur als Bild existiert. Im Doktor Faust verschmilzt Helena mit Salomé: „Ein vollkommen schönes junges Weib, in durchsichtigem Schleier, im übrigen nackt ... führt einen gemessenen Tanz aus“ , heißt es in den Regieanweisungen. Das Faszinierende an dieser Illusion weiblicher Vollkommenheit ist ihre vollkommene Berechenbarkeit. Helena steht für die Anziehungskraft der Vernunft, für die Erotik des Logos, sie ist der Phallus, den Faust haben will. „Nur Faust berührte je das Ideal!“ , frohlockt der Teufelsbündler, aber er hat sich zu früh gefreut, es gelingt ihm nicht, Helena zu fassen: „Als er sie endlich zu halten wähnt, zerfließt die Erscheinung ins Nichts.“

Aus der Traum?
Die mit dem Pakt erkaufte Zeit ist im Nu verronnen und Faust steht als Gescheiterter da. Er hat es nicht vermocht, sich an die Stelle Gottes zu setzen; er hat erfahren müssen, wie jeder andere sterbliche Mann ist er verführbar (und kastrierbar). Sein Schüler hat es inzwischen zum Professor in Wittenberg gebracht, während Faust als „Phantast“ daherkommt. Doch halt! – im Modus des Unbewussten ist es nie zu spät, wer keine Zeit kennt, kennt auch kein Ende. Busoni hält eine weitere Option für Faust bereit. Eine Option, die im Imaginären der abendländischen Kultur durch nichts mehr zu übertreffen ist. Wie es die Ostergeschichte, mit der alles angefangen hatte, vorschreibt, wird Faust sein totes Kind zu neuem Leben erwecken und in diesem Akt der Überwindung des Todes selbst zum Gott werden. „so stell’ ich mich / über die Regel, / umfaß in Einem / die Epochen / und vermenge mich / den letzten Geschlechtern: / Ich, Faust, / ein ewiger Wille!“ Faust stirbt und wird dadurch zum Gott. Indem er sich der Sterblichkeit entledigt, wird sein göttlicher Wille unsterblich. Die Regieanweisungen sehen vor, dass dort wo das tote Kind gelegen hatte, „ein nackter, halbwüchsiger Jüngling aufgestiegen [ist], einen blühenden Zweig in der Rechten“ . Dies ist gewiss das Ende der Ostergeschichte. Aber es ist nicht das Ende der Oper. Ein letztes Mal lässt Busoni Mephistopheles in Gestalt eines Wachmanns auftreten. Als dieser Fausts reglosen Körper auf der Straße findet, fragt er: „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ Mit dieser Frage endet die Oper. Offen bleibt damit, ob Faust den Jüngling reanimiert hat. Und offen bleibt auch, ob Faust tatsächlich jener ewige Wille ist, als der er sich phantasiert. Dieses offene Ende erregte so viel Anstoß, dass ihm ein neuer &Mac226;passender’ Abschluss hinzugefügt werden musste. In Antony Beaumonts Version räumt der Chor die in Mephistopheles’ rätselhafter Frage angedeuteten Zweifel aus dem Wege. Faust wird hier eindeutig als der Vater des auferstandenen Jünglings genannt, womit auch Fausts Göttlichkeit bewiesen wäre. So müßig es ist, darüber zu spekulieren, ob Busoni seine Fassung der Oper tatsächlich nicht vollenden konnte (oder wollte), so produktiv ist es, zu fragen, welche Wirkung dieses als unfertig empfundene Ende hervorruft. Zunächst ist bereits die Tatsache, dass das Ende als zu früh, zu abrupt und zu uneindeutig wahrgenommen wird, bemerkenswert. Es scheint als rühre die Frustration der Rezipienten daher, Fausts Traum nicht zu Ende träumen zu dürfen. Der Wachmann, der nach Fausts Tod den neuen Tag ankündigt, reißt die Zuschauer und Zuhörer gleichsam zu früh aus dem Schlaf. Man kann dies sicherlich als frustrierenden Mangel empfinden; zugleich aber ruft dieses plötzliche Aufwachen dem Zuschauer in Erinnerung, dass Unbewusstes und Bewusstes, Wunschregung und Tat zwei verschiedene Wahrnehmungszustände sind, die im Falle der faustischen Allmachtsphantasie – die zu den wirkmächtigsten Gründungsphantasien der christlichen Kultur zählt – besser nicht zur Deckung gebracht werden sollten.
„Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ – mit den Augen des Wachzustands betrachtet, ist Faust ein sterblicher Mensch wie jeder andere, dem man seine im Traum ausgelebten Wunschregungen nach Übermenschlichkeit und Weltbeherrschung nicht ansieht. Als Ausdruck kollektiver Phantasien jedoch gibt seine Geschichte Auskunft über die unbewussten Sehnsüchte und symbolischen Denkmuster der abendländischen, christlich geprägten Kultur. Busoni hat dies im Epilog sehr klar ausgesprochen: „Von Menschensehnsucht ward vor Euren Blicken / den Abend durch ein tönend Bild entrollt“. Interpretiert man die Oper also als Ausdruck einer unbewussten symbolischen Ordnung, dann erscheinen die &Mac226;fragmentarische’ Form und das &Mac226;unfertige’ Ende als Weigerung, die von Faust gehegten Allmachtsphantasien formal und stilistisch zu einem Abschluss zu bringen, sie also nicht in die Tat umzusetzen. Gerade das Ende weist darauf hin, dass Komponist und Protagonist zwei verschiedene Figuren sind, dass sich der Komponist nicht zum Erfüllungsgehilfen des faustischen Strebens macht. Fausts grandiosem Selbstbild – „Ich Faust, / ein ewiger Wille“ – folgt Busoni nicht. Die Leerstelle, die Zuhörer und Zuschauer am Ende empfinden, besagt sowohl die Differenz zwischen Fiktion und Realität als auch die Anerkennung des Mangels, die Bereitschaft, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. „Die Absicht, daß der Mensch glücklich sei,“ so schreibt Freud, „ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten“. ,
„Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ – Warum eigentlich nicht?