BUSONI NEI RICORDI DI LEO KESTENBERG

da «Bewegte Zeiten»,
Möseler Verlag
Wolfenbüttel und Zürich,
pp. 51 ss.
Im ehemaligen Kgl. Preuss. Kultusministerium war der Orientalist Prof. Dr. C. H. Becker Personalreferent der Universitätsabteilung. Becker war ein hochangesehener, allgemein geschätzter Mann, einer der wenigen aufrechten Demokraten. Nach dem Umsturz wurde er bald Staatssekretär und später wiederholt Minister. Beckers Persönlichkeit hat mich immer besonders beeindruckt, und zu meiner grossen Freude kam auch er mir mit Sympathie entgegen, nachdem er mich näher kennengelernt hatte.
Er bemerkte bald, dass ich - im Gegensatz zu den meisten anderen Beamten - immer sehr früh am Morgen an meinem Arbeitsplatz zu finden war, und er pflegte mich deshalb einen 'matinalen Typ' zu nennen. Er hatte damit vollkommen recht; denn mein ganzes Leben hindurch habe ich mich nur wohl gefühlt, wenn mein Tag früh begann. Eine gewisse Regelmässigkeit in der Arbeitseinteilung ist mir überhaupt seit jeher eigen, und es kam meiner persönlichen Anlage sehr zustatten, als im Ministerium von Minister Becker eine ganz bestimmte Ordnung eingeführt wurde, nach der jahrelang der Freitagvormittag für die Vorträge der Referenten der Kunstabteilung vor dem Minister und dem Staatssekretär angesetzt war - natürlich unter Führung des Ministerialdirektors. Da kamen wir alle zusammen, die Referenten der Musik, des Theaters, der bildenden Kunst, der Museen, der Denkmalspflege usw., und ein jeder brachte vor diesem Gremium seine Angelegenheiten und Pläne vor, und dann traf der Minister seine endgültige Entscheidung.
Bevor ich zum Ministerialrat ernannt wurde, sagte Becker mir unumwunden, dass vier Gründe gegen meine Ernennung von den Vertretern der Deutschnationalen Partei immer wieder ins Feld geführt würden:
1. dass ich Jude sei,
2. unabhängiger Sozialdewokrat,
3. Ausländer und
4. Nichtakademiker.
Alle diese 'Fehler' waren jedoch für Becker nicht stichhaltig genug, um ihn von seiner Absicht abzuhringen, sich mit aller Kraft für meine Ernennung zum Ministerialrat einzusetzen. Im Jahre 1919 war ich zur 300-Jahr-Feier der holländischen 'Gesellschaft zur Förderung der Tonkunst' in Amsterdam eingeladen, und dort erreichte mich ein Telegramm von Becker, der mir meine vollzogene Ernennung zum Ministerialrat mitteilte.
Alle Vorschläge, die ich Becker machte, wurden von ihm mit Wohlwollen geprüft und fast ausnahmslos gutgeheissen.
Einer meiner ersten Vorschläge war die Berufung Ferruccio Busonis an die Staatliche Akademie der Künste. Durch den Rücktritt von Richard Strauss war eine der Meisterklassen für musikalische Komposition verwaist, und so schlug ich dem Minister vor, Busoni an diesen Platz zu berufen. Dieser, gebürtiger Italiener, lebte damals in Zürich, wohin er während des Krieges von Berlin, seiner Wahlheimat, geflüchtet war. Ich erhielt also den Auftrag, nach Zürich zu reisen, um mit Busoni persönlich seine Berufung nach Berlin zu besprechen. Ich verfasste einen Brief, der sich zu einer kleinen Denkschrift ausweitete und in welchem ich die Bedeutung Busonis als Komponist und insbesondere seine Bedeutung für das gesamte deutsche Musikleben mit Enthusiasmus darstellte. Busonis Ruhm galt damals hauptsächlich dem international bekannten Pianisten. Becker war so lebhaft beeindruckt von diesem Brief, dass er ihn mit nach Hause nahm und seiner Frau zeigte, wie er mir später einmal erzählte. Diese Berufung Busonis im Jahre 1920 als Vorsteher einer Meisterklasse für musikalische Komposition an die Akademie der Künste in Berlin erfüllt mich noch heute mit ganz besonderer Genugtuung, denn obwohl sie zuerst von meinen Widersachern und Feinden als eine von dem Freund und Schüler des Meisters amtlich veranlasste 'Protektion' angegriffen wurde, erwies sich diese Berufung doch als grosser Erfolg, da Busoni sich seinen Schülern als Kompositionslehrer mit aller Hingabe und Verve widmete und auch sonst mit ihnen in freundschaftlich regem Verkehr stand, was ausserordentlich günstige Resonanz in der musikalischen Öffentlichkeit fand. Von seinen international berühmt gewordenen Schülern seien hier nur Philipp Jarnach, Wladimir Vogel und Kurt Weill genannt. Jarnach hatte später die grosse und verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen, Busonis letztes Opernwerk 'Dr. Faust', über dem er starb, zu Ende zu führen. Die letzten Lebensjahre Busonis waren jedoch nicht so glücklich, wie ich es mir nach seiner Berufung nach Berlin gewünscht hätte. Zu den Bedingungen, unter denen Busoni im Jahre 1920 seine Arbeit in Berlin annahm, gebörte das Versprechen, dass er alle seine ihm vertrauten Räume in seiner alten Wohnung am Viktoria-Luise-Platz wieder unverändert bewohnen könne. Doch die Berliner Wohnungskommission, die wegen der damaligen grossen Wohnungsnot alle überflüssig scheinenden Räume mit Beschlag belegte, machte ihm das Leben schwer. Ich hatte grösste Schwierigkeiten, bei der Kommission dies Versprechen aufrechtzuerhalten. Dazu kam sein körperlich schwer leidender Zustand, der von seinem behandelnden Arzt anfangs nicht ernst genug genommen wurde. Ohnedies war Busoni ein schwieriger Patient, der sich über alle Verordnungen hinweg setzte und lustig machte. Bis zuletzt trank er seinen Wein und rauchte seine Zigarren, bis er, 58jährig, am 27. Juli 1924, viel zu früh, starb, von mir bitterlich beweint. Sein Grab auf dem Friedenauer Friedhof in der Stubenrauchstraße, wird sorglich gepflegt, wie mir kürzlich mein Freund Dr. Hans Fischer schrieb, der es aufgesucht hatte. Meine Arbeit im Ministerium bestand hauptsächlich darin, für die vielen freigewordenen Stellen die geeigneten Kandidaten zu finden, also 'Musikpolitik' zu treiben, die sich am deutlichsten durch die diversen Berufungen deklarierte. In den musikgeschichtlichen Betrachtungen wirdim allgemeinen dieser Berufungspolitik nur geringe Beachtung eingeräumt. Zur Zeit der Kgl. Akademie der Künste und der Kgl. Hochschule für Musik bot allerdings die Berufungspolitik in Berlin, also zur Zeit von Joachim und Kretzschmar, wenig Problematik, da alles nach einer festgelegten Anciennitätsordnung verlief. Dieser Zustand änderte sich aber, als ich von 1919 an als Musikreferent die Aufgabe hatte, für die Besetzung der vielen offenen Stellen Vorschläge zu machen, mich über die traditionellen und konventionellen Bindungen hinwegsetzte und meine eigenen Wege ging. Meine Berufungspolitik ist denn auch von vielen Seiten kritisiert und angegriffen worden, ja bald war ich sogar als 'Musikdiktator' und 'Musikpapst' verschrien.
Besonders die Staatlichen Hochschulen für Musik in Berlin und Köln - mit Hilfe des damaligen Oberbügermeisters Adenauer war es mir gelungen, auch die letztere in diesen Rang zu erheben - exzellierten als international anerkannte musikpädagogische Institute durch die Qualität der einzelnen Lehrer und durch das hohe Niveau ihrer Gesamtleistungen. An die Berliner Hochschule wurden u. a. in das Lehrfach berufen: die Professoren Egon Petri, Artur Schnabel, Waldemar Lütschg, Leonid Kreutzer für die Klavierklassen, die Professoren Carl Flesch und Gustav Havemann für die Violinklassen, für Gesang Frau Prof. Lula Mysz-Gmeiner, Prof. Raatz-Brockmann und Prof. Daniel. In Köln wurde neben dem früher am Städtischen Konservatorium wirkenden Hermann Abendroth auch Walter Braunfels zum gleichherechtigten Direktor ernannt. Zu den schon amtierenden berühmten Lehrern wurden neue Kräfte hinzugezogen, so der Pianist Eduard Erdmann und der blutjunge Cellist Emanuel Feuermann, der leider sehr früh verstarb.
Viele Namen sind mir natürlich im Laufe der Jahre entfallen, so dass ich hier nur einige wenige aufzählen kann. Ähnliche Reformen und Neuberufungen wurden auch an den Staatstheatern in Wieshaden und Kassel und an den Staatlichen Musikinstituten in Königsberg und Breslau durchgeführt.
Nach dem Tode Busonis entstand die Frage des Nachfolgers. Es war für mich ganz selbstverständlich, dass nur eine ebenso überragende, im internationalen Musikleben von Freund und Feind allgemein anerkannte Persönlichkeit seinen Platz einnehmen konnte. Ohne auch nur einen einzigen anderen Namen zu nennen, schlug ich Minister Becker Arnold Schönberg vor und erhielt die Zustimmung, nach Wien zu fahren und die Verhandlungen mit Schönberg aufzunehmen. Diese Besprechungen wickelten sich reibungslos ab und führten zum gewünschten Abschluss. Schönberg begann alsbald seine Tätigkeit in Berlin als Vorsteher einer Meisterklasse für musikalische Komposition. Er machte auch den Versuch, in der Akademie der Künste Vorträge über die von ihm inaugurierte 12-Ton-Technik zu halten, allerdings ohne vor diesem konservativen Forum ein Echo dafür zu finden. Als Lehrer war Schönberg von vorbildlicher Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit und Grosszügigkeit. Seine Tätigkeit wurde im Jahre 1933 durch das Dritte Reich beendet.
Paul Bekker, der bekannte und bedeutende Musikschriftsteller, hat Busoni, Schönberg und Strawinsky als die Säulen der zeitgenössischen Musik für die Zeit der Jahrhundertwende bezeichnet.
Wie hat sich nun die Berufungspolitik von 1919 an vollzogen?
In der Akademie der Künste war nach dem Rücktritt von Richard Strauss nur eine Stelle besetzt, und zwar durch Prof. Georg Schumann, den bekannten Komponisten und Leiter der Singakademie. Richard Strauss hatte sich niemals für pädagogische Probleme interessiert und daher auf seine Tätigkeit im Rahmen der Akademie keinen besonderen Wert gelegt. Im Etat waren drei Stellen vorhanden, und für die eine hatte ich Busoni in Aussicht genommen. Für die 3. musste ich also einen Kandidaten präsentieren, der möglichst ein Gegenpol zu Busoni war. Ich brachte Hans Pfitzner in Vorschlag, der mir der beste Vertreter für diesen hohen Posten schien nach dem eklatanten Erfolg seines 'Palestrina'. Der Minister ging sofort auf diesen Vorschlag ein, und es war nicht schwer, Pfitzners Einwilligung zu erlangen. War es doch zum ersten Mal, dass eine staatliche Stelle daran dachte, ihn durch einen Lehrauftrag zu ehren. So konnte ich nun in einem Dreieck operieren zwischen Georg Schumann, Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner, wodurch unter diesen völlig diametral entgegengesetzten künstlerischen Persönlichkeiten ein gewisses Gleichgewicht hergestellt wurde.
Viel Kopfzerbrechen hat es mir gemacht, den geeigneten Direktor für die Hochschule für Musik in Berlin als Nachfolger von Kretzschmar zu finden. Zuerst dachte ich an Schillings, dann an Ernst Kurth in Bern, den Cellisten Hugo Becker, doch alle diese lehnten die Berufung ab. Schliesslich entschied ich mich dafür, dem Minister Franz Schreker vorzuschlagen. Dieser in Wien lebende Pädagoge und Komponist war schon damals sehr anerkannt und wurde von seinen vielen Schülern ausserordentlich verehrt. Seine Ernennung zum Direktor der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin fand zunächst allgemeine Zustimmung, die aber später einer gewissen Abkühlung Platz machte, da er begreiflicherweise seine pädagogischen Aufgaben weniger wichtig nahm als seine damals sehr erfolgreichen Opernkompositionen, deren bekannteste 'Der ferne Klang' und 'Der Schatzgräber' waren.
Ein besonders guter Griff war es, als ich schon im Jahre 1919 Georg Schünemann als stellvertretenden Direktor der Hochschule für Musik in Berlin vorschlug. Er war ein allgemein anerkannter, ungemein fleissiger Musikwissenschaftler, Musikkritiker und Schriftsteller [...]