Von Marlies Strech
Welcher Kontrast! Letzten September zeigte Heinz Spoerli mit dem Zürcher Ballett
seine Version von «La Fille mal gardée»: irdisch, lustig, farbig, leichtfüssig,
ein Handlungsballett, voller Oberflächenreize. Jetzt die abendfüllende Uraufführung
von «Der Sonne Leuchten ist ihr Kleid»: Mit der schönen Metapher sind Engel gemeint,
gute und böse; die Grundstimmung ist mythisch, düster, pathetisch. Der witzige Einfall
des Plakats - eine Frau, die auf dem Rücken zwei Reissverschlüsse trägt, weil darunter
Engelsflügel versteckt sind - verspricht einen poppigen Humor, auf den man lange
warten muss.
Atmosphärisch und auch in der Titelgebung erinnert «Der Sonne Leuchten ist ihr Kleid»
an Spoerlis früheres Werk «Und Farben, die mitten in die Brust leuchten» (Düsseldorf
1996, Zürich 1998): Dort stieg der manieristische Maler Pontormo jeweils über eine
Leiter aus seiner Turmklause in die Welt hinunter. Im Engel-Ballett treffen wir
einen «Sehnsüchtigen» (Iker Murillo), der vom Himmel auf die Erde will, um die Menschen
zu lieben; auf seinem Weg wird er vom «Dunklen» (Michael Rissmann) und anderen Figuren
- der engelhaften wie der menschlichen Art - bis aufs Blut bekämpft. Die Handlung
ist ziemlich wirr. Wer am Ende gut oder böse ist, bleibt weit gehend offen.
Männer im Angriff
Tänzerisch bildet «Der Sonne Leuchten ist ihr Kleid» ein Gemisch zwischen zeitgenössisch
und traditionell. Wobei der moderne Stil überwiegt und hauptsächlich den Männern
zugeordnet ist, während die Frauen sich meist neoklassisch bewegen. Nur selten huschen
Tänzerinnengruppen über die Bühne, und rar sind die Pas de deux zwischen Mann und
Frau. Karine Seneca bildet zusammen mit Dirk Segers ein mehrmals wiederkehrendes
Himmelspaar, innig verbunden, doch jenseits fleischlicher Lüste; Seneca zeichnet
bei aller Verschlungenheit grosse klare Linien, Segers wirkt als kraftvoller Begleiter.
Später holt die zierliche Yen Han den «Sehnsüchtigen» aus der Krise; bald wirken
die beiden schwerelos. Als Kontrast dazu ein Pas de trois: Ana Quaresma, hin- und
hergerissen zwischen zwei Männern, die widersprüchliche Kräfte verkörpern; eine
sichtbar leidende Tänzerin, deren Ballett-Tutu zum Stacheldrahtgewirr verkommen
ist.
Welches Geschlecht haben Engel? Sind sie androgyn, kindlich, weiblich, männlich?
In der deutschen Sprache ist der Fall klar, es heisst «der» Engel. Bei Spoerli auch.
Nicht nur die hellen und dunklen Engel sind überwiegend männlich, sondern auch die
Menschen - die sich leider kaum von Engeln unterscheiden lassen; eine Schwäche in
Spoerlis Konzept.
Die Tänzer reden in Zeichensprache, kämpfen, schwärmen herum, markieren mit ihren
Armen zuweilen Flügelschläge. Dann hechten sie über die Bühne, rollen hin und her,
schlagen luftige Purzelbäume. Sie schiessen wie die Nattern unter den Beinen anderer
hindurch - und rennen immer wieder jene Wand hoch, welche im Bogenschwung in die
Höhe führt. Rennen hoch, rutschen wieder ab, klammern sich fest oder bleiben wie
tote Insekten daran kleben. Ein eindrückliches, vitales Körperspiel - die Choreografie
überzeugt hier ebenso wie die Leistungen von Murillo, Rissmann, Juan Eymar, Akos
Sebestyén und allen anderen.
Eine weitere Parallele zwischen Engel- und Farbenballett: Beide bewegen sich auf
einem Musikteppich, in dem sich alte mit neuen Kompositionen kunstvoll vermengen.
«Und Farben, die mitten in die Brust leuchten» enthielt dabei viel Pergolesi. «Der
Sonne Leuchten ist ihr Kleid» sollte laut Spoerlis ursprünglichen Plänen ebenfalls
auf Pergolesi bauen. Davon liess er dann zwar ab, blieb aber dem Konzept vom Jahrhunderte
überspannenden Musikteppich treu.
So werden jetzt beide Teile des neuen Werks durch die sphärisch-wispernde, dann
wie Lichtstrahlen auf Gegenstände stossende Musik des 1959 geborenen Estländers
Erkki-Sven Tüür eingerahmt. Sie dominiert das Ganze. Dazu kommen Kompositionen von
David Lang, James Macmillan und John Adams aus jüngster Zeit, postminimalistisch,
postmodern. Als eine Art Leitmotiv ziehen sich sechs Lieder von Alban Berg durch
das Ballett, in der dramatischen Tongebung von Liuba Chuchrova. Gewissermassen als
Pergolesi-Ersatz folgt gegen Schluss die Passacaglia aus den Rosenkranz-Sonaten
von Heinrich I. F. Biber: Dieses barocke Violinsolo mit den schleifenden Doppelgriffen
meistert Gunar Letzbor ohne Furcht und Tadel. Auch das üppig besetzte Opernorchester
unter der Leitung von Christoph König läuft zu grosser Form auf.
Engels- und Teufelsflügel
Bühnenbildner Florian Etti - natürlich wirkte auch er schon beim Farbenballett mit
- hat ausser der weissen Bogenwand einige unauffällige Laufgitter und Treppen aufstellen
lassen, die gleichsam gen Himmel führen. Mit Engelsattributen gehen Etti wie auch
Kostümbildnerin Claudia Binder sparsam um. Einmal schweben zwei überdimensionierte
Flügel herein, auf denen sich die Tanzenden per Video spiegeln. Später tauchen vier
Figuren mit schwarzen Schwingen auf; man denkt dabei weniger an Engel als an Ku-Klux-Klan-Leute,
die ihre spitz zulaufenden Gesichtsmasken in Flügelpaare zerlegt haben. Engel und
Menschen tragen oft durchsichtige Kleider, auch lange geschlitzte Mäntel mit flatternden
Schössen.
Die wechselweise kalte und schwüle, in jedem Fall ernste Atmosphäre lockert sich
erst im zweiten Teil: Bei einer Party im Himmel, zu «Lollapalooza» von John Adams.
Da dürfen alle mal ausflippen, Show oder Swing ausprobieren. In der nachfolgenden
Passacaglia werden Tanzpaare in reflektierendes Gold und Silber getaucht. Spoerli
greift nochmals frühere Motive auf, verwebt sie miteinander, peitscht sie hoch,
mit untrüglichem Instinkt und Geschmack. Denkt man, bis die Schlussszene folgt:
Während es von der Rückwand schäumt wie in einer Waschmittelreklame, wird ein Engel
umgebracht. Merkwürdigerweise nicht der sehnsuchtsvolle, sondern der dunkle. Man
bindet ihn an einer Seilwinde fest - und nun pendelt der Kerl in der Luft, den Kopf
nach unten, Leib und Arme zum Kreuz geformt. O Herr Jesus.
Nächste Vorstellungen 21. und 25. 4., 4. 5.
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