Beziehungslos in Rolf Glittenbergs neuer Eiszeit: Eva Liebau, Michael Volle | (c) Zürcher Oper (Suzanne Schwiertz)
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Pelléas
und Mélisande" ist eines jener Werke, für die cum grano salis gilt, was Lessing
augenzwinkernd über Klopstock geäußert hat. Das Stück wird gern analysiert
und in seiner musikhistorischen Bedeutung gewürdigt. Sir Rudolf Bing, der
legendäre Manager der Metropolitan Opera, brachte jedoch die Einstellung
des Publikums auf den Punkt: In der Pause von Debussys Oper gingen die Leute
etwas trinken und kämen zum zweiten Teil nicht wieder.
Seit
Sonntag ist alles anders. Für diese Generation hat das Zürcher Opernhaus
"Pelléas und Mélisande" gerettet. Dem künftigen Wiener Team für Wagners "Ring
des Nibelungen", Dirigent Franz Welser Möst, Regisseur Sven-Eric Bechtolf
und dem Ausstatterpaar Glittenberg, gelang die Umwertung aller Werte. "Pelléas"
ist, das weiß man jetzt, das spannendste aller musiktheatralischen Psychodramen.
Man muss nur die Partitur genau lesen und den Text in seiner Vielschichtigkeit
plausibel machen.
Beides ist in Zürich geschehen.
Vor allem die musikalische Leistung ist stupend. Vom ersten Ton an wird klar,
dass Welser-Möst und das Zürcher Orchester nicht daran denken, sich in jene
liebliche Pastell-Welten zu flüchten, mit denen vordergründig aus dieser
heiklen Partitur so hübsche Effekte geschlagen werden können. Hier verschwimmt
nichts, hier werden die immer neuen, erstaunlich modernen Klang-Experimente
Debussys penibel realisiert, auch dort, wo statt eitel Wohlklang scharfe
Kontraste, grelle, ätzende, keuchende, schneidende Bilder entstehen, um Schlaglichter
auf die Befindlichkeit der handelnden Personen zu werfen.
Jede
Phrase, jeder Ton ist mit Energie, mit Ausdruck aufgeladen. Die Musiker formen
immer neue, intensive Steigerungswellen, am intensivsten dort, wo es ganz
leise zugeht, wo die Emotionen sich subkutan entfalten; unterdrückte, doch
immense Leidenschaften. Immer wieder reden die Personen in Maeterlincks Drama
aneinander vorbei, jeder für sich, ein Gegenüber meinend, das real nicht
existiert.
Da verknüpfen sich oft zwangsläufig
mehrere voneinander unabhängige musikalische Entwicklungen zu komplizierten
Klanggeflechten. Debussy wechselt die Beleuchtungen, nimmt Entwicklungen,
die jäh unterbrochen schienen, zuweilen wieder auf, als wären sie im Stillen
weitergewachsen und brächen mit unvermittelter Intensität plötzlich wieder
hervor.
Die Szenerie vermittelt die Paradoxa des
Werks, die klingend so unausweichlich erfahrbar werden, mit einer kongenialen
Bildsprache. Rolf Glittenberg stellt die Handlung in eine neue Eiszeit, das
Schloss ein kahler, grauer Bunker, die Natur von Schnee bedeckt, gefroren
- freilich, wie in Schuberts Winterreise schwellen die Fluten unter dem Eis
glutvoll.
Regisseur Bechtolf zeigt uns die Beziehungslosigkeit,
indem er die Figuren mit Puppen verdoppelt. In der Regel spricht mit einer
leblosen Kopie, wer zum andern zu reden scheint. Autismus. Seltene Momente
direkter Dialoge werden zu schmerzvollen Erfahrungen. Kaum je war die Doppelbödigkeit
von Maeterlincks Text so unmittelbar erfahrbar, wurde die Brutalität Golos
gegenüber der unglücklichen schweigsamen Frau so ungeschminkt sichtbar. Selten
auch hat ein Bühnen-Blick solche emotionale Kraft wie jener zwischen Pelléas
und Mélisande, wenn die Musik im entscheidenden Moment völlig verstummt:
"Ich liebe dich auch", flüstert Mélisande tonlos. Und was im Orchester immer
unausweichlicher zu werden drohte, je leiser die Klänge wurden, wird in der
absoluten Stille zum Orkan der Emotionen. Debussy
markiert hier den Gegenpol zur Klimax von Wagners "Tristan"-Duett; und in
Zürich lernt man, dass der ebenso aufregend, ja existenziell ist. Ein Wunder,
auch weil die Sängerbesetzung beinahe ohne Fehl und Tadel Musik wie Szene
zu erfüllen vermag. Gewiss hat Rodney Gilfry, gesundheitlich ein wenig angeschlagen,
Mühe mit den höchsten Tönen des Pelléas, ist vielleicht musikalisch eine
riskante Besetzung, weil dem Komponisten für seinen Titelhelden eher ein
tiefer Tenor als ein Bassbariton vorgeschwebt sein mag. Doch gibt Gilfry
den liebenden, zärtlichen, sensiblen Mélisanden-Bruder im Geiste so überzeugend,
dass manche ungerade Töne kaum ins Gewicht fallen.
Isabel
Rey ist eine warm timbrierte Mélisande, die ihre Emotionen optisch wie akustisch
hermetisch abzuriegeln weiß. Wir ahnen beständig, wie hoch es in dieser Seele
hergehen mag, doch erreichen uns nur zarte, behutsame artikulierte melodische
Schwingungen davon. Sie treiben den drängenden Golo von Michael Volle zur
Verzweiflung: Der Bariton setzt gegen die in seinen Szenen oft mächtig anschwellenden
Orchesterwellen ebenso mächtige ariose Entfaltungen, die stärksten Vokalmomente
der Aufführung jedenfalls.
Laszlo Polgar (Arkel)
und Cornelia Kallisch (Geneviève) runden das Ensemble ebenso wie Eva Liebau
als kleiner Yniold mit feinfühligen Schattierungen ab. So feierte "Pelléas"
seine Wiederauferstehung. Endlich kann man hören und sehen, dass Debussy
hier tatsächlich ein Schlüsselwerk der Musikgeschichte geschaffen hat.
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