Sachlichkeit und Sinneslust
Lebendiges Repertoire: Das Zürcher Ballett brilliert in «Igor» und «Josephslegende» von Heinz Spoerli
Kontinuität zahlt sich aus: Das Opernhaus Zürich und Ballettdirektor
Heinz Spoerli sind in der glücklichen Lage, eigene Stücke aus dem Repertoire
aufführen zu können. «Igor» und «Josephslegende» beweisen, dass Qualität
bleibt, auch wenn Geschmack sich wandelt.
• MARIANNE MÜHLEMANN
Der mächtige Unterarm eines Unsichtbaren mit ausgestrecktem Zeigefinger
greift aus dem lichtblauen Bühnenhimmel hinein in das dumpf intonierte Donnern
der Blechbläser des Orchesters der Oper Zürich. Der Ensembleklang ist spröde,
sperrig. Da gleiten blaue Kreaturen in den Raum. Männer mit gesenktem Kopf im
Rückwärtsschritt. Sie taumeln, fallen aus dem Lot, werden von Frauen in
ausladenden Spagatsprüngen eingekreist und aufgerichtet. Die Begegnungen sind
Konzept: Auch wenn sich Frau und Mann berühren, bleibt es ein abstraktes
Formenspiel. Linien wachsen zu Achsen, Reihen verschmelzen zu Kreisen,
Individuen wachsen zu Körperskulpturen parallel zu der Musik gewinnt das
Zusammenspiel an Profil, an innerem Fluss und Verbindlichkeit (innig der Pas de
deux im 2. Satz mit Ana Quaresma und Akos Sebestyen). Während sich alles
verändert, bleibt der Unterarm, die Hand am Himmel. Schützend und drohend. Sie
gehört nicht Gott. Auch nicht dem Ballettchef Heinz Spoerli, sondern «Igor», dem
das kurzweilige, 1984 im Stadttheater Basel uraufgeführte Werk gewidmet ist.
Bachsche Strukturen
«Igor» meint
Igor Strawinsky, jenen göttlichen Erneuerer, der in den Zwanzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts dem Tanz neue Impulse gab: Er orientierte sich an Johann
Sebastian Bach und gab dem Ballett zurück, was der Ausdruckstanz ihm genommen
hatte: Ordnung, Klarheit, Strukturen, Regeln und Sachlichkeit. Spoerli setzt in
«Igor» auf die gleichen Werte, imitiert intuitiv Bachsche Prinzipien und
verbindet sie mit seinem Personalstil.
Das Concerto
für Klavier und Blasorchester schrieb Strawinsky 1923/24. Es dauert 20 Minuten
und wurde wohl in erster Linie für den eigenen Gebrauch konzipiert: Strawinsky
verband mit dem Concerto die ehrgeizige Absicht, künftig auch als Pianist
aufzutreten. Da er sich seiner pianistischen Grenzen wohl bewusst war, liess
er allzu virtuose Passagen weg und vertraute auf die Kraft und Beweglichkeit
seines Akkordspiels, auf sein rhythmisches Standvermögen in unzähligen Taktwechseln,
Synkopen und Akzenten; nicht nur der Pianist Alexey Botvinov «downtown» im
Orchestergraben meisterte sie mit Bravour, sondern auch das Zürcher Ballett.
Sieg der Tugend
Heinz Spoerli setzt auf Kontrast: Das zweite, längere Werk
des Abends, die «Josephslegende» (Musik Richard Strauss) ist ein
Handlungsballett, das wegen der tänzerischen Gestaltung einer humanistischen
Idee des Sieges ehrlicher Tugend über unbeherrschte Sinneslust für
verschiedene Choreografen seit Mikhail Fokin zu einem beliebten Repertoirestück
wurde. Spoerli hat die «Josephslegende», mit dessen schwülstigem Opus sein
Vorgänger Bernd Bienert in Zürich eine harte Bruchlandung realisierte, bereits
1992 in Duisburg kreiert und uraufgeführt.
In der Neuinszenierung für das Zürcher Ballett tanzt der 31-jährige François
Petit die Rolle des 15-jährigen Hirtenbuben Joseph. Eindringlich weiss er die
Register seiner Darstellungskunst zu ziehen, indem er sich in allen
gestalterischen Höhen und technischen Hürden glaubwürdig in Szene setzt. Petit
sorgt nicht nur für tänzerische Höhenflüge («Tanz für Joseph»), sondern auch für
Natürlichkeit in einer gegen Schluss auch bei Spoerli etwas pathetisch geratenen
Inszenierung. Da gibt es viel ornamental-bewegtes Beiwerk, Girlandenarme und
Arabeskenschritte, Rauch und exotische, im Halbprofil à légyptienne
defilierende Sklavinnen-Schönheiten. Viel Leidenschaft und Ironie, etwa wenn
Spoerli eine originelle Boxerklasse in blutroten Folterknecht-Trikots in die
Szene schleust. Und da ist auch der sinnliche, homoerotische Engel (Dirk
Segers), der eigentlich viel zu irdisch wirkt, wenn er mit nacktem Oberkörper
aus den Wolken flügelt und den vermeintlichen Verführungssünder Joseph an der
Hand über die hollywoodeske Himmelstreppe entführt. Und die böse Verführerin,
Potiphars Weib (Karine Seneca), in die Hölle stösst. Ein hoch stehender Abend,
den man sich gerne ein zweites Mal ansieht und dem Orchester und seinem Leiter
Christoph König sei Dank anhört.
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Von den Brüdern verkauft: Joseph (François Petit) in Spoerlis «Josephslegende».
(Peter Schnetz)
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