Lieb und Leid und Welt und Traum


Die Stimme. Viele Sänger wurden mit diesem Beinahmen belegt, aber im zwanzigsten Jahrhundert gab es eigentlich nur zwei Künstler der klassischen Musik, auf welche die Bezeichnung vollkommen passt: Maria Callas und Dietrich Fischer-Dieskau. Die impulsive Griechin und der korrekte Deutsche. Selten haben Klischees so gestimmt. Sie war Wildheit, Verletzlichkeit, Kampf - die Kerze, die an beiden Enden brennt. Er war Solidität, Souveränität, Kontrolle, universelles Wissen - ein Fels in der Lied-Brandung. Sie war auch im Leben die Traviata, die vom Weg Abgekommene. Er war auch bei seiner tausendundersten schubertschen "Winterreise" ein in sich ruhendes Monument seiner selbst.

Und doch waren beide sich in ihrer Kunst ganz nah: weil sie Millionen von Menschen berührt, Tönen zu sehr besonderen Schwingungen verholfen haben. Sie vor allem in der Oper, er als Weltmeister des deutschen Kunstlieds, das in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit ihm zum Synonym verschmolz. The Lied, Le Lied - auch im Englischen und Französischen wird das Lied unter deutschem Namen gepflegt und geliebt, nicht zuletzt sein Verdienst.

Und doch war Dietrich Fischer-Dieskau weit mehr als ein professoraler Didakt. Man höre sich nur zwei seiner frühen Aufnahmen an, zwei Werke, zu denen er oft zurückgekehrt ist: die allererste von mindestens dreißig Einspielungen der "Winterreise" von 1948 aus dem RIAS-Archiv mit dem Pianisten Klaus Billing - und seine erste und definitive Version der romantisch-todsüchtigen "Lieder eines fahrenden Gesellen" unter Wilhelm Furtwängler von 1952. Als Wandersbursch bei Franz Schubert wie Gustav Mahler ist der 23- beziehungsweise 27-Jährige vokal von einer bestürzenden Weltverlorenheit, von einer tastenden Sensibilität und zugleich von einer wissenden Meisterschaft, die bei jedem Wiederhören fast zu Tränen rührt.

Man glaubt hier einem zu lauschen, der, noch nicht einmal volljährig, die Schrecken des Krieges an der italienischen Front erlebte und in Gefangenschaft geriert, der aber in genau jenem prototypisch deutschen Kulturgut des 19. Jahrhunderts, das die Nazis so schrecklich missbraucht hatten, seinen Trost und seine Gewissheit, seine Stärke und Existenzberechtigung fand. Er gab ihm eine wissende Unschuld zurück. Auch wenn er seinen Wärtern im Gefangenenlager die ganze deutsche Titelpalette vom "Erlkönig" bis zum "Vetter aus Dingsda" bieten musste.

Nicht umsonst ist Dietrich Fischer-Dieskau einer der ersten deutschen Künstler gewesen, die in Israel auftraten und dort von genau jenen Menschen geliebt wurde, denen die Deutschen die Heimat genommen hatten und denen er jetzt ihre Lieder als nachklingende Erinnerungen wiederschenkte. Er ist es auch gewesen, der 1962 an der Seite der Russin Galina Wischnewskaja und des Engländers Peter Pears hochsymbolisch Benjamin Brittens "War Requiem" in der neuen Kathedrale von Coventry uraufführte - die alte war von den Deutschen zerbombt worden. Da sang einer für das bessere Deutschland.

Dietrich Fischer-Dieskau, am 28. Mai 1925 geborener und behüteter Sohn eines schon 60-jährigen Zehlendorfer Gymnasialdirektors, dessen Vorfahren Johann Sebastian Bach 1742 seine Bauernkantate gewidmet hatte, und einer die Musik über alles liebenden Mutter, die ihm schon mit 16 eine Gesangsausbildung ermöglichte, war immer ein Künstler mit Sendungsbewusstsein. In der Oper, wo er bereits 1948 im Theater des Westens seinen ersten Marquis Posa in Verdis "Don Carlo" gab und seinen nachhaltigsten Triumph in der eigens für ihn komponierten Titelrolle von Ariberts Reimanns "Lear" erlebte. Vor allem aber natürlich im Konzert und im Lied. Keiner hat von kompletten Schubert-, Mendelssohn-, Brahms-, Schumann-, Wolf-, Mahler-Werkgruppen bis zu den entlegensten Einzeltiteln von der Barockzeit bis zur unmittelbaren Gegenwart ein ähnliches Erbe versammelt. Oft aus Enthusiasmus, bisweilen auch aus Sammelwut. Aber immer beeindruckend kompetent, sofort wiedererkennbar.

Wie nur wenige Künstler hatte er nach der von Deutschland ausgehenden Kriegskatastrophe die Chance einer Tabula rasa. Und er hat diese leere Fläche genutzt wie kein anderer. Auf der Bühne, im Konzertsaal, im Rundfunk wie in den Studios der aufblühenden Plattenindustrie - Dietrich Fischer-Dieskau, immer fleißig, immer neugierig, nach Grenzen suchend. Später hat er auch unterrichtet, gemalt, geschrieben, dirigiert. Der Drang zum Mehr-wissen-Wollen, Alles-verstehen-Können war bis zum Schluss da.

Er war schnell einer der ganz großen Stars seiner Zeit. 1964 erschien er als "Meistersinger" sogar auf einem "Spiegel"-Titel. Er war viermal verheiratet, darunter mit der Cellistin Irmgard Poppen, mit der er drei Söhne hatte, mit Ruth Leuwerik und seit 1977 mit der Sängerin Julia Varady. Doch er lebte eigentlich für seine Kunst, rastlos, ja manisch, fast gefräßig nach immer entlegenerem Repertoire greifend.

Dietrich Fischer-Dieskau verfügte über eine lyrisch-weiche Baritonstimme, mit vorbildlicher Diktion und charaktervollem Timbre, ideal für das Lied, für Mozart, für die großen Oratorien. Er hat dieses durchaus limitierte Material bis an die Grenzen und darüber hinaus genutzt. Er sang in Berlin, München, Wien, London, New York, Salzburg und Bayreuth. Er stand auch im italienischen Fach seinen Opernmann. Er war Mandryka und Barak, Wolfram und Wozzeck, hat Henze und Fortner uraufgeführt. Er gab Konzerte noch im hintersten Winkel der Musikwelt. Bis dann, spät und unvermittelt, in der Silvesternacht 1992, ein Münchner Konzert das letzte war.

Danach wurde Dietrich Fischer-Dieskau, der sich weiter streitbar zu Wort meldete, zum Denkmal seiner selbst. Bisweilen mürrisch, oft ungeduldig, wissend um das, was er geleistet hat und einer neuen Sängergeneration abforderte. Mehr und mehr sah er sich als ein Vollender, hatte Angst um den Fortbestand des Liedes. Seine Schüler lassen sich nicht zählen. Doch nur drei der bedeutendsten, Thomas Quasthoff, Matthias Goerne und Christian Gerhaher, verdeutlichen, dass dafür nicht nur im Baritonfach dafür kein Anlass zur Sorge besteht. Das leise Lied mag sich heute im lauteren seine Nischen suchen, von den Künstlern wird es weiter gepflegt. Auch für die ist Fischer-Dieskaus Lebensleistung Maßstab und Verpflichtung.

Jetzt ist diese einzigartige Stimme eines deutschen Jahrhunderts verstummt. Dietrich Fischer-Dieskau starb am Freitag, kurz vor seinem 87. Geburtstag, in seinem Starnberger Haus. Sein klingendes Erbe aber ist ewig, ist - so wie er es am Ende der "Lieder eines fahrenden Gesellen", schon fast jenseitsentschwunden, verkündet: "Alles! Alles, Lieb und Leid / Und Welt und Traum!"