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SVEN-ERIC BECHTOLF UND «DIE TOTE STADT»
VON ERICH WOLFGANG KORNGOLD


Testo pubblicato per gentile concessione della direzione della Dramaturgie
che il curatore di questa Web Site ringrazia di cuore.


© Opernhaus Zürich

«Ich traf » - so Julius Korngold in seinen Erinnerungen - «den Schriftsteller Siegfried Trebitsch auf der Strasse, und auf der Strasse gingen die ersten Pourparlers über die Operneignung dieses Stoffes vor sich, dessen sich auch der Operettenkomponist Leo Fall für seine Operninspirationen hatte bemächtigen wollen. Später erzählte mir Puccini, dass auch er, stark im Aufspüren starker Opernsujets, an diesen Stoff gedacht hatte. Sofort als Erich das Schauspiel in die Hände bekam, entwarf er das Szenarium für eine einaktige Oper, Aber Hans Müller, der Librettist der einaktigen (Violanta), riet dringend zur Flucht aus der Einaktigkeit und entwarf den ersten der drei Akten - in Prosa. Die Arbeit an seinen Schauspielen «Könige» und «Der Schöpfer» und erst recht deren Erfolg entfremdeten ihn jedoch dem undankbaren Librettistenmetier. Gerne entbanden wir den Freund, einigermassen auch durch seinen allzu wortreichen, wenig musiktauglichen Prosaentwurf erschreckt, weitere Mitwirkung.»

Es war dann Vater Korngold selbst, der unter dem bis über seinen Tod hinaus streng gehüteten Pseudonym Paul Schott zusammengesetzt aus dem Vornamen des männlichen Hauptdarstellers der «Toten Stadt» und des Schott-Verlages, der die Werke Korngolds herausbrachte - zusammen mit seinem Sohn das Libretto verfasste. Dabei erfuhr die ganz dem belgischen Symbolismus und der Décadence des Fin de siècle verhaftete Vorlage eine wesentliche Änderung, die sie in das Wien Sigmund Freuds versetzte: Die bei Rodenbach als - innerhalb der Geschichte - real geschilderte Ermordung der Tänzerin wird im Opernlibretto zur Traumhandlung erklärt.

Das hat weitreichende Konsequenzen, und diese sind es, die Regisseur Sven-Eric Bechtolf interessieren. Denn im Unterschied zu Rodenbachs Roman haben wir es in der «Toten Stadt» mit einer regelrechten psychologischen Fallstudie zu tun, in der die Traumsequenz den grössten Teil der Handlung einnimmt und letztlich zu einem zumindest offenen Ende führt. Schon mit dem ersten, exaltierten Auftritt Pauls wird evident, dass wir einen «aus dem seelischen Gleichgewicht gebrachten Helden» (E. W. Korngold) vor uns haben, der - wie wir aus dem einleitenden Gespräch seiner Haushälterin Brigitta mit Pauls herbeigerufenem Freund Frank erfahren - nach Jahren des Totenkultes um seine verstorbene Frau Marie plötzlich ein sonderbares Gebaren an den Tag legt. Seine sprunghafte, durchaus auch aggressive Haltung lässt einen krankhaften Charakter vermuten. Im Dunkeln bleiben die Umstände des Todes seiner Frau wie auch die Gründe, die ihn zum. Rückzug in die «Kirche des Gewesenen» - so nennt er den Raum, in dem er die Andenken an seine Frau aufbewahrt - veranlasst haben. Besorgt beobachtet Frank seinen Freund, der ihm von einem Wunder berichtet: Seine Tote ist zurückgekehrt, er hat sie in den Strassen von Brügge getroffen und zu sich eingeladen. Hellsichtig diagnostiziert Frank: «Zu lang warst du allein, dein Blut murrt gegen diese Trauer. Seis drum, umarm eine schöne Frau, doch Tote lass mir schlafen.» Damit ist der Konflikt, in dem sich Paul befindet, auf den Punkt gebracht - Sehnsucht nach Leben versus die selbstauferlegten Restriktionen gegenüber der Toten.

In einer 1995 erschienen Studie schreibt Josef Breuer über dieses Phänomen, es trete auf, wenn «gleichwertige Vorstellungen unvereinbar mit einander sind;... wenn der Conflict besteht zwischen dem festen anerzogenen Complex der moralischen Vorstellungen und der Erinnerung an eigene Handlungen oder auch nur Gedanken, welche damit unvereinbar sind: Die Gewissensqual.»
Pauls Begegnung mit der vermeintlich wiederauferstandenen Marie in Gestalt der Tänzerin Marietta lässt diesen Konflikt eskalieren. So heisst es in einer Regieanweisung: «Paul, erst befremdet und abgestossen durch das bacchantische Gehaben Mariettas, dann immer mehr der Verführung erliegend, seiner nicht mächtig, ein Opfer der Sinne.» Doch noch einmal obsiegt die Stimme des Gewissens, Marietta verlässt ihn mit dem Versprechen: «Es gibt ein Wiedersehen im Theater.» Der allein gebliebene Paul vermeint die mahnende Stimme seiner toten Marie zu hören, versichert sie seiner ewigen Treue, dann schiebt sich Mariettas Bild vor Marie und nun beginnt eine «Traumarbeit», die verblüffend genau den damals aufsehenerregenden Entdeckungen Freuds folgt. In seiner eben erst erschienenen Studie «Durch den Traum zum Leben. Erich Wolfgang Korngolds Oper (Die tote Stadt)» zeigt Arne Stollberg in einer detailreichen Analyse auf, dass die Partitur des erst 23jährige Korngold subtil bestimmte Mechanismen der von Freud erforschten Traumarbeit musikalisch umsetzt.

In seiner Inszenierung will Sven-Eric Bechtolf zeigen, dass die Visionen, die Paul nun bedrängen, aus dem «realen» Geschehen des ersten Bildes ableitbar sind, denn nur hier können innerhalb der Oper jene Auslöser gesucht werden, die seinen Traum bestimmen und die vom Bewusstsein verdrängten psychischen Triebkräfte an die Oberfläche dringen lassen - ein Verfahren, dessen sich auch August Strindberg in «Ein Traumspiel» (1917 erstmals in Wien aufgeführt) bediente.

In der Vorbemerkung zudem 1901 entstandenen Stück schreibt Strindberg, er habe «versucht, die unzusammenhängende, doch scheinbar logische Form des Traumes nachzubilden. [...] Auf einer geringfügigen Grundlage von Wirklichkeit entfaltet sich die Phantasie und webt neue Muster: Eine Mischung aus Erinnerung, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen. Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, verflüchtigen sich, verdichten sich, zerfliessen, nehmen wieder Gestalt an. Aber ein Bewusstsein steht über allem, das des Träumenden.»

Den Abgründen, die sich auftun beim «Aufsuchen der Nachtseiten des Seelenlebens», beim «Schürfen in der 'nervösen Schicht'» (Julius Korngold) ist derjunge Komponist keineswegs aus dem Wege gegangen; im Gegenteil lassen die im Traum zugelassenen Phantasien für den Regisseur Rückschlüsse auf die 'reale' Geschichte zu. Von daher sind ihm die nur äusserlichen, an Brügge gebundenen Szenenanweisungen unwesentlich, lenken sie doch - absichtsvoll? -von den so konsequent ausgeleuchteten und auskomponierten psychologischen Vorgängen ab.