DIE BIOGRAPHIE
VON ALEXANDRA CAROLA GRISSON


ERMANNO WOLF-FERRARI WEBSITE


IV. Kapitel

Der Vater. Abstammung der Mutter.
Einwirkungen der Eltern auf den Sohn.


Das Groß elternpaar Wolf hatte sechs Kinder. Lauter Knaben. Das vorletzte ist der Sohn August, Ermannos Vater, am 20. April 1842 in Weinheim an der Bergstraße geboren. Er lernt die Musik als Zuhörer lieben, und zwar durch seine Mutter, wenn sie Klavier spielt. Am liebsten wäre er Musiker geworden. Leider reichen dazu die Mittel eines Dorfpfarrers nicht aus, der unter Opfern schon zwei älteren Söhnen die Universitätsbildung ermöglicht hatte.
Die große Familie muß sich einrichten, und so bleibt es August Wolf versagt, Klavier spielen zu lernen. Seiner unmittelbaren Empfänglichkeit für Musik tut jedoch dieser Umstand keinerlei Abbruch. Vielmehr enthüllt sie in der Art, sich zu äußern, geradezu schöpferisches Geschehen, das sich auf Ermannos Entwicklung als eine Wirkung von einschneidender Bedeutung erweist, worüber wir später noch hören werden.
August Wolf wurde zunächst Goldschmied. Acht Jahre lang arbeitete er in Heidelberg als Lehrling und Geselle bei Trübner, dem Vater des berühmten Malers Wilhelm Träbner. Eines Tages empfing August Wolf ein Erlebnis von einschneidender Bedeutung, was seinem Lebensweg endgültige Richtung gab. Es geschah während des Lesens der wundervollen Selbstbiographie des im Jahre 1500 geborenen Italieners Benvenuto Cellini, jene Entwicklung vom Goldschmiedmeister zum Bildhauer, die Goethe 1803 ins Deutsche übersetzt hatte. Aufs tiefste davon beeindruckt, beschloß er, ebenfalls Künstler zu werden, und zwar Maler, wozu ihn noch das Vorbild des jungen Wilhelm Trübner anregte.
Benvenuto Cellini ist übrigens der Held und Namensträger jener 1838 zur Aufführung gelangten Oper von Berlioz.
Das Düsseldorfer Akademiestudium für August Wolf bestritt sein älterer Bruder Hermann, der Arzt geworden war. Als seine Lehrer nannte Ermannos Vater den Schüler Schwantalers, August von Kreling, geb. 1819, gest. 1876, berühmt geworden durch seine Faustillustrationen. Ferner Hans Canon, der eigentlich Johann von Straschiripka hieß und von dem er ganz besonders begeistert sprach. Hans Canon war übrigens auch der Lehrer Wilhelm Trübners. Er war 1829 in Wien geboren und starb daselbst im Jahre 1885. Seinen Stil schulte er an den großen Meistern, wie Rubens und den Venezianern. Canons bedeutende Figurenkompositionen trugen ihm hohen Ruhm ein.
Erwähnt sei noch Julius Schnorr von Karolsfeld (Vater des ersten Tristansängers). Er war zu August Wolfs Studienzeit in Düsseldorf Direktor an der Akademie.

August Wolf wurde vor allem berühmt durch seine hervorragenden Kopien italienischer Meister. 25 davon können wir in der Münchener Schackgalerie bewundern, darunter ein Votivbild aus Anlaß der «Schlacht von Lepanto» von Paolo Veronese. Das Original befindet sich im Dogenpalast zu Venedig. Ferner kopierte August Wolf drei Gemälde von Tintoretto, drei von Tizian und fünf von Giorgione.
Graf Schack schreibt über August Wolf: «
Im Frühjahr 1870 kam mir eine vortreffliche Kopie zu Gesicht, die ein junger Maler aus Baden, August Wolf, in Dresden gefertigt hatte. Sie besaß in hohem Grade jenes undefinierbare Etwas, was erst die Seele des Kunstwerks ausmacht und das der bloße Fleiß selbst mit der größten Anstrengung zu erreichen sich vergebens bemühen würde. Gerade von der Wärme und Liebe, mit welcher Wolf seinen Tizian durchdrungen hatte, legte jeder Pinselstrich auf seiner Kopie Zeugnis ab, und ich nahm dieselbe nicht nur in meine Galerie auf, sondern knüpfte auch an ihren Urheber den Plan zu weiteren Unternehmungen.

Bei mehreren langen Aufenthalten in Venedig und Reisen durch das venezianische Gebiet hatte ich entdeckt, daß dieser Teil Italiens noch übervoll von den vortrefflichsten, meist wenig bekannten Gemälden ist. Ich dachte, wenn es möglich wäre, eine Anzahl solcher Gemälde, die an den Stätten, wo sie sich befinden, den Blicken fast gänzlich verborgen sind, durch gute Kopien der Betrachtung zugänglich zu machen, so würde hierdurch der Kunst ein Dienst erwiesen werden.
Allerdings waren die Schwierigkeiten, dies ins Werk zu setzen, außerordentlich groß; in manchen Fällen ließ es sich überhaupt nur ausführen, wenn das Bild zeitweise von seinem dunklen Platze entfernt wurde; in anderen konnte die Aufgabe nur unter Bekämpfung riesiger Hindernisse gelöst werden.
Ich besprach dies alles mit Wolf; er war ganz erfüllt von der Größe des zu vollbringenden Werkes. Bei dem Gedanken daran regte sich oft in ihm Mißtrauen in seine eigenen Kräfte; allein er war jung, voll Begeisterung, und der Trieb, etwas Tüchtiges zu leisten, siegte über die Zagnis. So reiste er im Sommer 1870 nach Venedig ab, gerade als das Kriegsgewitter drohend über Deutschland aufstieg.
Wolf inzwischen ließ sich durch kein Hemmnis, selbst nicht durch ein unbesiegbar scheinendes, zurückschrecken. Wenn ihn ein Werk mächtig anzog, wenn er meinen Wunsch, es nachgebildet zu sehen, kannte, machte er sich rüstig an die Arbeit und führte dieselbe mit einer Beharrlichkeit zu Ende. Mochte das graue Dämmerlicht, das durch die Kirchenfenster hereinzitterte, ihn das Bild auch nur wie durch einen Schleier erkennen lassen, mochte sein Auge auch von der unaufhörlichen Anstrengung ermüden, seine Hand, von dem Frost des Dezembers erstarrt, auch nur mit Mühe den Pinsel halten können! In den allermeisten Fällen, da, wo die Umstände nur einigermaßen günstig waren, hat er Bewundernswertes geleistet.»
Besondere Anerkennung zollt Graf Schack August Wolf für seine Kopie der «Madonna mit Heiligen» von Giovanni Bellini (das Original befindet sich in der Sakristei von Santa Maria Gloriosa de' Frari). Graf Schack schreibt hierüber:
Das Kopieren dieses Gemäldes, das die Sakristei der Frari aufbewahrt, wurde ungemein dadurch erschwert, daß dasselbe nicht von Ort und Stelle entfernt werden durfte; seine Stellung gegen das Licht ist überaus ungünstig, und den größten Teil des Tages hindurch liegt Dämmerung, bei trübem Wetter fast Nacht auf ihm. Wolf, während seiner Arbeit unter so ungünstigen Umständen oft beinahe verzweifelnd, hat von früh bis spät auf dem Altar stehend und die vorteilhafteren Momente sorgfältig benutzend, schließlich ein höchst glückliches Resultat erzielt. Wer dieses wonnige, den Beschauer mit dem Gefühle innigster Seligkeit erfüllende Bild in meiner Galerie betrachtet, ahnt wohl nicht, wie viele Stunden des Bangens und Zweifelns bis zu seinem Zustandekommen verflossen sind, wie viele Sorgen und Mühen es gekostet hat.
Des Vaters künstlerische Gabe hat sich, was wohl nur wenigen bekannt ist und später noch ausführlicher behandelt wird, auch auf den Sohn Ermanno in stärkstem Maße vererbt. Das sehr ähnliche und künstlerisch wertvolle Porträt, das der 16jährige Ermanno von seinem Vater zeichnete, gibt uns sowohl vom Standpunkt wissenschaftlicher Physiognomik wie auch vom intuitiven Erfassen aus bedeutsame Aufschlüsse über August Wolfs Persönlichkeit. Schon der erste Blick zeigt, daß wir es mit einem ideal veranlagten, geistigen und edlen Mann zu tun haben. Dieses groß angelegte Antlitz, offenbart es nicht Kraft, Wille zur Gründlichkeit, Ringen nach Wahrheit, Durchleuchtetwerden von einer Idee und Unermüdlichkeit, in der Arbeit sein Bestes zu geben? Solche rechtschaffenen und tiefbesaiteten Naturen, die in strenger Geradlinigkeit ihres Weges sich selbst wenig Ruhe gönnen, werden oftmals von ihrer Umgebung nicht ganz verstanden, ja zuweilen als unbequem und problematisch empfunden. Indessen werden sie nie etwas vom anderen verlangen, was sie nicht selbst zu geben bereit sind.
August Wolf besitzt eine Überlegenheit des Herzens, die dem unaufdringlichen Frommsein nahe verwandt ist. Wo er Veranlassung hätte, Mißfallen zu äußern, läßt er sich durch innerste Güte bestimmen und verzeiht, wo er nicht einmal verstehen kann.
Wir erleben, wie geheimnisvolles Walten höherer Kräfte unter dem Gesetz göttlicher Ordnungen diesen kernigen Mann instinktiv nach seinem Gegenpol suchen - und ihn finden läßt. Fügung ist es, daß August Wolf vom Grafen Schack nach Italien geschickt wird, daß seine schönheitsdurstigen Augen beim Anblick der reizvollen Emilia Ferrari Feuer fangen, sein Herz sich entzündet - und sie seine Frau wird.
Von ihren Eltern muß sie sehr wenig gewußt haben, was begreiflich ist, da sie früh Waise wurde. Ihren Vater verlor sie noch vor ihrer Geburt. Er starb, 35jährig, an der Cholera während der Belagerung Venedigs 1848 durch die Osterreicher. Ihr Großvater väterlicherseits, so erzählte sie, war als junger Mann von Bergamo nach Venedig gekommen und ließ sich hier nieder.
Emilia Ferraris Familienangehörige waren zumeist Kleinhändler, die in ihren Lebensäußerungen eine durchaus realistische Auffassun- vertraten.
Im Hofe des Dogenpalastes, rechts beim Eingang, noch an seiner alten Stelle, ist ein Riesenschreibtisch zu sehen, an dem Emilias Großvater mütterlicherseits als letzter der «Scrivani publici» seinen Beruf ausübte. Diese öffentlichen Schreiber waren zu seiner Zeit, da noch kein Schulzwang bestand, höchst begehrte und notwendige Personen. Sie beherrschten die hohe Kunst des Schreibens (damals war es noch eine solche) und ließen sich von Leuten aus dem Volke, die dessen unkundig waren, Briefe diktieren und, wo es nottat, setzten sie auch solche auf. Meist an einem Schreibtisch auf der Straße sitzend, wie es heute noch im Orient Brauch ist, füllten sie mit dieser regen Tätigkeit vollkommen einen Beruf aus.
Dieser Großvater Emilias stammte aus Dalmatien, wurde aber trotz seines italienischen Namens Benvenuti im Hause der «Nonno Schiavon» genannt, was «slawischer Großvater» bedeutet: denn die Venezianer der Republikzeit pflegten die Dalmatiner mit «Schiavoni» zu bezeichnen. (Man denke an die Riva degli Schiavoni.)
Emilia Ferrari ist am 18. April 1849 zu Venedig geboren. In ihrem Außeren, mehr noch als in ihrem Wesen, verkörpert sie die beschwingte Leichtigkeit und Anmut Italiens und im besonderen ihrer Geburtsstadt.
Sie ist eine durch Gefühle und Stimmungen bewegte Natur, sehr lebhaft und leicht erregbar. Das Leben sieht sie aus erdhafter Nähe an; dadurch ist sie dem Dienen für eine höhere Idee verschlossen. Sicherlich hat der zielbewußte Schritt im Lebensrhythmus ihres Gatten ihrem Herzen oft heimliche Seufzer entlockt. Sie befürchtet, er werde durch die ihn ganz ausfüllende Arbeit seine Naturhaftigkeit verlieren. Bücher, in die er sich hineinvertieft (er schwärmt für den Marquis von Posa, für Wolfram von Eschenbach), empfindet sie als stumme Feinde! Sie schlagen seinen Geist in Bann, entführen ihn in Gefilde, die ihrem Wesen fremd bleiben. Innere Heiterkeit geht ihr ab.
Schwer mag sie es gehabt haben ohne dieses nie versagende Mittel für ein wohltemperiertes Gemüt.
August Wolf, nach außen eher ernst wirkend, besaß diese Heiterkeit, und zwar in jener Form von innerlich gutem Wetter, das jede Erdenschwere aufhebt.
Emilia Ferrari ist ihren fünf Kindern, von denen Ermanno das älteste war, eine vorzügliche Mutter gewesen. Sie hüllt ihre Kinder in Wärme und Fürsorge ein, lacht und weint mit ihnen und will, daß sie glücklich sind.
Für die Musik bringt sie eine unverbildete Fähigkeit zur Freude mit. Sie liebt Klangschönheiten und Rhythmus, ohne indessen zu einem tieferen Erleben der Musik zu gelangen.
Emilia Ferrari ist nie eine Deutsche geworden - wie August Wolf niemals Italiener wurde. Diese Wesenstreue erzeugte die einzigartige Mischung, die im Sohn Ermanno zur Blüte kam und das Genie in ihm entfaltete.
Ewiges Wunder aus Gottes Schöpfung, vor dem sich das Herz in Demut und Ehrfurcht erhebt! Du führst Deine Geschöpfe zueinander, daß sie sich in Liebe finden, damit ein Drittes aus ihnen werde und über sie hinauswachse!
Spürt man der Wirkung nach, die die Eltern Wolf auf ihre Kinder ausüben, dann kommt man zu dem Schluß, die Mutter beeinflußte durch ihr bloßes Dasein die Kinder, während der Vater ihre Entwicklung mit ganzer Hingabe seines von Idealen durchfluteten Wesens stützte.
Als Vorbild, Erzieher, Berater, Freund und Anreger hütete er mit frommer Wachsamkeit ihre Begabungen und schenkte ihnen in selbstloser Einsicht Entfaltung.
In einem Gespräch, das ich mit Ermanno Wolf-Ferrari hatte, äußerte er folgendes: «An Interesse für meinen Weg verdanke ich meinem Vater alles. Er hatte ein unglaublich tiefes Gefühl für Musik - als Seelenoffenbarung. Ich bin nie, auch viel später nie, einem solchen Menschen begegnet, der die Rede der Musik auf solche Weise auf sich wirken lassen konnte und so darauf reagierte. Da mein Vater jung nach Italien gekommen war, womit er jeden Musikgenusses verlustig ging (damals gab es in Italien noch keine Konzerte, in Venedig erst recht nicht; kein Mensch wußte in meiner Kindheit etwas von Beethoven - ja man fürchtete deutsche Musik!), so kann ich sagen, daß ich durch meinen Vater den Geist der Wiener Klassiker in Reinkultur überliefert bekam, als habe er ihn gewissermaßen in Spiritus bewahrt. Dies geschah mir in ganz jungen Jahren, immer in unmittelbarer, warmherzigster Nähe meines Vaters, der eigentlich mein Musiklehrer war, ohne selbst Musiker zu sein. Er machte mich aufmerksam auf Formcharakteristiken bei Beethoven, zum Beispiel, wenn er gegen Schluß eines Satzes plötzlich langsam wird, in entfernte Tonarten moduliert, eine rhetorische Pause hält und rasch heftig schließt. Er verglich dies mit den Formen eines großen Redners. Unkundig der Noten, wußte er nichts Technisches, um so mehr aber Wesentliches darüber zu sagen.»
Als Ermanno mit neun Jahren in großem Bekanntenkreis Beethoven spielt (es war in Venedig), sind die Zuhörer entzückt, und das Wundern und Staunen will kein Ende nehmen. Auf daß aber der junge, geniale Spieler nicht eitel werde, biegt Vater Wolf mit feinem Takt das persönliche Lob für seinen Sohn ab, indem er ausruft. «Und ihr fragt gar nicht, wer das komponiert hat?!» - «Dadurch wurde ich selbst auf das Wesentliche gewiesen», äußerte Wolf-Ferrari, als er mir diese Episode erzählt hatte.
Am 19. Februar 1915 beendete August Wolf sein segens reiches und von künstlerischem Schaffen ausgefülltes Leben.
Nicht nur, was er der Nachwelt als Maler geschenkt hat, danken wir ihm - darüber hinaus sei ihm für immer unvergessen, was er für seinen Sohn Ermanno bedeutet hat!
Emilia Wolf, geb. Ferrari, starb im 90. Lebensjahr am 29. Januar 1938 in Venedig. Dort hat sie bis zu ihrem Tode gelebt. Bis in ihr hohes Alter hinein war sie ein Phänomen an Lebenskraft und geistiger Frische.
Ermanno besuchte seine Mutter jedes Jahr mindestens einmal. Da gab es Tage der Sonne und des Glücks am Lebensabend der alten Frau. Aber leider fürchtete sie sich immer etwas vor Ermanno. Er wußte nicht warum, noch war es zu ändern, so peinlich es ihm war. Indessen war sie unendlich stolz auf ihren großen Sohn und konnte ihrem Schöpfer nicht genug danken, daß es ihr vergönnt war, seine leuchtende Ruhmesbahn miterleben zu dürfen.