Er
war nie unumstritten. Wollte es wohl auch nicht sein. Respekt aber, gegenüber
seiner Arbeit und seiner Person, den forderte er von jedem, der sich ihm
näherte. Und im Idealfall genoss er es, geliebt zu werden: von seiner Familie
sowieso, aber auch von Freunden, Kollegen, und natürlich von seinem Publikum.
Einem Publikum, dem das ganze Konzentration vermittelnde Gesicht seines Dirigenten
mittlerweile so vertraut war, dass es hinter diesem Ausdruck den verletzlichen
und überaus selbstkritischen Menschen Giuseppe Sinopoli ahnen konnte. So
wie Sinopoli selbst hinter jeder Opernfigur etwas vermutete und nicht Ruhe
gab, bis er wusste, was es war. Schließlich konnte man einem, der in seiner
Doktorarbeit den Grenzbereich zwischen Medizin, Kriminologie, Anthroposophie
und Psychatrie zum Thema erhob, so schnell nichts vormachen.
Nicht einmal sich selbst. Deshalb brauchte Giuseppe Sinopoli auch länger
als andere, um seine Bestimmung in der Welt der Musik zu finden und sich
mit ihr als Lebensaufgabe zu identifizieren. Dem Musik- und Medizinstudium
stand nämlich gleichzeitig ein Kompositionsstudium bei Franco Donatoni zur
Seite. Und so lautete die Frage, die sich Arzt, Psychologe, Komponist und
Interpret in der Personalunion Giuseppe Sinopolis von Anfang an stellten:
Was passiert mit unserer Psyche, wenn wir Musik hören? Kein Wunder, dass
es den jungen Herrn Doktor bald nach Wien trieb, in die Stadt Sigmund Freuds
und der Vertreter der Zweiten Wiener Schule - der Trias Schönberg, Berg und
Webern.
Mit seinem Interpretationsanspruch und einem Dirigierstudium bei Hans
Swarowsky begab sich Giuseppe Sinopoli hier auf die Suche nach seiner Musik,
jener Musik, die seinem Charakter am stärksten Ausdruck verleihen konnte.
Und fand sie zunächst an zwei entgegengesetzten Punkten der Musikgeschichte:
in der radikalen Neuinterpretation von Opern des frühen Verdi auf dem einen,
in eigenen Kompositionen mit solch klangvollen Namen wie "Symphonie imaginaire"
oder "Tombeau d'Amour" auf dem anderen Ende der Skala. Und in seiner Oper
"Lou Salomé". Die Faszination, die von dieser bemerkenswerten Frau ausging,
zu deren engsten Freundes- und Bekanntenkreis Friedrich Nietzsche und Rainer
Maria Rilke zählten, reizte den Psychologen und Musiker Sinopoli gleichermaßen:
Denn seine Oper handelt von der Angst der Lou Salomé, sich selbst zu erkennen,
"in einer Abfolge von Bildern, die unterschiedliche Momente aus dem Leben
Lous einfangen" und dies in einer Musiksprache, die jede Geste und jedes
Wort mit einer heftigen Emotionalität ausstattet. Dabei ziehen die Begegnungen
mit den historischen Personen wie ein Band mit Musikzitaten aus der Tradition
der deutschen Romantik an uns vorbei. Aus dieser 1981 in München uraufgeführten
Oper veröffentlichte die Deutsche Grammophon 1988 zwei Suiten unter der Leitung
des Komponisten und mit Lucia Popp sowie José Carreras als Solisten. Aus
gegebenem, traurigem Anlass sind sie nun wieder erhältlich und ein Muss für
jeden, dem der Musiker und Mensch Sinopoli am Herzen liegt.
Wien aber war und ist auch die Stadt Hugo von Hofmannsthals gewesen. Jenes
Dichters, der die tiefenpsychologische Durchdringung der Figuren zu seinem
Thema und die Schönheit der Sprache zu seinem Prinzip erhoben hatte. Und
der in dem Komponisten Richard Strauss den idealen Tonsetzer seiner Texte
gefunden hatte. Wann aber Giuseppe Sinopoli auf das Duo Hofmannsthal/Strauss
stoßen würde, war nurmehr eine Frage der Zeit. Mit "Die Frau ohne Schatten",
Hofmannsthals schwieriger Hommage an Mozarts "Zauberflöte", feierte Sinopoli
Triumphe an der Dresdner Semperoper. Mit seiner Lesart von "Elektra", Hofmannsthals
genialer Sophokles-Adaptation und Strauss' radikalster Partitur, schlug Sinopoli
1997 auf Deutsche Grammophon eine neue Seite in der Interpretationsgeschichte
dieses viel interpretierten Werkes auf. "Ariadne auf Naxos" schließlich,
Hofmannsthals und Strauss' brillante Mixtur von barocker Commedia dell'Arte
und Opera seria im neoklassizistischen Tonfall des frühen 20. Jahrhunderts,
wird nun zum diskografischen Schwanengesang des Dirigenten Giuseppe Sinopoli.
In der Nacht zum 20. April, dem Tag seines unerwarteten Todes, gab er diese
Aufnahme zur Veröffentlichung frei. Vielleicht wird die Rezeption von Sinopolis
klingendem Nachlass nicht unumstritten sein. Sie sollte aber geprägt sein
vom Respekt gegenüber seiner individuellen Lesart. Am besten jedoch von der
Liebe zu einem großen Musiker.