Wo von neuer Musik die Rede ist, da wird auch immer der Name des Mannes genannt werden, der - ebenso wie Arnold Schönberg - ein Symbol höchsten, persönlichsten Künstiertumes ist: Ferruccio Busoni [Während der Drucklegung dieses Buches kommt die Nachricht vom Tode des Meisters. Die musikalische Welt hat in Ferruccio Busoni einen ihrer unersetzlichsten Geister verloren]. Seine edle, kulturvolle Geistigkeit, allen schöpferischen Kräften zutiefst verbunden, war begabt mit dem hellseherischen Schauen des Genies. Auch er wirkte durch Beispiel und Tat auf einen ganzen Kreis von Schülern und Freunden. Er, der in sich einen Ausgleich zwischen dem Romanen- und Germanentum erstrebte, fühlte sich gleichwohl der deutschen Musik, vor allem aber Bach und Mozart, aufs innigste verknüpft. Zeuge dafür ist seine ungeheure Fantasia contrappuntistica für Klavier. Dieses Werk, gedacht als Erfüllung der letzten kontrapunktischen Probleme, über denen der alte Bach starb, wächst in seiner riesenhaften, doch unendlich subtilen gotischen Architektur vor uns auf wie ein zyklopischer Bau. Echte Monumentalität lebt auch in dem Klavierkonzert mit Männerchor. Die Zusammensetzung des Werkes könnte wohl anfangs merkwürdig erscheinen, bei näherem Zusehen wird man aber finden, daß ihm ein wohlüberlegter Plan zugrunde liegt, daß eine Idee ihm Halt und Rückgrat gibt. Das Ganze ist ein Hymnus, der - langsam in prächtigen Kurven ansteigend seine letzte Auswirkung und Krönung in dem nach ekstatischen Worten des dänischen Dichters Oehlenschläger von Männerstimmen gesungenen Schlußchor findet. Ganz organisch, wie selbstverständlich löst sich am Schluß das gesungene Wort aus dem instrumentalen Bau heraus, damit erst den durchmessenen Kreis befriedigend abrundend. Gleich der feierliche, das Konzert eröffnende 'Prolog' stellt den hymnischen, überschwänglichen Grundton des Ganzen fest, der dann auch bis zum Ende mit bewundernswerter Mannigfaltigkeit im einzelnen festgehalten wird. Ein 'heiteres' und ein 'ernstes' Stück schließen sich an, bis dann mit dem 'Satz im italienischen Stil' ein Höhepunkt erreicht ist, nach dem dann der Schlußchor wie ein die Lösung und letzte Klärung gebender Epilog erscheint. Eine Menge schöner Musik steckt in diesem Werk, große melodische Bogen spannen sich zwischen den einzelnen Sätzen, mit beziehungsreicher Thematik ineinander verzahnt. In dieser warmblütigen Melodik bricht das Italienertum Busonis ungehindert durch, es gibt dem Werke den heißen Atem und läßt das Interesse und die Aufmerksamkeit, trotz der außerordentlichen Länge, niemals ermatten.
Doch dem ruhelos schaffenden Geiste Busonis, der in dein Entwurf einer neuen Aesthetik der Tonkunst um das Problem der praktischen Anwendbarkeit von Drittel- und Sechsteltönen ringt, genügt es nicht, sich in den landläufigen Formen des Musizierens auszusprechen. In seiner für Orchester geschriebenen Berceuse élégiaque und in einem Nocturne symphonique sucht er mit großer Bewußtheit neue, bisher noch nicht gegangene Wege, die ihn weit von dem wegführen, was unseren Ohren bislang zugemutet wurde. Ganz falsch, hier von unfruchtbarem Experimentieren reden zu wollen. Ganz im Gegenteil hat man die Empfindung, daß Busoni einem klar geschauten Ziel zugeht, daß ihm aber bei der Mangelhaftigkeit der vorhandenen Instrumente die Möglichkeit fehlt, seinen Klangvorstellungen und Visionen die letzte Form und Auswirkung zu geben. Die Musik dieser beiden kleinen Orchesterwerke ist fast frei von irgendeiner tonalen Bezogenheit, schwankend und schwebend in mystischen Harmonien voll seltsamer Klagen und spukhafter Erscheinungen. Fraglich allerdings, ob ihr singulärer Reiz jemals sich einer breiteren Masse erschließen kann .
Die bisher letzte Phase Busonischer Kunst, die nach einer aus Mozartschem Geiste gewonnenen neuen Klassizität drängt, zeigt sich in dem Concertino für Klarinette und kleines Orchester mit seiner diaphanen Durchsichtigkeit des zarten Stimmengewebes und der sorgsamen Aussparung aller instrumentalen Farben. Besonders deutlich aber wird sie in den beiden Bühnenwerken, dem Musikmärchen Turandot und dem theatralischen Capriccio Arlecchino. Busonis vordringender, in die Zukunft weisender Geist suchte ja immer das Problematische, abseits vom Wege Liegende auf, er begnügte sich nicht mit den leichten Erfolgen, die billiges Nachahmen schenkt, und auf Pfaden, die so manchem ungangbar erscheinen, sah er neue künstlerische Möglichkeiten. Nachdenklich und klug, wie er war, wußte er recht wohl, daß unsere Opernproduktion seit Wagner in eine Sackgasse verrannt ist, und so suchte er frische Kräfte und triebstarke Keime neuen Lebens heranzuführen durch bewußte Abkehr vom Musikdrama und Hinneigung zum Singspiel Mozartscher Prägung. Und der Geist des Wolfgang Amadeus schwebt sichtlich über ihm.
Weitab von allem Pathos, allem theaterhaft aufgedonnerten Gefühl, strebte er danach, das Ernste noch mit Anmut und Leichtigkeit zu sagen und den Hörer nie vergessen zu lassen, daß alles nur ein Spiel ist. Was konnte ihm, dem Italiener von Geburt, näher liegen als eine Erneuerung der 'Commedia dell'arte', der aus Italien kommenden Stegreifkomödle, in zeitgemäßem Gewande zu versuchen? Unter den launenvollen Lustspielen Carlo Gozzis fand er in dem uralten chinesischen Märchenstoff von der grausam-kalten Prinzessin Turandot, die jeden Freier hinrichten läßt, der ihre drei Rätsel nicht lösen kann, einen der musikalischen Bearbeitung entgegenkommenden Vorwurf. Aber er beschränkte sich nicht auf die Übernahme von Gozzis fünfaktigem Theaterstück, sondern schuf sich nach dem Vorbilde selbst den Text, dessen Wirksamkeit er durch kräftige Striche und Zusammenziehungen noch steigerte; die einigermaßen verunglückte und schwerfällige Übertragung Schillers ließ er selbstverständlich außer Betracht. Das lag ja auch ganz im Zuge seiner oben erwähnten Absicht; er betonte das Groteske, wie es auch der alte Gozzi wollte, ihn reizte der bunte, unaufhörliche Wechsel zwischen Realem und Phantastischem. Jede ans Tragische grenzende Situation wird umgebogen durch witzige und ironische Anspielungen der traditionellen Maskenfiguren, des Pantalone und Truffaldino. Zwar ist's in dieser Turandot nicht immer ohne Gewaltsamkeiten abgegangen, manches erscheint nicht einheitlich konzipiert und in der letzten Begründung etwas in der Luft schwebend, doch wer will in einem Märchen nach Gründen fragen? Will man es übelnehmen, wenn es sich nach seinen eigenen Gesetzen richtet?
Viel geschlossener in der Ausführung ist das theatralische Capriccio Arlecchino, dessenTextworte ebenfalls von Busoni stammen. Es ist die Geschichte von dem poetisch verschwärmten Dummkopf, der, versunken in die Lektüre seines über alles geliebten Dante, nicht merkt, wie ihm der lockere und dreiste Arlecchino seine schöne Frau abspenstig macht. Dazu die amüsanten Nebenfiguren des lüsternen Pfaffen, des Quacksalbers, des mit überwältigender Kunst der Karikatur gezeichneten Operntenors und der das Weib in Reinkultur verkörpernden Colombine. Dies alles in tollem Wirbel gegeneinander geführt aus einer Lust am heiteren Spiel,, aus der Freude am graziösen Ironisieren, unbeschwert von irgendwelchem Pathos, sondern ganz im Gegenteil jedes Gefühl mit offenbachischer Spottlust unterhühlend. Man soll hier nicht sentimental miterleben, sondern zu einem rein ästhetischen, sozusagen verstandesmäßigen Genießen kommen. Und doch ist nichts ohne tieferen Sinn. Der skeptische Geist unserer Zeit schaut aus den übermütigen Vorgängen dieses Spiels, und wir fühlen ganz von ferne, wie sich die tragische Kuppel wölbt über diesen menschlichen, allzu menschlichen Begebenheiten; wir spüren hier ein schicksalhaftes Sichverfangen in den Netzen der menschlichen Natur ... Das alles aber schwingt in heiterster Grazie, scheint nur so obenhin durch, und Arlecchino, der nach alter Weise am Schluß des Spiels vor den Vorhang tritt, überläßt es seinen «wohlgesinnten Richtern, den Herren Kunst- und Zeitungskritikern, die Wahrheitswurzel hiervon zu ziehen». Und dann, mit artiger Verbeugung: «Meine Damen, meine Herren, gute Nacht!»
Es ist klar, daß die musikalische Ausgestaltung solcher von parodistischen Zügen durchsetzten und zersetzten Texte von ganz besonderer Art sein mußte. In der Notwendigkeit, einen bestimmten Stil auszuprägen und festzuhalten, verlangt sie vom Komponisten fast Unmögliches, und nur ein so kultivierter Geist wie der Busonis konnte sich an die Lösung dieser selbstgestellten, heiklen Aufgabe heranwagen. Beide Partituren sind das Werk eines Meisters, der alle Mittel mit höchster Bewußtheit verwendet. Die Musik zu Turandot ist ja in ihrer Hauptsache schon als Orchestersuite bekannt gewesen; die Singstimmen wurden erst später hinzugefügt. Das hat denn nun manchmal etwas merkwürdige Gebilde ergeben, die dem Sänger genau so viel Mühe machen wie dem Hörer. Der Schwerpunkt ist denn auch ganz im Orchester verblieben trotz der zum Teil recht schönen Chöre und Ensembles, die über dem Gewebe der Instrumente gebaut sind. Wundervoll ist der reine, naive Märchenton getroffen; die Musik gibt sich gar keine Mühe, mit Tiefsinnigkeiten um sich zu werfen. Sie hat ihre größte Stärke in der Primitivität, die allerdings sehr geistreich und, fast möchte ich sagen, kultiviert ist, Die Instrumente aber sind mit einer Kunst der Farbenmischung und mit einer Klangphantasie gegeneinander geführt, die fast einzigartig ist. In dieser Partitur stehen Stellen von einer berückenden Zartheit des Kolorits und von einer aparten Plastik des instrumentalen Ausdrucks, wie sie jetzt fast keinem zweiten gelingt. Durch Verwendung von originalen orientalischen Motiven atmet das Ganze den Duft schillernder exotischer Pracht. Diese Exotik ist aber kein Produkt wissenschaftlicher Folklore-Forschung, sondern intuitiven Sichversenkens in die orienta.. lische Stimmung des Stoffes. Hier ein in asketisch strenger. Weise des vorpalestrinaschen Zeitalters hinschreitender Satz, da ein keck hingeworfener, fast an die Operette streifender Gedanke: alles malerisch hingesetzt, stark im Deskriptiven. Da fühlt sich Busonis Musik am wohlsten. Er zitiert mit großem Geschmack und Stilgefühl alte Formen, alte Rhythmen, und wenn er Koloraturen schreibt, so feilt er sie mit der preziösen Sorgfalt eines Ziseleurs aus den Stimmen heraus. Demgegenüber darf nicht verschwiegen werden, daß die Substanz dieser Musik nicht eben groß ist; alles wirkt etwas blutleer und dünn, mehr kühl-ästhetenhaft als warmblütig und sinnlich. Nur selten blüht einmal eine echte Melodie auf, vielmehr erscheint jeder Einfall destilliert und auf die letzte Formel gebracht. Aber die Partitur ist voll subtiler Feinheiten, die vor allem für den Fachmann höchst reizvoll sind.
Noch mehr gilt das von der Musik zum Arlecchino. Die Eigenart des Stoffes verbot eine breitere musikalische Behandlung schon von selbst. Aber es wimmelt in dieser Partitur von witzigen, funkelnden Anspielungen und von karikierenden Zitaten. Über dem grausamen Hohn dieser 'commedia dell'arte' und über der wunden Ironie ihrer Worte schwebt eine Musik voll graziöser Frechheit und kapriziöser Laune, voll geistreicher Keckheit und ungewöhnlicher Schärfe der Charakteristik. Sie wirft mit witzigen und sprühenden Einfällen nur so um sich, und ihre Faktur ist von einem Raffinement der Feinarbeit, die beinahe schon wieder schöpferische Kraft ist.
Außer diesen beiden Bühnenwerken schenkte der Meister der Welt auch noch eine nach E. Th. A. Hoffmann gearbeitete Komödie Die Brautwahl, deren von genialen Einfällen überströmende Partitur leider seit Jahren zum Schweigen verdammt ist. Nur eine aus ihr gewonnene Konzertsuite zeugt von ihrer Existenz. Die Summe seines Lebens und seiner Kunst aber wollte Busoni in seinem Faust ziehen, einem Werke, dessen schöne, tiefsinnige Dichtung von ihm selbst stammt. Er arbeitete bis zu seinem Tode an der Partitur, die er im wesentlichen vollenden konnte.

PHILIPP JARNACH

Von denen, die Busoni nahe stehen, ist Phlipp Jarnach, der in Paris geborene, nunmehr aber in Deutschland heimische Spanier, der Wertvollste und Bedeutendste. Er hat mit dem Streichquintett op. 10 eine der beachtenswertesten Leistungen neuer Kammermusik geschaffen; in ihm lebt der Geist echter Polyphonic und eine nicht alltägliche Kraft zu selbständiger, durchaus eigenschöpferischer Ausdrucksweise. Sie macht auch die als opus 14 erschienene Sinfonia Brevis für Orchester zu einem ganz erstaunlichen Werk. Mit seiner dunklen, tragischen Stimmung lastet es schwer auf dem Zuhörer, der gleichwohl keinen Augenblick von dem faszinierenden Eindruck dieser höchst persönlichen Aussprache loskommt. Die Intensität des Ausdrucks dieser durchweg in linearer Richtung laufenden, edlen und charaktervollen Melodik erreicht hier - vor allem im letzten Teil - Gipfel, wie sie in der neuen Musik nur ganz selten erklommen sind. Das Überzeugendste aber, was Jarnach bis jetzt geschaffen hat, das ist sein Streichquartett, ein Werk, erfüllt von einer aus tiefsten Quellen strömenden Erfindung, und mit einer solchen Überlegenheit gestaltet, daß jene am schwersten zu. erreichende Einheit zwischen Inhalt und Form hier vollkommen verwirillicht wird. Schon heute ist Philipp Jarnach, obgleich noch kaum über die Dreißig hinaus, ein Meister, über seine Jahre hinaus gereift und sicher in sich selbst ruhend.