DAVID POUNTNEY

ÜBER DOKTOR FAUST


Ferruccio Busoni unterteilte seine Oper auf ungewöhnliche Weise in die Abschnitte Symphonia, Vorspiel I und II, Intermezzo, Erstes Bild, Symphonisches Intermezzo, Zweites Bild und Letztes Bild. Die Partitur enthält keinen Hinweis, an welcher Stelle eine Pause gedacht war. Nichtsdestoweniger liegt dem Werk deutlich eine dreiaktige Struktur zugrunde.

Der
Erste Akt (bestehend aus der Symphonia und den beiden Vorspielen) könnte den Titel tragen: «Der Pakt mit dem Teufel».
Man weiss, worum es geht; doch Busoni wandelt den Stoff in drei Punkten ab: Die Gretchentragödie hat bereits vor Aufgehen des Vorhanges stattgefunden; dies verdeutlicht, dass Faust von der Gesellschaft nicht nur wegen seiner gefährlichen Ideen mit Misstrauen verfolgt wird, sondern auch, weil er herrschende Moralvorstellung arrogant verachtet. Wie Raskolnikow hält er sich für etwas Besonderes - frei von der Verpflichtung, für die eigene Schuld einstehen zu müssen, weder in materieller noch ideeller Hinsicht. In der Tradition der Fausdichtungen wird die Isoliertheit Fausts dem «normalen» (geselligen) Treiben der Gemeinde gegenüberstellt, die am Ostergottesdienst teilnimmt. Busoni geht ebenfalls von dieser Situation aus, überholt jedoch durch massiven und klugen Einsatz des Chores hinter der Bühne die nostalgischen Rufe nach bürgerlicher Sittlichkeit zu einem leidenschaftlichen Flehen um Frieden («Pax!»), also zu einem direkten Appell an Faust, den Vertrag mit Mephistopheles, durch den das Unheil in der Welt entfesselt wird, nicht einzugehen. Busoni schrieb das Libretto zur Zeit des Erstes Weltkrieges; der Schatten dieser Katastrophe lastet auf dem ganzen Werk.
In Mephistopheles' Beschreibung seiner selbst finden wir einen Schlüssel zum Verständnis des Werks: «Ich bin geschwind als wie des Menschen Gedanke.» Das scheint - äusserlich gesehen - keine besondere Empfehlung zu sein - Faust hat selbst überdurchschnittliche Qualitäten dieser Art. Im Grunde genommen bietet Mephistopheles nichts wirklich Teuflisches - nur Menschliches. Daraus folgt, dass Mephistopheles ein Theil von Faust ist. Das "andere Wesen", das aus ihm herausbricht, verkörpert all das, was Faust durch den Abbruch seiner Kontakte zur Aussenwelt - ausgenommen sein Denkvermögen - in sich unterdrücken musste. Mephistopheles ist der extrovertierte Teil von Faust.
Mephistopheles bietet Faust die Möglichkeit, im Tempo seiner Gedanken zu leben, und damit die übernatürliche und todbringende Fähigkeit, seine Gedanken in der dreidimensionalen Welt auszuleben, ohne von all den lästigen und komplexen "Konventionen des Lebens" behindert zu werden, die das Sozialverhalten regeln. Solche rücksichtslose Erfüllung aller Gedanken zerstört jedes Gefühl für humanes und soziales Verhalten oder Mitleid. Das wiederum kommt der Lebensauffassung Mephistopheles' entgegen, die alles Wertvolle ins Gegenteil verkehrt - oder, mit Oscar Wildes Worten, es auf seinen Preis reduziert. Alles mind jeder erscheint Mephistopheles entbehrlich, und dadurch letztlich wertlos.

Akt zwei, in unserer Version bestehend aus Intermezzo und Erstem Bild, könnte untertitelt werden "Der Weg nach oben - ein Pfad des Unheils". In den beiden Szenen des Vorspiels flehte die unsichtbare Ostergemeinde leidenschaftlich um Frieden. Jetzt, auf der Szene, betet Gretchens Bruder unbarmherzig um Rache. Das Blutvergiessen, das unter dem Mantel der Frömmigkeit begangen wird, bildet ein zentrales Thema in diesem Weik. Busoni, der Gewalt in jeder Form verabscheute, wurde damit während des Kriegs ständig konfrontiert: so führt ein direkter Weg zu den Schlussfolgerungen Fausts in der letzten Szene: "Euch zum Trotze, Euch Allen, die ihr euch gut preist, die wir nennen böse, die ihr, um euer alten Zwistigkeiten Willen, Menschen nehmet zum Vorwand und auf sie ladet die Folgen eures Zankes." Des Bruders Verlangen nach Rache ermöglicht es Mephistopheles, Faust in einen Mord zu verwickeln, bei dem er sich weder die Hände schmutzig machen, noch die Verantwortung übernehmen muss. Dieser Mord ist beieits das erste Glied in der Kette des Blutvergiessens. Der Pfad des Unheils ist beschritten. Der "Cortège", die symphonische Einleitung des Ersten Bildes- der herzogliche Park zu Parma - war ursprünglich als Festliches Ballett konzipiert. Busoni selbst erwog, ein Kasperle-Intermezzo einzufügen - eine Reminiszenz an das Puppenspiel, das him als Quelle für das Libretto diente. Die Bürleske steht traditionsgemäss nicht nur in Verbindung mit dem Faust-Stoff (das Drama von Christopher Marlowe enthält viele burleske Einschübe), sondern auch mit fast jeder anderen Geschichte, in der der Teufel vorkommt.
"Die Reise" ist der Höhepunkt von Mephistopheles' Macht über Faust. Wie zuvor gelingt es Mephistopheles, Faust Kräfte und Energien von fruchtbarer Arbeit weg auf das Gewöhnliche und Nutzlose zu lenken.
Am Hof des Herzogs zu Parma entzieht sich Faust zum ersten Mal der Kontrolle Mephistopheles'. Durch das Erlebnis einer zwischenmenschlichen Beziehung - seine Liebe zu der Herzogin von Parma - enwirbt Faust eine winzige Hoffnung für seine Erlösung. Die Episode, in der Faust sein Verlangen nach einem Weib ausspricht, kommt in vielen Fassungen vor. Bei Marlosve heisst es:

FAUSTUS: Doch Schluss damit! Verschaff mir eine Frau, das schönste Mädchen, das in Deutschland wächst, denn ich bin immer lüstern und verbuhlt und kann nicht leben ohne Weib.
MEPHISTOPHELES: Ein Weib? Nein, Faust, ich bitt dich, rede nicht von Weibern!
FAUSTUS: Ach, Lieber, schaff mir eines, denn ich will eins!
MEPHISTOPHELES: Schön, schön, du willst eins. Setz dich, bis ich komme! Ins Teufels Namen schaff ich dir dein Weib.
(Er lässt einen Höllengeist in Weibgestalt erscheinen, dazu Feuerwerk.)
FAUSTUS: Was ist das für ein Anblick?
MEPHISTOPHELES: Sprich, wie gefällt dir nun dein süsses Weibchen?
FAUSTUS: Die Pest der hitzigen Hure an den Hals!
(Das Weib verschwindet.)
MEPHISTOPHELES: Ach was, die Ehe, Faust, ist nur läppisch Zeremonienspiel; wenn du mich liebst, so denk nicht mehr daran. Die schönsten Kurtisanen such ich dir und bring sie jeden Morgen dir ans Bett, welch Mädchen dir gefällt, das sollst du haben, sei es so keusch auch wie Penelope, so wiese wie die Königin Sabas und - so schön wie Luzifer strahlte, eh' er fiel.

In Thomas Manns "Doktor Faustus" bittet Adrian Leverkühn einen Freund, für ihn um die Hand einer Schweizerin anzuhalten. Doch der Freund betrügt ihn - und wird dafür umgebracht. Der Teufel macht vor nichts Halt. Mephistopheles versucht unausgesetzt, eine gefährlich "wertvolle" Beziehung zu verhindern. In Busonis Oper werden seine Pläne zeitweilig durchkreuzt - gerade lang genug, dass Faust und die Herzogin ein Kind zeugen können, das zum überragenden Symbol der Hoffnung wird.
Am Ende der Parmaa-Szene kann Mephistopheles seine Niederlage teilweise kompensieren, indem er den Herzog in einen katastrophalen Krieg verwickelt - die Spur des Unheils zieht sich weiter. Das Motiv der Zerstörung, das Faust begleitet, erklärt sich aus der Tatsache, dass Faust seine ausserordentlichen Fähigkeiten nicht in den Dienst einer guten oder schlechten Sache stellt, sondern sie nur zu seiner oberflächlichen Genusssucht nutzt. Dadurch hinterlässt er ein Vakuum, das automatisch vom Bösen ausgefüllt wird. Obwohl er nicht all das Unheil ausdrücklich selbst befiehlt, entsteht es doch aufgrund seiner Missachtung des verantwortlichen Gebrauchs seiner Kräfte.

Der
dritte Akt (oder "die Reise abwärts") besteht aus dem Symphonischen Intermezzo (Sarabande), dem Zweiten und dem Letzten Bild. Während der Sarabande findet Faust zu seinem Forscherleben zurück. Mephistopiseles hat nun die Möglichkeit, nicht nur Fausts ungenützt verschwendete Kräfte für sich auszubeuten, sondern möglicherweise auch den zufälligen Missbrauch dieser Kräfte. Faust aber bleibt immer noch die ferne, doch quälende Ahnung einer Hoffnung, erwachsen aus der Beziehung zu der Herzogin von Parma.
Die Szene in der Schenke: die, laut Busonis Anweisung, im Gänsemarsch gehenden Studenten sind ein weiterer Beweis, wie prophetisch Busoni die Faust-Geschichte mit seiner eigenen Zeit identifizierte.
In dieser Szene löst Fausts Gedenken an die Herzogin einen weiteren Machtkampf aus: Mephistopheles lässt nichts unversucht, Fausts heiligste Gefühle in den Schmutz zu zerren. Sobald er Faust, indem er ihm seinen einzigen Halt entzieht, mürbe gemacht hat, zeigt er ihm das Trugbild der schönen Helena. Bei ihrem Anblick kann sich Faust, der es versäumte, der Herzogin bei der Geburt seines Kindes tatkräftige und menschliche Hilfe anzubieten, dem illusionären Traum der Jugend hingeben. Doch Helena ist ja nicht nur das klassische Ideal weiblicher Schönheit, sondern auch der berüchtigte Kriegsgrund, die treibende, wenn auch nicht verantwortliche Kraft der Vernichtung. In Mephistopheles' Augen ist sie der ideale Ersatz für die Herzogin, denn ihr Einfluss ist ebenso unheilbringend wie der der Herzogin glückbringend war.
Faust hat in dieser Szene zwei grosse Monologe: im ersten schwelgt er in Illusionen (als er Helena erwartet), im zweiten erkennt er die Illusion und sehnt sich nach einem neuer Anfang, wünscht sich ein zielbewusstes Leben mit dem Gebrauch aller Fähigkeiten zum Wohle der Menschheit.
In die Schlussszene erkennt Faust, dass der Mensch selbst die alleinige Verantwortung für individuelle, moralische Entscheidungen trägt. Er sagt sich von Gott und vom Teufel los. Einmal mehr sind es die Herzogin und ihr Kind, die ihm den Weg weisen. Das tote Kind, das sie ihm gibt, bringt ihn zu der Erkenntnis, dass weder in Gott die Erlésung liegt, noch die Hölle im Teufel. Busoni zeigt in seinem "Faust", dass der Mensch allein verantwortlich ist für seine Taten, und sich niemand auf "göttliche' oder «teuflische« Vorsehung berufen und herausreden kann.
Das Kind, das am Ende der Oper auf die Welt kommt, ist so nackt und verletzlich wie jedes Menschenkind, doch es geht ins Leben ohne einen bösen oder heiligen Zweck erfüllen zu müssen: es tritt nur Fausts Lebenserfahrung als Erbe an - "ein ewiger Wille". Fausts "gute Tat" ist es, die die Zauberkräfte von Gut und Böse ausser Kraft gesetzt hat; das Menschenkind, der neue Faust, erbt die Welt.

© Deutsche Oper Berlin und David Pountney 1987

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