FERRUCCIO BUSONI

ÜBER DIE PARTITUR DES «DOKTOR FAUST»

LIBRETTO «DOKTOR FAUST»
AUF DEUTSCH - IN ITALIANO


Eine hervorragende historische und sprichwörtliche Figur, die mit dem Zauberischen und Unenträtselten zusammenhinge, zum Mittelpunkt meines Opernspiels zu machen, war in mir Wunsch und Prinzip. Von Zoroaster bis Cagliostro bilden diese Gestalten eine Säulenreihe durch den Gang der Zeiten. Die zu erwählende unter jener durfte nicht in dieser so weit zurückreichen, daß die Teilnahme an ihr durch Entfernung litte, nicht so nahe gerückt sein, daß die für die Wirkung unerläßliche »Distanz« zu kurz bemessen wäre. Darum entschied ich mich für jenes Mittelalter, das die anbrechende Renaissance zu erhellen beginnt.
Mit D'Annunzio*

besprach ich (1911, und in Paris) ausführlich ein Libretto über »Leonardo da Vinci«, den italienischen Faust, wie ihn der Dichter bezeichnete, »und im übrigen« - so wandte er ein - »ein Skelett, dem eine Fackel anstatt des Kopfes aufgesetzt ist.« Der vermißte an ihm hinreichenden Stoff zur »Lyrik«, die er durch den aus dem XIX. Jahrhundert übernommenen Begriff der Oper, als Italiener, als Wagner-Apostel, nicht entbehren konnte. Darum das »entfleischte, herzlose Gerippe«, darum »die erbarmungslos aufklärende Leuchte, die es an Stelle des Kopfes trägt«.
Merlin interessierte mich vorübergehend, Don Juan anhaltender, doch mußte ich hier vor dem großen Vorbilde Mozart weichen. (Wenngleich ein Don-Juan-Libretto noch anders angepackt werden könnte, als wie es bei dem gewandten Abbate da Ponto geschieht. Da müßten Mönche mitspielen, unterirdische Gänge, und die heilige Inquisition, Mauren und Gläubiger und Juden, bestellte Sänger und Virtuosen, die Madrigale zum besten gäben. Namentlich erscheint es mir ein Versäumnis, die Gegen-Einladung des steinernen Gastes unterdrückt zu haben, die in einer Kapellenruine sich abspielt. Man vergleiche diesen höchst eindrucksvollen Vorgang in El burlador de Sevilla des Tirso de Molina, unter welchem Namen sich der sagenhafte Mönch Gabriel Tellez verbirgt. Daselbst tritt auch die gewaltige Figur einer Fischerin auf, die alle Frauengestalten späterer Don-Juan-Dichtungen überragt.
Die Absicht, und noch mehr die Sehnsucht, Goethes Faust mit Musik auszustatten, hat mich dringend erfüllt. Allein die Ehrfurcht vor der übermächtigen Aufgabe verhalf mir zur Entsagung. Dieses Geständnis geht - so glaub ich - aus dem gereimten Prolog deutlich hervor. Die eigene Begrenzung zu erkennen und sich einzugestehen führt am nächsten dazu, die angeborenen Fähigkeiten richtig zu gebrauchen. Ich war aber nun einmal der Faszination dieser Faust-Idee verfallen, und sie beherrschte mich weiter. Aus dem waltenden Zwiespalt zwischen Sehnsucht und Entsagung befreite mich die inzwischen erfolgte Bekanntschaft mit dem alten Puppenspiel, von dem ich mehrere Versionen prüfte, für das ich mich entschied, das zum Ausgangspunkt meines Operntextes wurde.
Wie in einem Fieber, und in sechs Tagen, schrieb ich den ersten Entwurf des »Doktor Faust« nieder, zwischen dem Ausbruch des Krieges und den Vorbereitungen zu einer Ozeanfahrt gegen Ende 1914.
Mein eigenes Drama beginnt mit der Szene am Hofe zu Parma, und es tritt damit aus dem Mystischen in das Weltlithe. Aus seinem Instinkt erstrebt Faust die Vereinung mit der Herzogin, des vorbestimmten Endzieles selber noch nicht bewußt. Eine Mahnung an dieses Endziel ist die Überbringung des toten Kindes durch Mephistopheles als Kurier. Noch erfaßt Faust die Bedeutung der Mahnung nicht, und Mephistopheles führt ihn weiter irre, indem er Fausten vorgaukelt, es würde aus dem toten Kinde das «Ideal« lebendig erstehen. Dieses erweist sich als trügerisch und unhaltbar, und Faust verzichtet auf die Erringung des Ideals, wie er schon (dies geht aus dem darauf folgenden Gespräche mit den Studenten-Schatten hervor) auf die Mittel der Zauberei verzichtet hatte.
Im letzten Bilde macht die Erscheinung der Herzogin Fausten eindringlich klar, was das Kind ihm bedeutet. Nachdem Faust - auf seinen letzten Versuch einer Annäherung an Gott - auch den Glauben von sich geworfen, schreitet er zur mystischen Handlung, die ihm sein erschöpftes Leben erneut.
Aus Gründen, die ich in dem ersten Abschnitt dieser Vorrede (gemeint sind Busonis Ausführungen Über die Möglichkeiten der Oper) dargelegt habe, ist der Worttext absichtlich lückenhaft, scheinbar fragmentarisch gehalten. Und während er solcherweise Raum zur Ausfüllung durch die Musik freiläßt, sind Situation und »Schlagwort« als Unterlage, hinreichend hingestellt. Der Beschwörungsakt ist dafür ein wenig umständlich geraten, es ist nämlich kein Leichtes, den Teufeln befehlen zu wollen.
Ich hoffe, daß die Angst Faustens erkennbar wird, worum er zuletzt ohnmächtig zusammenbricht. Übrigens wird er (der üblichen Formel entgegen, die des Bçschwörers Gürtel dazu anwenden läßt) den schützenden Zauberkreis mit einem Schwerte ziehen, und dieses in der Rechten behalten.
Es ist dies ein Symbol, daß der Beschwörer gegen Gefahr gewappnet bleibt. Der ganze Vorgang gilt in der Magie als äußerst gefährlich. Man bemerke, wie der enttäuschte Faust nach Vernehmen der fünften Stimme aus dem Kreise tritt und somit aufhört gefeit zu sein.
Daraufhin meldet sich die sechste Stimme schon ungefragt, und er vermag nun nicht mehr sich dagegen zu wehren. Den ersten Monolog aus dem Puppenspiel (den Goethe fast wörtlich übernimmt) strich ich aus guten Gründen, ein solches Debut des Stückes hätte allzu offenbar an den herkömmlichen Faustanfang erinnert und so den Zuschauer auf die Erwartung ähnlich vertrauter Bilder gestimmt. Überdies ist der Sinn des Monologes in der späteren Drohung des Mephistopheles enthalten, als dieser Fausten dessen verzweifelte Lage vor Augen führt. Folglich beginnt bei mir das Spiel mit der Einführung der Studenten, die in dem Puppenspiel nur erwähnt sind, hier aber sichtbar und handelnd in Erscheinung treten und deren Anzahl von der ursprünglichen Zwei auf die mystische Drei gebracht wurden.
Bereits vor der Niederschrift des Textbuches hatte ich bewußt musikalische »Fauststudien« in einem Nocturne Symphonique und einer Sonatina seconda gepflegt, die motivisch und stilistisch in der Partitur Verwendung und Entwicklung erfuhren, die als Anregung, Maßstab, Atmosphäre ihre vorbereitende Aufgabe hilfreich erfüllten. Mitten im Gestalten des Gesamtwerkes, getrennt und doch von diesem abhängig, schuf ich - ein verkleinertes Modell -versuchshalber noch eine Sarabande und ein Cortège für Orchester, deren Anhörung mir weitere Sicherheit und Belehrung verschaffte.
Es galt vorerst den Gesamtplan zu entwerfen, der in seinen größeren Umrissen durch den Text vorgezeichnet stand, Wahl, Verteilung, Verwendung der Mittel, der Formen (zeitliche Formen, Satzformen) zu überdenken. Vorzüglich war es mir darum zu tun, musikalisch-selbständige Formen zu gießen, die zugleich dem Worte, dem szenischen Vorgang sich anpaßten, die jedoch, auch losgelöst vom Worte, von der Situation, ein eigenes und sinnvolles Bestehen führten. So wie die Melodie über allen kompositorischen Mitteln steht, so verbleibt die menschliche Stimme als Klangmittel das wichtigste und ausdruckreichste, das lebendigste und seelenvollste Instrument, das sich von den übrigen, künstlichen, spielend-siegreich abhebt, weitertragend als die anderen, im Freien und in der Entfernung eindringlich vernehmbar. (Es ist nicht unangebracht, diese bekannten und wohlfeilen Erkenntnisse hier wieder anzuführen.) Die Begrenzungen dieses edelsten Klangmittels entspringen wiederum aus seiner Abhängigkeit von Sprache (als Betonung) und Text (als Gedankengang), aus der tikonomie des Atems, aus dem beschränkten Umfang, aus dem sich leicht einstellenden Mangel an Präzision.
Dafür vermag die Singstimme den Ausdruck einer einfachsten Phrase wirkungsvoll zu heben, das Expressive an ihr überraschend zu steigern. Man sehe sich diese schlichte Melodie Mozarts an, wie sie in einem seiner Klavierkonzerte auftritt:

und höre sie darauf (etwa mit diesen Worten) gesungen:

Wie der überschwängliche Sextenschritt nun erst sein volles Gewicht erlangt, wie die Wiederholung des halbtaktigen Motives, durch die zusammenstimmende Wiederholung der Worte eindringlich wirkt, wie aus der Clavecin-Figur ein fast leidenschaftlicher Satz entsteht, der unterschobene Sinn des Textes den Intervallen Leben verleiht, das ist der Zauber der menschlichen Stimme.
In noch anderer Bedeutung ist das melodische Element im Instrumentalen förderlich, veredelnd, inhaltstragend, ja unerläßlich. Darum scheint mir die Entwicklung innerhalb der musikalischen Struktur dahin zu streben, daß ein Orchestersatz aus reinen melodischen Linien gefügt werde, die sich kreuzen und stützen, selbständig schreiten und aus sich selbst die Harmonie aufsteigen lassen. Diese lineare Polyphonic habe ich in der Partitur des »Doktor« Faust fast durchweg eingehalten, akkordische Bildungen eingeschränkt, das graphische Bild der Noten mehr auf das Horizontale als auf das Vertikale gestellt. Es ist dieses eines der bezeichnenden Momente in der Partitur, das erwähnt werden mußte. - Nun ein anderes. Es hat mich von jeher (zuerst allerdings, ohne daß ich mir über den Eindruck Rechenschaft zu geben wußte) unbefriedigt gelassen, daß der Spielraum eines Schaustückes mit der quergezogenen abschließenden Linie des gemalten Prospektes aufhört und so dem Zuschauer abgeschnitten wird.
Diesem bleibt von dem Kreise, innerhalb dessen sich die Handlung abrollt, die eine Hälfte auf immer verborgen (wie es mit dem Mond im Verhältnis zur Erde geschieht). Doch läßt sich die organische Raumform des Kreises nicht hinwegdenken, und im Schauspiel gibt es Andeutungen genug, daß die Vorgänge auch hinter dem Prospekte weiterspinnen. Die Phantasie des Zuschauers wird aufgefordert, an der Ergänzung zu arbeiten. Geht eine Figur durch eine Türe ab, so stellt jener sich das Hinaustreten der Person auf die Straße, ihr Sichentfernen lebhaft vor.


FONDALE = PROSPEKTLINING
SCENA VISIBILE = SICHTBARE BÜHNE

Zuweilen weiß er auch, wohin diese Person sich (fingiert) begibt, und er dringt so mit dem Blicke der Imagination in die unsichtbare Hälfte des gedachten Kreises.
Anders verhält es sich mit der Musik auf dem Theater, die - wenigste Fälle ausgenommen - ausschließlich den vorderen Halbkreis ausfüllt. Es schwebt mir vor, daß gerade die Musik dazu berufen sei, diese Peripherie vollständig zu umgürten, und ich habe in dieser Partitur den ersten (nicht völlig durchgeführten) Versuch unternommen, einen Klanghorizont, eine akustische Perspektive zu schaffen, indem ich häufig Gesungenes und Gespieltes «hinter der Bühne« ertönen lasse, wodurch das Ungeschaute durch das Gehörte enthüllt werden soll. Dies ist das zweite zu erwähnende Moment. Ein drittes. Einem Freund schrieb ich vor Zeiten: Einfall ist Begabung, Gesinnung Sache des Charakters, aber erst das Formen macht den, der jene ersten Eigenschaften besitzt, zum Künstler. Um die Form habe ich mich stetig und strengstens bemüht. Wie ich sie in dem vorliegenden Falle deute und übe, möge aus einigen Beispielen dargetan werden.
Die sechs Stimmen der Dämonen im zweiten Vorspiel faßte ich zu einer Reihe Variationen zusammen, auf das Motiv »Frage und Antwort« gestellt. Zugleich nahm ich mir vor, diese Stimmen - einzeln aufsteigend - von der tiefen stufenweise in die hohe Lage, von schleppender Langsamkeit schrittweise in zunehmende Bewegung zu führen, also daß die letzte Stimme zur höchsten, und darum die Rolle des Mephistopheles zum ausgesprochenen Tenor werden mußte.
Es gelang mir das szenische Intermezzo, das in der »uralten romanischen Kapelle« spielt trotz der wechselnden Begebenheiten und Stimmungen, die darin rasch aufeinander folgen, auf die einheitliche Form des Rondo zu bringen. Das Gartenfest zu Parma gestaltete ich zu einer Ballettsuite, zu einem pantomimenartigen Spiel, das erst gegen seinen Schluß von der freieren dramatischen Geste abgelöst wird.
Ein apartes Studium widmete ich dem Glockengeläute, das ich in drei »Zuständen« wiedergebe. Zu Anfang im Orchester, als eine dämmerige Nachahmung, schattenhafte Erinnerung an entfernte und schon verklungene Schwingungen, als Ausklang der »Symphonie« sodann, von Menschenstimmen auf das Wort »Pax« (Anmerkung: die Komposition dieses Abschnittes fiel in das Jahr 1917) übernommen, und endlich von wirklichen Kirchenglocken die Auferstehung hell verkündend - am Schlusse des Vorspiels gejubelt.
Einige Verse, die als »Nachspruch« zu dem Gesamtwerke, als »cul de lampe final« gedacht sind, mögen hier vorgreifend und besiegelnd ihren Platz angewiesen bekommen.
Es spricht der Dichter an die Zuschauer:
Von Menschensehnsucht ward vor Euren Blicken
der Abend durch ein tönend Bild entrollt,
von Fausts Verhängnissen und Un-Geschicken
Bericht zu geben hat das Stück gewollt.
Der ungeheure Stoff, durft er mir glücken?
Enthält die Mischung auch genügend Gold?
Wär's so Euch fiele zu, es auszuscheiden: des Dichters Anteil bleibt sein selig Leiden.
Noch unerschöpft beharren die Symbole,
die dieser reichste Keim in sich begreift,
es wird das Werk fortzeugen eine Schule,
die durch Jahrzehnte fruchtbar weiter reift,
daß jeder sich heraus das Eigne hole,
so, daß im Schreiten Geist auf Geist sich häuft: das gibt den Sinn dem fortgesetzten Steigen zum vollen Kreise schließt sich dann der Reigen.


* SITO SU D'ANNUNZIO

OPERE PUBBLICATE NEL WEB:

ALCYONE
GIOVANNI EPISCOPO
IL LIBRO DELLE VERGINI
IL PIACERE
L'INNOCENTE
LA FIGLIA DI IORIO
LAUDI DEL CIELO DEL MARE
DELLA TERRA E DEGLI EROI

LE NOVELLE DELLA PESCARA
POEMA PARADISIACO
VERSI D´AMORE

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