BUSONI ALS LEHRER
VON AUGUSTA COTTLOW

Hans Heinz Stuckenschmidt - Ferruccio Busoni - Zeittafel eines Europäers - ATLANTIS VERLAG 6063 ZÜRICH 1967; ISBN 3-254-00063-3 

Augusta Cottlow (1878-1954), pianista americana, allieva di Busoni. A lei è dedicato uno studio inedito, intitolato «Etude en forme d'Adagio d'une Sonate, scritto negli anni '90 (contiene il tema principale del «Pezzo serioso» del Concerto per pianoforte).

Z
u Busonis ältesten Schülern gehörten die Amerikaner Michael von Zadora und Augusta Cottlow. Beide kamen schon als Kinder zu Ruhm und Erfolg; beide haben dann ihre endgültige Formung bei Busoni erfahren, Zadora als Elfjähriger in New York, die Cottlow als Achtzehnjährige in Berlin. Ihr verdanken wir eine der frühesten und anschaulichsten Schilderungen seiner Lehre und seiner Wirkung aufjunge Menschen. Augusta Cottlow war 13 Jahre alt, als sie ihn in Boston Beethovens G-Dur-Konzert mit Orchester und solistisch Chopins c-Moll-Nocturne sowie Liszts E-Dur-Polonaise spielen hörte. Dieselbe Polonaise studierte sie später beim Unterricht mit Busoni, der diejahre 1896-1899 umfaßte. Noch bevor sie einen Takt des Stücks gespielt hatte, erhob er sich, blickte nachdenklich ins Weite und sagte zwei Worte: «Mit Würde!» Durch diese Haltung und diese Worte öffnete sich für diejunge Amerikanerin das Verständnis für den Geist des Stücks. Sie erkannte darin die rhythmische Konzeption Busonis, der niemals rasche Zeitmaße hören wollte, wenn die Musik sie nicht unbedingt erforderte. Sie bekennt auch, über Form in der Musik mehr durch sein Spiel als durch alles Kompositionsstudium gelernt zu haben. In diesem Spiel habe es niemals ein zielloses Herumwandern oder einen Stillstand gegeben, sondern immer nur ein klares Vorwärtsgehen auf einen bestimmten Punkt hin, oder auch ein Wegstreben von diesem Punkte weg. Form sei bei ihm und in seinem Unterricht niemals etwas Statisches gewesen, das man sich untätig vorstellen konnte, sondern ein Akt derBewegung in allen ihren Phasen. So erinnert sich Augusta Cottlow, wie er mit ihr die achte Novellette von Schumann studierte. Sie war ratlos angesichts der unkonventionellen Form dieses Stückes, in der sie nur zusammenhanglose Teile der Thematik und Harmonik fand undkeines der überlieferten Schemata, die ihr geläufig waren. Sie fragte Busoni, ob er ihr das Stück erklären könne. Seine Antwort war: «Form in der Musik kann oft architektonischer Form gleichen. So ist die dreiteilige Form dem griechischen Tempel analog. Es gibt andere griechische Gebäude, die nicht wie die Tempel ihre Idee in die Mitte stellen, sondern ihre Verzierungen und Motive rund um das Haus ziehen, oft in Form eines Frieses üi Basrelief mit Abbildungen historischer oder mythologischer Szenen, jede anders als die andere, alle aber vereinigt auf der gleichen Ebene. Dieser Form gleicht die Schumann-Novellette.»
Busoni, so berichtet die Cottlow, nannte sich selbst nicht einen Pädagogen. Er verzichtete darauf, technische Einzelheiten mit seinen Schülern auszuarbeiten, verlangte vielmehr von ihnen, daß sie auf Grund einiger Prinzipien ihre technischen Probleme selbst lösten. «Aber», schreibt sie, «er gab beständig so erleuchtende Deutungen und Beispiele der künstlerischen Seite der Technik, und seine Ansprüche an Klarheit, Ebenmaß und Freiheit im technischen Mechanismus sowohl als auch an Tonschönheit waren so zwingend, daß der zu beschreitende Weg deutlich wurde. Auch war es klar, daß keine Einzelheit dieses harten Aufstieges übersehen werden durfte. Vollendung, nichts Geringeres, war das Ziel.» Phrasierung, Klangfarbe und Tonqualität seien Busonis beständige Sorge gewesen. Er verlangte auch im Akkordspiel den singenden, musikalischen, angenehmen Ton, gleichgültig, was ausgedrückt werden sollte. Die Pedalbehandlung nahm einen wichtigen Raum in seinem Spiel und seinem Unterricht ein. Den Rhythmus betrachtete er als den Herzschlag einer Komposition, untrennbar von ihrem Charakter und ihrer Botschaft.
Sie rühmt an Busoni seinen tiefen Respekt für alles, was echt und aufrichtig im menschlichen Bereich war, sowie für echtes Gefühl. Doch habe er unbarmherzig zurückgewiesen, was an Sentimentalität oder billige Empfindsamkeit grenzte. Darin sei er ein Anhänger Bernard Shaws gewesen. Verdienste in der Arbeit seiner Kollegen habe er stets als erster anerkannt, wie er auch immer bereit war, jungen, strebenden Künstlem zu helfen.
Er neigte dazu, die Fähigkeiten anderer an seinen eigenen zu messen, wobei selbstverständlich seine meisten Schüler den kürzeren ziehen mußten. «Für den, der bei ihm studierte, entwarf er ein ungeheures Maß an Arbeit; niemals hörte er sich eine Komposition mehr als zweimal an. Manchmal vergingen Monate zwischen dem ersten und zweiten Vorspielen, und beim zweiten wurde erwartet, daß es konzertreif sei. Stunden konnten keine regelmäßige, wöchentliche Sache bei Busoni sein, denn er konzertierte viel; wenn aber eine Stunde stattfand, dann war sie ein Ereignis, und oft dauerte sie nichtnur einen ganzen Nachmittag, sondern auch noch den ganzen Abend. Bald gab es mehrere Stunden rasch hintereinander, dann wieder eine Unterbrechung von einem oder vielleicht zwei Monaten. Natürlich konnte diese Art des Unterrichts nur denjenigen nützen, die selbständig zu denken und zu arbeiten vermochten.»
Dann erzählt die Cottlow eine Anekdote, die eine ganze Welt von Unterschieden in den pädagogischen Mitteln erleuchtet, dazu eine Welt amerikanischer und slawischer Psychologie. So streng nämlich Busoni in seinen Ansprüchen war, so liebenswürdig war er im Umgang mit den Schülern. Ein junges russisches Mädchen studierte 1896 bei ihm und gab bald danach dieses Studium auf. Die Cottlow, die das nicht begriff, fragte warum. «Sehen Sie», erwiderte die Russin, «Busoni ist zu sehr Gentleman! Er ist zu freundlich. Was ich brauche, ist ein Lehrer, der mir auf die Handgelenke klopft, mich an den Ohren zieht und mich anschreit! Sie selbst, Augusta Cottlow, sei gerade durch seine Freundlichkeit zu ihrer besten Form gekommen, während jede andere Behandlung sie aufs äußerste unterdrückt hätte. Seine Haltung sei stets die eines älteren Bruders gewesen.
Aber sie fügte noch ein charakteristisches Erlebnis hinzu. Mit seinem scharfen Geist und seiner immerwährenden Hochstimmung habe Busoni stets über, unter und durch alle Dinge gesehen und dabei oft komische Züge an ihnen aufgedeckt. Dem sei auch die genannte «Novellette» von Schumann nicht entgangen. Als Augusta Cottlow deren zweites Trio spielte, habe Busoni plötzlich ausgerufen: «Klingt das nicht, als ob es für deutschen Männerchor geschrieben wäre? Man kann wirklich die Worte hören.» Und dann habe er abwechselnd im Falsett und mit grollendem Baß auf unbeschreiblich komische Art gesungen: «Wie schön ist der deutsche Wald, der deutsche Wald, der deutsche Wad Wie schön ist, wie schön ist der deutsche Wald, der deutsche Wald. Der schöne, schöne, schöne, schöne Wald! Der Wald!» Daraufhin habe er die Stelle vorgetragen, die Schumann als Stimme aus der Ferne bezeichnet, und mit zitterndem, pathetischem Tonfall gesungen: «Einsam wandre ich durch... den Wald!»