Ferruccio Busoni:
Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst
1916 (Insel-Verlag, Band 200)
Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt, sind
diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Ergebnis von lange und langsam gereiften
Überzeugungen. In ihnen wird ein grösstes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit
aufgestellt, ohne dass der Schlüssel zu seiner letzten Lösung gegeben werde,
weil das Problem auf Menschenalter hinaus nicht – wenn überhaupt – lösbar
ist. Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe minderer Probleme,
auf die ich das Nachdenken derjenigen lenke, die es betrifft. Denn recht
lange schon hatte man in der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben.
Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungswertes, und ich stellte
mich stets in die erste Reihe, die vorüberziehenden Fahnenträger freudig
zu begrüssen; aber mir will es scheinen, dass die mannigfachen Wege, die
beschritten werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht – nach oben.
Der Geist eines Kunstwerkes, das Mass der Empfindung, das Menschliche,
das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an Wert;
die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der
Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoss, sie sind vergänglich
und rasch alternd. Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk
wie im Menschen; technische Errungenschaften, bereitwillig erkannt und bewundert,
werden überholt, oder der Geschmack wendet sich gesättigt von ihnen ab. Die
vergänglichen Eigenschaften machen das "Moderne" eines Werkes aus; die unveränderlichen
bewahren es davor, "altmodisch" zu werden. Im "Modernen" wie im "Alten" gibt
es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes. Absolut Modernes existiert
nicht – nur früher oder später entstandenes; känger blühend oder schneller
welkend. Immer gab es Modernes, und immer Altes. Die Kunstformen sind um
so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten,
je reiner sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren. Die
Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen Pupille und auf die
Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche verlässt
und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild kompliziert; die Architektur
hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten muss, durch statische
Notwendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mittlere
und abschliessende Ausgestaltung; diese Bedingungen sind an ihr bleibend
und unverletzbar; die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den
sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die grössere
Unabhängigkeit voraus: aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig
das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen
Empfindungen.
Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste;
ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben durch
Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet, regelmässig
ihren Kreis. Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt
hat, aber noch geführt werden muss. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die
noch nichts erlebt und gelitten hat. Sie ist sich selbst noch nicht bewusst,
was sie kleidet, der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in
ihr schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben
kann, schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig ausgereift
gehalten werden.
Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum vierhundert
Jahre alt, sie lebt im Zustande der Entwicklung; vielleicht im allerersten
Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klassikern
und geheiligten Traditionen! Spricht doch bereits ein Cherubini, in seinem
Lehrbuch des Kontrapunktes, von "den Alten". Wir haben Regeln formuliert,
Prinzipien aufgestellt, Gesetze vorgeschrieben - wir wenden die Gesetze
der Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch nicht kennt!
So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon
erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet. Und diese
wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze
sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt! Es berührt
nicht die Erde mit seinen Füssen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es
ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft.
Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei.
Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch gänzlich
empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen. Sie verleugnen
die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das schwebende Wesen muss geziemend
gehen, muss wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen; kaum,
dass es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre, der Linie des Regenbogens
zu folgen und mit den Wolken Sonnenstrahlen zu brechen.
Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie
wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die Ungebundenheit
ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unkörperlichkeit
nach; sie kann sich zusammenballen und kann auseinanderfliessen, die regloseste
Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen
wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? -, und ihre Empfindung trifft
die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom "Begriffe" unabhängig
ist. Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der Beweglichkeit
der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo
der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine "Situation"
darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Regungen mühsam
durch angereihte Worte mitteilt. Darum sind Darstellung und Beschreibung
nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik
aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.
Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das
Entfernteste vom Absoluten in der Musik. "Absolute Musik" ist ein Formenspiel
ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt.
Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch
den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von den Bedingungen der Materie
frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges
mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung;
die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da.
Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich
verhauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den
schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Innern des
Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie
die Vorgänge in der Natur. Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes,
welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika
und Dominante, and Durchführungen und Kodas.
Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht,
den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen unnötigen Kampf auskämpfen,
um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr
die architektonische heissen, oder die symmetrische, oder die eingeteilte,
und sie stammt daher, dass einzelne Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung
in eine solche Form gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag.
Die Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität jener Tonsetzer
und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik identifiziert und schliesslich
- da sie weder den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären
konnten – die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre
erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form als das geeignete Mittel,
ihren Gedanken mitzuteilen; sie entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken
und verwahren Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:
"Noch immer glücklich aufgefunden!
Die Flamme freilich ist verschwunden,
Doch ist mir um die Welt nicht leid.
Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
Zu stiften Gold- und Handwerksneid;
Und kann ich die Talente nicht verleihen,
Verborg ich wenigstens das Kleid."
Ists nicht eigentümlich, dass man vom Komponisten in allem Originalität
fordert und dass man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, dass man
ihn – wenn er wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mozart!
den Sucher und den Finder, den grossen Menschen mit dem kindlichen Herzen,
ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
seinen Durchführungen und Kodas.
Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen,
dass er einen kleinen Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren
Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der grossen Aufgabe, einen grossen
Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht,
aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden
und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der
Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse ausser
acht lassen zu dürfen und selbst unbewusst frei aufzuatmen schienen. Selbst
einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen etwas von dem Ungegrenzten
dieser Pan-Kunst – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D-Moll-Sinfonie
–, und Gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner
ersten Sinfonie behaupten. Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein
Amtszimmer tritt. Neben Beethoven ist Bach der "Ur-Musik" am verwandtesten.
Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken
Zug von Landschaftlichem (und Architektonisch Entstehendem), von Eingebungen,
die man "Mensch und Natur" überschreiben möchte; bei ihm gestaltet es sich
am unbefangensten, weil er noch über seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn
er sie auch bewunderte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge
Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig unendlich neue Möglichkeiten
erstehen liess. Darum sind Bach und Beethoven als ein Anfang aufzufassen
und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossenheiten. Unübertrefflich werden
wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das wiederum bestätigt
das zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, dass die Empfindung und der
Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts einbüssen, und dass derjenige,
der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.
Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform und ihre Freiheit.
Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den irdischen Horizont
streifte, der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte
(Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbstgeschaffenen Grenzen
nicht weiter steigerungsfähig. Seine Kategorie beginnt und endet mit ihm
selbst; vorerst, weil er sie zu einer höchsten Vollendung, zu einer Abrundung
brachte; sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, dass sie von
einem Menschen allein bewältigt werden konnte. "Er gibt uns zugleich mit
dem Problem auch die Lösung", wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege,
die uns Beethoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden.
Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur einen Kreis bilden; dieser ist
aber von solchen Dimensionen, dass der Teil, den wir von ihm sehen, uns als
gerade Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. – Ein
Kreis im grossen Kreise.
Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz
zur sogenannten "absoluten" Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben
sich so verhärtet, dass selbst die Verständigsten sich an den einen oder
den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, ausser und über den beiden
liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso
einseitig und begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hanslick
verherrlichte Klang-Tapetenmuster. Anstatt architektonischer und symmetrischer
Formeln, anstatt der Tonika- und Dominantenverhältnisse hat sie das bindende
dichterische, zuweilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene sich
angeschnürt.
Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie ein Samen seinen Trieb
in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene Pflanzenarten, an
Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander abweichend.
Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt und
Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon
seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muss sich anders entfalten,
doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Harmonie. Diese Form
bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.
Das Klangmotiv des programmusikalschen Werkes birgt die nämlichen Bedingungen
in sich; es muss aber – schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich
nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des "Programmes" formen,
vielmehr "krümmen". Dergestalt, gleich in der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen
Wege gebracht, gelangt es schliesslich zu einem ganz unerwarteten Gipfel,
wohin nicht seine Organisation, sondern das Programm, die Handlung, die philosophische
Idee vorsätzlich es geführt. Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiss
gibt es nicht misszudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben die Veranlassung
zu dem ganzen Prinzip gegeben) -, aber es sind wenige und kleine Mittel,
die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von
ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung von Naturgeräuschen:
das Rollen des Donners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und schon
weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichtssinn entnommenen Nachbildungen,
wie Blitzesleuchten, Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des
reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompetensignal als kriegerisches
Symbol, die Schalmei als ländliches Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung
des Schreitens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. Zählen wir
noch das Nationalcharakteristische – Nationalinstrumente, Nationalweisen
– zum vorigen, so haben wir die Rüstkammer der Programmusik erschöpfend besichtigt.
Bewegung und Ruhe, Dur und Moll, Hoch und Tief in ihrer herkömmlichen Bedeutung
ergänzen das Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in einem
grossen Rahmen, aber allein genommen ebensowenig Musik, als Wachsfiguren
Monumente zu nennen sind.
Und was kann schliesslich die Darstellung eines kleinen Vorgangs auf Erden,
der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar – gleichviel ob in der angrenzenden
Stube oder im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch das Weltall
zieht, gemeinsam haben? Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände
schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung, Erstarkung, Ermattung
(Beethovens letzte Quartette), Entschluss (Wotan), Zögern, Niedergeschlagenheit,
Ermunterung, Härte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das Überraschende,
das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren Widerklang äusserer Ereignisse,
der in jenen Gemütsstimmungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener
Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte Gefahr, nicht
die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche die Angst hervorruft; wohl einen
Leidenschaftszustand, aber wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft,
ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften,
Eitelkeit, Klugheit, in Töne umusetzen oder gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit
und Gerechtigkeit, durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie
ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit,
der seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische
Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufieden. Das kommt daher,
dass "arm" eine Form irdischer und gesellschaftlicher Zustände ist, die in
der ewigen Harmonie nicht zu finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden
Weltalls.
Der grösste Teil neuerer Theatermusik leidet an dem Fehler, dass sie die
Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt ihrer
eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen
während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die Bühne die Illusion eines Gewitters
vortäuscht, so ist dieses Ereignis durch das Auge erschöpfend wahrgenommen.
Fast alle Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen zu beschreiben,
welches nicht nur eine unnötige und schwächere Wiederholung, sondern auch
ein Versäumnis ihrer Aufgabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder
von dem Gewitter seelisch beeinflusst, oder ihre Gemüt verweilt infolge von
Gedanken, die es stärker in Anspruch nehmen unbeirrt. Das Gewitter ist hörbar
und sichtbar ohne Hilfe der Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen
vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik verständlich machen.
Wiederum gibt es "sichtbare" Seelenzustände auf der Bühne, um die sich
die Musik nicht zu kümmern braucht. Nehmen wir die theatralische Situation,
dass eine lustige nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge
entschwindet, indessen im Vordergrung ein schweigsamer, erbitterter Zweikampf
ausgefochten wird. Hier wird die Musik die dem Auge nicht mehr erreichbare
lustige Gesellschaft durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten
müssen: was die beiden vorderen treiben und dabei empfinden ist ohne jede
weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik darf, dramatisch gesprochen,
nicht sich daran beteiligen, das tragische Schweigen nicht brechen. Für bedingt
gerechtfertgt halte ich den Modus der alten Oper, welche die durch eine dramatisch-bewegte
Szene gewonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammenfasste und
ausklingen liess (Arie). Wort und Gesten vermittelten den dramatischen Gang
der Handlung, von der Musik mehr oder weniger rezitativisch gefolgt; an dem
Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz wieder ein. Das ist weniger
äusserlich, als man es jetzt glauben machen will. Wieder war es aber die
versteifte Form der "Arie" selbst, die zu der Unwahrheit des Ausdrucks und
zum Verfall führte. Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention
bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige Wirkung: aus diesem Konflikt
mit Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in der die Personen singend
agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahrscheinliche gestellt
sein müssen, auf dass eine Unmöglichkeit die andere stütze und so beide möglich
und annehmbar werden. Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste
Prinzip ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Verismus für die
musikalische Bühne als unhaltbar an.
Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese andere
Klarheit zu gewinnen: "An welchen Momenten ist die Musik auf der Bühne unerlässlich?"
Die präzise Antwort gibt diese Auskunft: "Bei Tänzen, bei Märchen, bei Liedern
und - beim Eintreten des Übernatürlichen in die Handlung." Es ergibt sich
demnach eine kommende Möglichkeit in der Idee des übernatürlichen Stoffes.
Und noch eine: in der des absoluten "Spieles", des unterhaltenden Verkleidungstreibens,
der Bühne als offenkundige und angesagte Verstellung, in der Idee des Scherzes
und der Unwirklichkeit als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des
Lebens. Dann ist es am rechten Platze, dass die Personen singend ihre Liebe
beteuern und ihren Hass ausladen, und dass sie melodisch im Duell fallen,
dass sie sich absichtlich anders gebärden als im Leben, anstatt dass sie
(wie in unseren Theatern und der Oper zumal) unabsichtlich alles verkehrt
machen. Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatürlichen, als
der allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der Empfindungen,
sich bemächtigen und dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder
in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die bewusst das
geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel
für die ernste Oper, der Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und
Maskenspiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf dass der Zuschauer der anmutigen
Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem
Erlebnis.
So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf
– soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke
einbüssen -, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung
kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische
Genuss zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Darsteller "spiele" –
er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im
geistigen Empfangen und Feinschmecken.
Auf solche Voraussetzungen gestützt, liesse sich eine Zukunft für die
Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte ich,
wird uns das Publikum selbst bereiten. Es ist, wie mich dünkt, angesichts
des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, dass die
meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern,
weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen,
weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht
verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden
Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend.
Denn das weiss das Publikum nicht und mag es nicht wissen, dass, um ein Kunstwerk
zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet
werden muss.
Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die
Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie zu
heben und ihr zu ihrem ursprünglichen "schwebenden" Zustand zu verhelfen.
Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser
Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen.
Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell.
Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung
zu bringen. Die Gesetzgeber aber verlangen, dass der Vortragende die Starrheit
der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe für umso vollkommener,
je mehr sie sich an die Zeichen hält. Was der Tonsetzer notgedrungen von
seiner Inspiration durch die Zeichen einbüsst, das soll der Vortragende durch
seine eigene wiederherstellen. Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das
Wichtigste, sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus
den alten Zeichen abgeleitet, - sie bedeuten nun die Tonkunst selbst. Läge
es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müsste ein und dasselbe Tonstück
stets in ein und demselben Zeitmass erklingen, sooft, von wem und unter welchen
Bedinungen es auch gespielt würde. Es ist aber nicht möglich, die schwebende
expansive Natur des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil.
Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte.
Grosse Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten
die Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie sie es nicht umsetzen
konnten – und immer nach den gegebenen Verhältnissen jener "ewigen Harmonie".
Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene
Zeichen. So wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.
"Notation" ("Skription") bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein
recht missverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition,
die ich mit "Transkiptionen" erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige
Kritik in mir hervorrief, veranlassten mich zum Versuch, über diesen Punkt
Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation
ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da
die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt.
Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart
und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden
muss, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. Es ist ähnlich wie
mit den Menschen. Nackt und mit noch unbestimmten Neigungen geboren, entschliesst
er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluss getrieben,
eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Einfall oder vom Menschen manches Originale,
das unverwüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick des
Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu
einer Sonate oder zu einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder zum Priester.
Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten
Transkription ist der Schritt verhältnismässig kurz und unwichtig. Doch wird
im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man,
dass eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust
dieser durch jene nicht entsteht. Auch der Vortrag eines Werkes ist eine
Transkription, und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden –
niemals das Original aus der Welt schaffen. Denn das musikalische Kunstwerk
steht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz unversehrt
da. Es ist zugleich in und ausser der Zeit und sein Wesen ist es, das uns
eine greifbare Vorstellung vom sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität
der Zeit geben kann. Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens
wie Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen Orchesterwerke
wie Übertragungen vom Klavier – und sinds in gewisser Weise auch.
Merkwürdigerweise steht bei den "Buchstabengetreuen" die Variationenform
in grossem Ansehen. Das ist seltsam, weil die Variationenform – wenn sie
über ein fremdes Thema aufgebaut wird – eine ganze Reihe von Bearbeitungen
gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art sie sind. So gilt
die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original ändert; und es gilt die Veränderung,
obwohl sie das Original bearbeitet.
"Musikalisch" ist ein Begriff, der den Deutschen angehört, und die Anwendung
des Wortes selbst findet sich in dieser Sinnübertragung in keiner anderen
Sprache. Es ist ein Begriff, der den Deutschen angehört und nicht der allgemeinen
Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und unübersetzbar. "Musikalisch"
ist von Musik hergeleitet, wie "poetisch" von Poesie und "physikalisch" von
Physik. Wenn ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen, so
ist das dasselbe, als ob ich sagte: Helmholtz war einer der physikalischsten.
Musikalisch ist: was in Rhythmen und Intervallen tönt. Ein Schrank kann musikalisch
sein, wenn er ein "Spielwerk" enthält. Im vergleichenden Sinne kann "musikalisch"
allenfalls noch wohllautend bedeuten. "Meine Verse sind zu musikalisch, als
dass sie noch in Musik gesetzt werden könnten," sagte mir einmal ein bekannter
Dichter.
"Spirits moving musically
To a lutes well-tuned law"
("Geister schwebten musikalisch zu der Laute wohlgestimmten Satz")
schreibt E. A. Poe; endlich spricht man ganz richtig von einem "musikalischen
Lachen", weil es wie Musik klingt. In der angewandten und fast ausschliesslich
gebrauchten deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,
der dadurch Sinn für Musik bekundet, dass er das Technische dieser Kunst
wohl unterscheidet und empfindet. Unter Technischem verstehe ich hier wieder
den Rhythmus, die Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die Thematik.
Je mehr Feinheiten er darin zu erkennen oder wiederzugeben versteht, für
um so musikalischer wird er gehalten. Bei dem grossen Gewicht, das man auf
diese Bestandteile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das "Musikalische"
von höchster Bedeutung geworden. Demnach müsste ein Künstler, der technisch
vollkommen spielt, für den meist musikalischen Spieler gelten; weil man aber
mit "Technik" nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint, so
hat man "technisch" und "musikalisch" zu Gegensätzen gemacht. Man ist so
weit gegangen, ein Musikstück selbst als "musikalisch" zu bezeichnen, oder
gar von einem grossen Komponisten wie Berlioz zu behaupten, er wäre es nicht
in genügendem Masse. "Unmusikalisch" ist der stärkste Tadel; er kennzeichnet
den damit Betroffenen und macht ihn zum Geächteten. In einem Lande wie Italien,
wo der Sinn für musikalische Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung
überflüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vorhanden. In Frankreich,
wo die Empfindung für Musik nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker.
Von den übrigen einige "aiment beaucoup la musique", oder "ils ne l'aiment
pas". Nur in Deutschland macht man eine Ehrensache daraus, "musikalisch"
zu sein, das heisst, nicht nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich
sie in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren Gesetze
einzuhalten. Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewachen wohlmeinend
seine Schritte, dass es nicht auffliege und so vor einem ernstlichen Fall
bewahrt bleibe. Aber es ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit
wird kommen. Wenn es aufhören wird, "musikalisch" zu sein.
Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlichkeit es ist -,
eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen lässt – die im Leben gilt wie
in der Kunst. Aber wenn im Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillianteren
Charaktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestechlichkeit –
noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als oberste moralische Qualität
gestellt. Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Geschmack
und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten auf Geschmack wie auf ein
tiefes und wahres Gefühl, und was den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches
Gebiet. Was übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit Rührseeligkeit
und Geschwollenheit bezeichnet werden muss, Und vor allem verlangt man seine
deutliche Sichtbarkeit! Es muss unterstrichen werden, auf dass jeder merke,
sehe und höre. Es wird vor den Augen des Publikums in starker Vergrösserung
auf die Leinwand projektiert, so dass es aufdringlich und verschwommen vor
den Augen tanzt; es wird ausgeschrien, dass es denen, die der Kunst fernstehen,
in die Ohren dringe; übergoldet, auf dass es den Unbemittelten Staunen entreisse.
Denn auch im Leben übt man mehr die Äusserungen des Gefühls, in Mienen und
Worten; seltener und echter ist jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden,
und am wertvollsten ein Gefühl, das sich verbirgt. Unter Gefühl versteht
man gemeinhin: Zartheit, Schmerzlichkeit und Überschwenglichkeit des Ausdrucks.
Was schliesst nicht noch alles in sich die Wunderblume der Empfindung! Zurückhaltung
und Schonung, Aufopferung, Stärke, Tätigkeit, Geduld, Grossmut, Freudigkeit
und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das Gefühl recht eigentlich
stammt. Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt, noch ausgesprochener
in der Musik, welche die Empfindungen des Lebens wiederholt: wozu jedoch
– wie ich betone – der Geschmack hinzutreten muss und der Stil; der Stil,
der Kunst vom Leben unterscheidet. Worum der Laie, der mediokre Künstler
sich mühen, ist nur das Gefühl im kleinen, im Detail, auf kurze Strecken.
Gefühl im grossen verwechseln Laie, Halbkünstler, Publikum (und leider auch
die Kritik!) mit Mangel an Empfindung, weil sie alle nicht vermögen, grössere
Strecken als Teile eines noch grösseren Ganzen zu hören. Also ist Gefühl
auch Ökonomie. Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack – als Stil
– als Ökonomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein Drittel des Ganzen. In ihnen
und über ihnen waltet eine subjektive Dreieinigkeit: das Temperament, die
Intelligenz und der Instinkt des Gleichgewichtes. Diese sechs führen einen
Reigen von so subtiler Anordnung der Paarung und der Verschlingung, des Tragens
und des Getragenwerdens, des Vortretens und Niederbückens, des Bewegens und
Stillstehens, wie kein kunstvollerer erkennbar ist. Ist der Akkord der beiden
Dreiklänge rein gestimmt, dann darf, soll zum Gefühl sich gesellen die Phantansie:
Auf jene sechs gestützt, wird sie nicht ausarten, und aus dem Vereine aller
Elemente ersteht die Persönlichkeit. Diese empfängt wie eine Linse die Lichteindrücke,
wirft sie auf ihre Weise als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das
richtige Bild.
Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert dieses – wie alles
– mit den Zeiten seine Ausdrucksformen. Das heisst: eine oder die andere
Seite des Gefühls wird zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig
gepflegt, besonders herausgekehrt. So war mit und nach Wagner eine schwelgerische
Sinnlichkeit an die Reihe gekommen: die Form der "Steigerung" im Affekt haben
die Komponisten noch heute nicht überwunden. Jedem ruhigen Beginnen folgt
ein rasches Aufwärtstreiben. Der darin unersättliche aber nicht unerschöpfliche
Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach einem erreichten Höhepunkte
wieder leise anzusetzen, um sofort von neuem anzuwachsen. Die neueren Franzosen
zeigen eine Umkehr: ihr Gefühl ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht
mehr noch eine zurückgehaltene Sinnlicheit: den bergigen aufsteigenden Pfaden
Wagners sind monotone Ebenen von dämmernder Gleichmässigkeit gefolgt. So
bildet sich im Gefühl der "Stil", wenn der Geschmack es leitet.
Die "Apostel der Neunten Symphonie" ersannen in der Musik den Begriff
der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte, zumal im germanischen Land. Es
gibt eine Tiefe des Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: die letztere ist
literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben. Die Tiefe des Gefühls
ist hingegen seelisch und der Natur der Musik durchaus zugehörig. Die Apostel
der Neunten Symphonie haben von der Tiefe in der Musik eine besondere und
nicht ganz festumrissene Schätzung. Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet,
sie durch Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann – durch Gedankenassoziationen
– in der Bevorzugung der "tiefen" Register und (wie ich beobachten konnte)
auch in einem Hineindeuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines
literarischen. Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
die bedeutsameren. Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der
Philosophie das Erschöpfende im Gefühl betrachten: das volle Aufgehen in
einer Stimmung. Wer mitten in einer echten, grossen karnevalischen Situation
griesgrämig oder auch nur indefferent herumschleicht, wer nicht von der gewaltigen
Selbstsatire des Masken und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über
die über die Gesetze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl in die Tiefe zu senken. Hier bestätigt
sich wieder, dass die Tiefe des Gefühls in dem vollständigen Erfassen einer
jeden – selbst der leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, - im Wiedergeben
ihre Blüten treibt: wohingegen die gangbare Vorstellung vom tiefen Gefühle
nur eine Seite des Gefühls im Menschen herausgreift und diese spezialisiert.
In dem sogenannten "Champagnerlied" aus Don Giovanni liegt mehr "Tiefe" als
in manchem Trauermarsche oder Notturno: Tiefe des Gefühls äussert sich auch
darin, dass man es nicht in Nebenflächlichem und Unbedeutendem vergeude.
Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben hinnehmen
und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vornherein als Ausnahme betrachten.
Er müsste für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes Gesetz suchen,
formen und es nach der ersten vollkommenen Anwendung wieder zerstören, um
nicht selbst bei einem nächsten Werke in Wiederholungen zu verfallen. Die
Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht, Gesetzen
zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.
Die Schaffenskraft ist umso erkennbarer, je unabhängiger sie von Überlieferungen
sich zu machen vermag. Aber die Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann
nicht Schaffenskraft vortäuschen, noch weniger erzeugen. Der echte Schaffende
erstrebt im Grunde nur die Vollendung. Und indem er diese mit seiner Individualität
in Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.
Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik-"amte" wird sie
beansprucht. Dass Routine in der Musik überhaupt existieren und dass sie
überdies zu einer vom Musiker geforderten Bedingung gemacht werden kann,
beweist aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine bedeutet:
Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden
Fälle. Demnach muss es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun
erträume ich mir gern eine Art Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein
neuer, eine Ausnahme wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und tatenlos
davor: es müsste schliesslich den Rückzug antreten und verschwinden. Die
Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das
Schaffen. Denn Schaffen heisst: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht
im Nachbilden. Sie ist die "Poesie, die sich kommandieren lässt". Weil sie
der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im
Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal,
als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet!
Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit
Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere Millionen,
die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine
Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand; meidet
die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure Stube erfüllt, und immer
wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet ihr, dass ihr euch kaum mehr
vom Lehnstuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift. Und Millionen
Weisen sind seit Anfang vorhanden und warten darauf, sich zu offenbaren!
"Das ist mein Unglück, dass ich keine Routine habe," schreibt einmal Wagner
an Liszt, als es mit der Komposition des "Tristan" nicht vorwärts wollte.
Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor anderen. Er hatte zuviel
Routine, und seine Kompositionsmaschinerie blieb stecken, sobald der Knoten
in ihr entstand, der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner
ihn schliesslich, wenn es ihm gelang, die Routine beisiete zu lassen; hätte
er aber wirklich keine besessen, so hätte er es ohne Bitterkeit behauptet.
Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die richtige künstlerische
Verachtung für die Routine aus, insofern als er diese ihn niedrig dünkende
Eigenschaft sich selbst abspricht und vorbeugt, dass andere sie ihm zuerkennen.
Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch-verzweifelt. Er ist
tatsächlich unglücklich, dass die Komposition stockt, tröstet sich aber reichlich
mit dem Bewusstsein, dass sein Genie über der billigen Handhabung der Routine
steht; zugleich kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich eingesteht,
eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zugehörige Könnerschaft nicht
sich angeeignet zu haben. Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven
Schlauheit des Erhaltungstriebes – beweist uns aber (und das ist unser Ziel)
die Geringheit der Routine im Schaffen.
So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine Ausdrucksform,
dass es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv gibt, auf das nicht ein anderes
bekanntes Motiv passte, so dass es zu gleicher Zeit mir dem ersten gespielt
werden könnte. Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren, enthalte ich
mich jedes Beispiels.
Plötzlich eines Tages, schien es mir klar geworden: dass die Entfaltung
der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des Komponisten
an dem Studium der Partituren. Wenn "Schaffen", wie ich es definierte, ein
"Formen aus dem Nichts" bedeuten soll (und es kann nichts anderes bedeuten);
- wenn Musik (dieses habe ich jedenfalls ausgesprochen) zur "Originalität"
nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll (ein "Zurück", das
das eigentliche "Vorwärts" sein muss); - wenn sie Konventionen und Formeln
wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;
- diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die
Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten
festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden mitfesseln.
Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den allerneuesten
Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden wir immer wieder
auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stossen,
die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer Beschränkung
liegt; dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der
Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende Überschwang des Violoncells,
der zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die
prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; derart, dass in einem neuen und selbständigeren
Werke notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und
dass der unabhängige Komponist in all dieses Unabänderliche hinein- und hinabgezogen
wird. Vielleicht, dass noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen
ausgebeutet wurden – die polyphone Harmonik dürfte noch manches Klangphänomen
erzeugen können –, aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn,
deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wohin wenden wir dann unseren
Blick, nach welcher Richtung führt der nächste Schritt? Ich meine, zum abstrakten
Klange, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin
müssen alle Bemühungen zielen, dass ein neuer Anfang jungfräulich erstehe.
Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative, die verantwortlich-grosse
Aufgabe haben, von allem Gelernten, Gehörten und Scheinbar-Musikalischen
sich zu befreien; um, nach der vollendeten Räumung, eine inbrünstig-akzentische
Gesammeltheit in sich zu beschwören, die ihn befähigt, den inneren Klang
zu erlauschen und zur weiteren Stufe zu gelangen, diesen auch den Menschen
mitzuteilen. Diesen Giotto eines musikalischen Rinascimento wird die Weihe
der legendarischen Persönlichkeit krönen. Der ersten Offenbarung wird sodann
eine Epoche religiöser Musikgeschäftigkeit folgen, daran kein Zunftwesen
einen Teil haben kann, insofern als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar,
und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem Zeitpunkt leuchtet
die volle Blüte, vielleicht die erste in der Musikgeschichte der Menschheit.
Ich sehe auch, wie die Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren
und wie der Orden entweiht wird... Es ist das Schicksal der Späteren, und
wir – heute – sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.
Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am nächsten rückt, sind
die Pause und die Fermate. Grosse Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen
auch dieses Ausdruckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Masse zu verwerten.
Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen, in dieser Umgebung selbst Musik,
lässt weiter ahnen, als der bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut
vermag.
"Zeichen" sind es auch, und nichts anderes, was wir heute unser "Tonsystem"
nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas von jener ewigen Harmonie festzuhalten;
eine kümmerliche Taschenausgabe jenes enzyklopischen Werkes; künstliches
Licht anstatt Sonne. Habt ihre bemerkt, wie die Menschen über die glänzende
Beleuchtung des Saales den Mund aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal
stärkeren Mittagssonnenschein. Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer
geworden als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können. Wie wichtig
ist doch die "Terz", die "Quinte" und die "Oktave". Wie streng unterscheiden
wir "Konsonanzen" und "Dissonanzen" – da, wo es überhaupt Dissonanzen nicht
geben kann! Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander entfernte Stufen
abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen mussten, und haben unsere Instrumente
so eingerichtet, dass wir niemals darüber oder darunter oder dazwischen gelangen
können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser Ohr gründlich eingeschult,
so dass wir nicht mehr fähig sind, anderes zu hören – als nur im Sinne der
Unreinheit. Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung – unendlich! wer
weiss es heute noch? Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir
noch eine Folge bestimmter Abstände abgedeckt, sieben an der Zahl, und darauf
unsere ganze Tonkunst gestellt. Was sagte ich, eine Folge? Zwei solche Folgen,
die Dur- und Moll-Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer
anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine neue Tonart,
und sogar eine fremde! Was für ein gewaltsam beschränktes System diese erste
Verworrenheit ergab, steht in den Gesetzbüchern zu lesen: wir wollen es hier
nicht wiederholen. Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden
Siebenfolgen, aber wir verfügen in der Tat nur über zwei: die Dur-Tonart
und die Moll-Tonart. Die anderen sind nur Transpositionen. Man will durch
die einzelnen Transpositionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe Stimmung herrscht, werden
die bekanntesten Werke um einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert
sind, ohne dass ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu ihrer
Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vorausgeht und folgt, untransponiert
spielen. Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten in drei
verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke bleiben in allen drei
Ausgaben vollkommen die nämlichen. Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster
sieht, so gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk herabschaut.
Könnte man eine Gegend, soweit das Auge reicht, um mehrere hundert Meter
erhöhen oder vertiefen, das landschaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren
noch gewinnen.
Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die Moll-Tonart, hat man
die ganze Tonkunst gestellt – eine Einschränkung fordert die andere. Man
hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter zugesprochen, man hat gelernt
und gelehrt, sie als Gegensätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung
von Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore – Befriedigung und
Unbefriedigung – Freude und Trauer – Licht und Schatten. Die harmonischen
Symbole haben den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter noch
bis heute und übermorgen, abgezäumt. Moll wird in derselben Absicht gebraucht
und übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen
Trauermarsch kann man heute nicht mehr "komponieren", denn er ist ein für
allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildeteste Laie weiss, was ihn erwartet,
sobald ein Trauermarsch – irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie
fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie voraus.
Seltsam, dass man Dur und Moll als Gegensätze empfindet. Tragen sie doch
beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich
genügt, eines in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum zweiten
ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und rasch, so beginnen die
beiden unerkenntlich ineinander zu flimmern. Erkennen wir aber, dass Dur
und Moll ein doppeldeutiges Ganzes und dass die "vierundzwanzig Tonarten"
nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei sind, so gelangen wir
ungezwungen zum Bewusstsein der Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe
von verwandt und fremd fallen ab – und damit die ganze verwickelte Theorie
von Graden und Verhältnissen. Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist
sehr dürftiger Art.
"Einheit der Tonart" – "Sie meinen wohl 'Tonart' und 'Tonarten' sind der
Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?" Nein, nicht das kann ich meinen.
Denn unser ganzes Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamtheit
selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten Strahls jender Sonne
"Musik" am Himmel der "ewigen Harmonie".
So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit in des Menschen Weise
und Wesen liegen – so sehr sind Energie und Opposition gegen Bestehendes
die Eigenschaften alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt
die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen widerspenstigen Menschen;
die Natur schreitet beständig fort und ändert unablässig, aber in so gleichmässiger
und unwahrnehmbarer Bewegung, dass die Menschen nur Stillstand sehen. Erst
der weitere Rückblick zeigt ihnen das Überraschende, dass sie die Getäuschten
waren. Deshalb erregt der "Reformator" Ärgernis bei den Menschen aller Zeiten,
weil seine Änderungen zu unvermittelt und vor allem, weil sie wahrnehmbar
sind. Der Reformator ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es
ist ganz folgerichtig, dass seine Änderungen erst dann Gültigkeit erlangen,
wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche
Weise eingeholt hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen
Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben. Und da muss man sie zwingen
und dazu peitschen, den Sprung über die versäumte Strecke zu springen. Ich
glaube, dass die Dur- und Moll-Tonart und ihr Traspositionsverhältnis, dass
das "Zwölfhalbtonsystem" einen solchen Fall Zurückgebliebenheit darstellen.
Dass schon einige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge
noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist in vereinzelnen Momenten
bereits bei Liszt und in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausgesprochener
zur Erscheinung gekommen. Der Drang und die Sehnsucht und der begabte Instinkt
sprechen daraus. Doch scheints mir nicht, dass eine bewusste und geordnete
Vorstellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe. Ich habe den
Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen,
und es gelang mir, durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 verschiedene
Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (innerhalb der Oktave C) begreifen
den grössten Teil der bekannten "24 Tonarten", ausserdem aber eine Reihe
neuer Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht
erschöpft, denn die "Transposition" jeder einzelnen dieser 113 steht uns
ebenfalls noch offen und überdies die Vermischung zweier (und weshalb nicht
mehrerer?) solcher Tonarten in Harmonie und Melodie. Die Skala c des es fes
ges as b c klingt schon bedeutend anders als die des-Moll-Tonleiter, wenn
man c als ihren Grundton annimt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen C-Dur-Dreiklang
als Harmonie unter, so ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man
höre aber dieselbe Tonleiter abwechselnd, vom A-Moll-, Es-Dur- und C-Dur-Dreiklang
gestützt, und man wird sich der angenehmsten Überraschung über den fremdartigen
Wohllaut nicht erwehren können. Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen
c des es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges a h c | c des
e f ges a b c | oder gar: c d es fes g ais h c | c d es fes gis a h c | c
des es fis gis a b c einreihen mögen? Welche Reichtümer sich damit für den
melodischen und harmonischen Ausdruck dem Ohr öffenen, ist nicht sogleich
zu übersehen; eine Menge neuer Möglichkeiten ist aber zweifellos anzunehmen
und auf den ersten Blick erkennbar.
Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten endgültig ausgesprochen
und begründet sein. Kaleidoskopisches Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen
in der Dreispiegelkammer des Geschmacks, der Empfindung und der Intention:
das Wesen der heutigen Harmonie.
Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: denn alles verkündet eine
Umwälzung und einen nächsten Schritt zu jener "ewigen". Vergegenwärtigen
wir uns noch einmal, dass in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist,
und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges uns zu nähern. Der Drittelton
pocht schon seit einiger Zeit an die Pforte, und wir überhören noch immer
seine Meldung. Wer, wie ich es getan, damit, wenn auch bescheiden, experimentierte
und – sei es mit der Kehle oder auf einer Geige – zwischen einem Ganzton
zwei gleichmässig abstehende Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das Treffen
übte, der wird zur Einsicht gelangt sein, dass Dritteltöne vollkommen selbständige
Intervalle von ausgeprägtem Charakter sind, mit verstimmten Halbtönen nicht
zu verwechseln. Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorläufig auf
der ganztönigen Skala zu basieren scheint. Führten wir dieselbe unvermittelt
ein, so verleugneten wir die Halbtöne, verlören die "kleine Terz" und die
"reine Quinte", und dieser Verlust würde stärker empfunden als der relative
Gewinn eines "Achtzehndritteltonsystems". Es ist aber kein Grund ersichtlich,
seinetwegen mit den Halbtönen aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton
einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganztönen, die um einen
halben Ton höher steht als die erste. Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen
in Drittelteile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren Reihe
ein entsprechender Halbton in der oberen. Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem
entstanden, und dass auch Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können
wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll aber vorerst das
Gehör mit Dritteltönen füllen, ohne auf die Halbtöne zu verzichten.
Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei Reihen Dritteltöne,
voneinander zum einen halben Ton entfernt, auf; oder: dreimal die übliche
Zwölftonreihe im Abstande von je einem Drittelton. Nennen wir, um sie irgendwie
zu unterscheiden, den ersten Ton C und die beiden nächsten Dritteltöne Cis
und Des; den ersten Halbton (klein) c und seine folgenden Dritteile cis und
des; die vorhergehende Tabelle erklärt alles Fehlende. Die Frage der Notation
halte ich für nebensächlich. Wichtig und drohend ist dagegen die Frage, wie
und worauf diese Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, dass ich
während der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische Nachricht
aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher Weise löst. Es ist die
Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills Erfindung. Dieser Mann hat einen umfangreichen
Apparat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom in eine
genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen zu verwandeln. Da die Tonhöhe
von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte
Zahl zu "stellen" ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung der Oktave
einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger eines Quadranten korrespondiert.
Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte Erziehung
des Ohres, werden dieses ungewohnte Material einer heranwachsenden Generation
und der Kunst gefügig machen.
Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellungen erwachen für sie!
Wer hat nicht schon im Traume "geschwebt"? Und fest geglaubt, dass er den
Traum erlebe? Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen;
befreien wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen;
lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen
und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein ein Vorrecht
der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den
Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als die
Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt;
sie ist doch tönende Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst
ebenso universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich zusammenballen
und auseinanderfliessen, ohne an Intensität nachzulassen.
In seinem Buche "Jenseits von Gut und Böse" sagt Nietzsche: "Gegen die
deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass man
den Süden liebt, wie ich ihne liebe, als eine grosse Schule der Genesung,
im Geistigen und Sinnlichen, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnenverklärung,
welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet:
nun, ein solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in acht nehmen lernen,
weil sie, indem sie seinen Geschmack zurückverdirbt, ihm die Gesundheit mit
zurückverdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben
nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung
der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren,
vielleicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer
überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen, wollüstigen Meeres
und der mittelländischen Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblasst,
wie es alle deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor
den braunen Sonnenuntergängen der Wüste recht behält, deren Seele mit der
Palme verwandt ist und unter grossen, schönen, einsamen Raubtieren heimlich
zu sein und schweigen versteht. Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltener
Zauber darin bestände, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur
dass vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgendwelche goldne Schatten und
zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche
von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlichen
gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich
und teif genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre..." Und Tostoi
lässt einen landschaftlichen Eindruck zu Musikempfindung werden, wenn er
in "Luzern" schreibt: "Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am Himmel
eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte Farbe, ein riesiger Ruhepunkt
– überall Bewegung, Unregelmässigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches
Ineinanderfliessen von Schatten und Linien, und in allem die Ruhe, Weichheit,
Harmonie und Notwendigkeit des Schönen."
Wird diese Musik jemals erreicht? "Nicht alle erreichen das Nirwana; aber
jener, der von Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen soll,
alles durchlebt, was man durchleben soll, verlässt, was man verlassen soll,
entwickelt, was man entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen
soll, der gelangt zum Nirwana." (Kern, "Geschichte des Buddhismus in Indien").
Ist Nirwana das Reich "Jenseits von Gut und Böse", so ist hier ein Weg dahin
gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit
trennt – oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jenseits
der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst. Vielleicht, dass wir erst selbst
die Erde verlassen müssen, um sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der
der irdischen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewusst, öffnet sich das
Gitter.