KLAUS KROPFINGER

BUSONIS UTOPIE DER MUSIK UND

DAS BERLIN DER ZWANZIGER JAHRE

QUADERNI DI M/R 11

IL FLUSSO DEL TEMPO
SCRITTI SU FERRUCCIO BUSONI

pp. 190-206


IL CURATORE DELLA BUSONI WEBSITE RINGRAZIA DI CUORE IL PROF. DR. KLAUS KROPFINGER PER IL GENTILE E GENEROSO PERMESSO DI PUBBLICAZIONE DI QUESTO SAGGIO. COL TEMPO TUTTO IL TESTO SARÀ AMPIAMENTE CONTESTUALIZZATO.

Ferruccio Busoni lebte in Berlin seit 1894 und Berlin blieb - nur unterbrochen durch Konzertreisen und den Zürichaufenthalt während des 1. Weltkrieges - sien Wohnsitz. Doch als Busoni am 27. Juli 1924, nur 58-jährig, in Berlin starb, hatte er nicht mehr als knapp vier Jahre am aufregenden Geschehen der zwanziger Jahre teilgehabt. Was also konnte sein Beitrag zu dieser Zeit sein? Was macht seine Bedeutung für diese Zeit gerade in Berlin aus, da doch erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, nach Beendigung der Inflation in Deutschland, das kulturelle Leben gerade auch in der preußischen Metropole die Intensivierung erfuhr, die der Musik, und namentlich der neuen Musik zugute kam? Man denke nur an die Krolloper!

In den Diskussionen um die neue Musik wird Busoni heute zudem ohnehin vielfach eher am Rande erwähnt. Als Komponist stuft man ihn, was seine avancierten Kompositionen angeht, gewöhnlich als Neo-Klassizist ein (1), als einen Künstler, der zwar bleibenden Ruhm erlangte, der aber mit dem eigenen Schaffen, gemessen an Schönberg, Berg Webern und Stravinskij fast nur Marginalien des Fortschritts schrieb. Seinen Ruhm als Mann der Avantgarde verdankt er vorwiegend dem 1907 erstmals erschienenen Entwurf einer neuen Asthetik der Tonkunst (2). Doch steht die darin entwickelte Asthetik nicht einer angemessenen Beurteilung des kompositorischen Schaffens, und damit dessen Ruhm, im Wege? Besteht nicht eine tiefgreifende Diskrepanz zwischen der dort errichteten kühnen Perspektive der Zukunft und den eigenen Werken? Wo sind die Drittel - und Sechsteltöne, wo ist das neue Instrumentarium, wo ist die aus den Angeln des Herkömmlichen gehobene Musiksprache? Hatte Pfitzner womöglich Recht, der sich bei der Lektüre von Busonis Schrift mit ihren »transzendentalen Versprechungen und andrerseits Sechsteltönen« an einen »Roman von Jules Verne« erinnert fühlte, »der einen zur Reise nach dem Mond einlädt und das Gelingen durch trockene Zahlen und Berechungen glaubhaft machen will, wovon sich weder der wissenschaftliche Belehrung Suchende, noch der künstlerischen Genuß Erwartende Wahrhaft befriedigt fühlen wird?« (3).
Wir müssen den Bogen bei der Betrachtung von Busonis Leben weit spannen; wir müssen sein künstlerisches und ästhetisches Denken in seiner ganzen Tragweite sehen, um diese Fragen und Problemen gerecht zu werden. Dabei geht es wesentlich auch um Busonis Grundhaltung und ihre Ausstrahlung. Wir werden seine horizonterweiternden Orchesterkonzerte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin ebenso zu berücksichtigen haben wie seine Beziehungen zu Arnold Schönberg; seine Ablehnung des Krieges und der sozialen Deformierung des Menschen, die Umsetzung seiner künstlerischen Ideen ins Kunstpolitische durch Kestenberg, ihre Korrespondenz mit Aufführungsstil und Programmgestaltung der Krolloper; schließlich aber geht es um die Dimension und die Differenzierung der künstlerischen Utopie selbst, deren Tragweite übers eigene Schaffen hinauswies.
Wenn es eine Persönlichkeit des musikalischen Lebens in Berlin gab; die bereits vor dem ersten Weltkrieg Arbeit fir die Zukunft und damit Auch für die Zwanziger Jahre leistete, dann Ferruccio Busoni (4). Über die zwischen »1902 und 1909 veranstalteten Orchesterkonzerte Busonis mit neuen oder selten aufgeführten Werken« (5) schreibt Busonis Schüler Leo Kestenberg:

Die ganz einmalige, bedeutsame Persönlichkeit Busonis, seien großartige mäzenatenhafte Generosität konnte sich kaum überzeugender entfalten als in der kaum glaubhaft selbstlosen Veranstaltung dieser Konzerte - im ganzen 12 an der Zahl -, die ein ganzes Vermögen verschlangen, das er mit seinen 10 Fingern - wie er schrzhaft sagte - verdienen mußte; denn es gab fast nur Freikarten fir diese Konzerte. (6)

Die Liste der urgeführten Werke enthält neben heute vergessenen Komponisten-Namen wie: Edward Elgar, Camille Saint-Saëns, Frederick Delius, Vincent d'Indy, Claude Debussy, César Franck, Hans Pfitzner, Jean Sibelius, Gabriel Fauré, Hector Berlioz, Franz Liszt und Bela Bartok.
Man muß, was diese Konzerte angeht, sicherlich über Kestenbergs Charakterisierung hinausgehen und hervorheben, daß hier bereits eine Grundvoraussetzung der Busonischen Utopie sichtabar wird: die weite Perspektive seines geistigen Horizonts, in der die Erscheinungen der Zeit nicht nur als Ereignisse des jeweiligen historischen Augenblicks erfaßt, sondern auch ihre Strahlkraft ins Zukünftige spekulativ und tätig zugleich gemessen wurde. Diese Konzerte haben aber für die heutige Betrachtung auch in der Publikumsreaktion Aussagewert. Das gilt in besonderem Maße für Busonis eigenes Schaffen. Nicht allein die Werke Busonis, sondern vielmehr auch die Antwort des Publikums auf sie kann als Indiz dafür genommen werden, ob und in welchem Maße Busoni seiner Zeit vorauskomponierte.
In einem dieser Konzerte, dem vom 10. November 1904 (7), kam Busonis Concerto für Pianoforte und Orchester mit Männerchor op. 39 (8), zur Aufführung, und dieses Werk bewirkte einen Skandal, wie er auch bei der etwa gleichzeitigen Aufführung Schönbergscher Kompositionen sich einstellte. Das Konzert endete in einer Szene wilden Tumults (9) und das Echo der Presse war fast durchweg negativ. Die »Tägliche Rundschau« schrieb:

Fünf Sätze hindurch wurden wir mit einer Flut von Kakophonie überschwemmt; ein 'pezzo giocoso' malte die Freuden sich am Krieg berauschender Barbaren und eine 'tarantella' die Orgien von Absinth-Trinkern und Dirnen; schließlich zeitge uns der 'cantico' zu unserem Entsetzen, daß ein Komponist den sonderbaren Humor einer Männerchor-Vereinigung ernst nehmen kann. Es war schrecklich! (10)

Busonis geistige Weite bewährte sich als Offenheit fürs Neue und Zukunftsweisende vor allem in seinem Verhältnis zu Arnold Schönberg.
Es war bereits zu dieser Zeit, daß Busoni mit Schönberg in Berührung kam. Im Frühjahr 1903 bot Schönberg Busoni Pelleas und Melisande zur Aufführung an (11). Busoni, der daraufhin um die Partitur bat und diese auch erhielt, zögerte aber, gerade dieses, für das Berliner Publikum sicherh zu weit gehende Werk aufzuführen (12). Stattdessen setzte er die von Schönberg instrumentierten Syrischen Tänze Heinrich Schenkers auf das Programm des III. Konzerts (13).
Der Grund für Busonis Verzicht auf Schönbergs Pelleas und Melisande mag freilich auch in seiner eigenen Stellung zu dieser Komposition begründet gewesen sein. In einer Postkarte vom 15. 10.1903 bezeichnet Busoni Schönberg als »Meister des Orchesters«, aber er gesteht, daß er sich »über den Inhalt des Werkes noch nicht sicher werden« könne (14). Gleichwohl war Busoni in seiner Offenheit gegenüber Schönbergs neuen künstlerischen Ansätzen und Bestrebungen beharrlich. Am 16. Juli 1909, also noch vor Schönbergs zweiter Übersiedelung nach Berlin, schrieb er ihm, daß er seine Kammersymphonie (op. 9) habe aufführen wollen. Das war - wohlgemerkt - nach der protestumwitterten Wiener Aufführung. Das Konzert kam aus äußeren Gründen nicht zustande; gleichwohl brachen die Kontakte nich ab, hatte doch Busoni im gleichen Brief um Schönbergs damals bereits beendete Klaviertstücke op. 11, Nr. 1 und 2, gebeten (15). Wegen des zweiten Klavierstücks kam es bekanntlich zu einer künstlerischen Auseinandersetzung, die ein Licht auf die zwischen Busonis und Schönbergs künstlerischem Denken bestehenden Unterschiede wirft.Busoni anerkannte und würdigte die Klavierstücke als »verfeinerte künstlerische Gebilde« einer »subjektiven, eigenartigen u[nd] auf das Gefühl gegründeten Kunst« (16). Was er aber kritisierte, das ist »die wenige Breite des Satzes im Umfange des Zeit u[nd] des Raumes«, die »allzu große Concision« (17). Bestimmend hierfür war sein »Eindruck als Klavierspieler«. Busoni ließ es bei dieser Kritik jedoch nicht bewenden. Er bearbeitete - oder er »instrumentierte« das Stück »um« (18), und er modifizierte es damit zu einer »konzertmäßigen Interpretation« (19). Damit allerdings nahm er dem Schönbergschen Klavierstück das spezifische kompositorische Profil. Schon hier wird deutlich, daß Schönbergs Intensivierung und Komprimierung der musikalischen Gestaltung seien Sache nicht war. Schönberg hat diese Umformung 1910 postwendend mit der Bemerkung quittiert, Busoni verstehe sein Stück nicht. Busoni hat Schönberg diese Äußerung nicht etwa verübelt. Der Eindruck Schönbergs auf ihn war viel zu stark. Als Schönberg im Jahre 1911 erneut nach Berlin kam, gehörte Busoni an erster Stelle zu denen, die Schönbergs Kommen möglich gemacht haben. Mit Oskar Fried, Arthur Schnabel, Edward Clark und Alfred Kerr unterzeichnete er einen Aufruf in der Zeitschrift »Pan«, in dem »künftige Schüler Schönbergs aufgefordert wurden, ihre Namen der Zeitschrift wissen zu lassen« (20). Schönbergs Wünsche und Vorstellungen erfüllten sich in Berlin dann zwar nicht in dem Maße, wie er es erwartet hatte; an der weitgehenden Hilfe, die Busoni ihm zukommen ließ, kann indes kein Zweifel bestehen. Hierzu gehört auch, daß er seinen Schüler Eduard Steuermann, der einen entsprechenden Wunsch geäußert hatte, Schönberg sofort überließ. Außerdem war er beteiligt am Zustandekommen des Morgenkonzertes mit Werken Schönbergs im Harmonium-Saal am 4. Februar 1912. Er besuchte dieses Konzert auch, in dem zwei seiner Schüler mitwirkten. Danach verfaßte er für den »Pan« einen knappen Konzertbericht, in dem die Faszination zum Ausdruck Kommt, die das Konzert vermittelte, aus dem aber auch die Schwierigkeit des Verstehens spricht, der diese Musik sich gegenübersah (21). Schließlich fand in seiner Wohnung auch eine Aufführung von Pierrot Lunaire statt (21 a).
Busoni war nicht kritiklos, aber er erkannte und anerkannte in Schönberg einen »höchst eigenartigen, ja seltsamen, jedoch... zielbewußten Geist« (22). Das gleiche gilt für Schönbergs Haltung gegenüber Busoni: .»... er ist zweifellos ein genialer Mensch. Jedenfalls weitaus das beste, was ich bisher kennenlernte«, dies die Notiz vom 29. Januar 1912 in Schönbergs Tagebuch (23). Und angesichts der in einem Konzerte Oskar Frieds aufgeführten Berceuse élégiaque spricht er nach vorangehendem Vorbehalt gegen den Komponisten Busoni von einem »direkt ergreifenden Stück« (24). Es war die Komposition, die er dann 1920 für den »Verein fir musikalische Privataufführungen« instrumentieren (25) ließ.
In der Intensität und in der Offenheit der geistig-künstlerischen Auseinandersetzung zwischen Busoni und Schönberg baute sich gleichsam antizipierend etwas von der atmosphärischen geistigen Spannung auf, die das kulturelle Klima Berlins während der zwanziger Jahre in seinen positiven Aspekten prägen sollte. Hinzu kam freilich noch ein wichtiges und ebenfalls antizipierendes Element: die Ablehnung des Krieges als Kunst, Menschen und Menschlichkeit zutiefst erschütterndes - wenn nich zerstörendes - Geschehen. Busoni erfaßte die Witterung der Katastrophe fern der Ereignisse, aber doch nahe dem Kontext, während einer Konzertreise in Amerika:

Ich glaubte, alle Zeiten wären gleich - aber diese ist schlimmer -. Jeder Mensch müßte sich selbst bekämpfen (das ist's worauf zu wenig Wichtigkeit gelegt wird) und jedes Land hätte genug zu thun und zu opfern, um sich selbst zu reinigen. - Und der Maschinen-Wahnsinn ist ebenso wenig vorwärstbringend, ebenso tödtend und unglückfürdernd wie der Krieg.
Die großen Arbeitgeber opfern für ihre eigene Genugthuung hundert Tausende von Menschen-Existenzen, nicht anders, als die Kriegsmacher.
Schaut man in das Herz des Industriedistriktes von England, so gibt das ein ebenso höllisches Bild, als das eines Schlachtfeldes. Arbeiter und Soldaten haben ein gleiches Los, eine identische Situation.
(26)

Das sind Gedanken, die auch hinter Busonis Züricher Antikriegsartikel stehen, auf den Schönberg am 14.11.1916 mit einem an Busoni gerichteten Brief reagierte:

Lieber, vereherter Herr Busoni, ich höre, daß Sie in Zürich sind, daß Sie einen Artikel über den Frieden geschrieben haben... Ich leide furchtbar unter diesem Krieg. Wie viele intime Beziehungen zu den feinsten Menschen hat er mir zerrissen; wie hat er mein halbes Denken mit Beschlag belegt und mir gezeigt, daß ich mit der anderen Hälfte sowenig weiter existieren kann wie mit der mit Beschlag belegten... Dürften wir zwei und unseresgleichen in allen Ländern uns zusammensetzen und über den Frieden beraten, in einer Woche würden wir ihn der Welt schenken und tausend Ideen dazu, die für die halbe Ewigkeit, für einen halbwegs ewigen Frieden reichten. (27)

Busoni konzessionslose Kritik an der von Menschen inszenierten maschinellen und kriegerischen Zerstörung vervollständigt das Bild seiner Persönlichkeit auf eindrucksvolle Weise. Zur höchsten kompositorischen Kompetenz - um von der des Pianisten hier ganz zu schweitgen - und einer weitgespannten künstlerischen Perspektive kam eine aufs Ideal der Menschlichkeit gerichtete Negation der Mensch und Gesellschaft deformierenden Prozesse und Konstellationen. So kann es nicht verwundern, daß Busoni von Leo Kestenberg, seinem Freund und ehemaligen Schüler und als überzeugter Sozialist seit 1918 Referent im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, im Jahre 1920 zum Professor und Leiter einer Meisterklasse für musikalische Komposition an der Staatlichen Akademie der Künste vorgeschlagen und daraufhin auch berufen wurde (28). Kestenberg schreibt dazu in seiner Autobiographie:

Diese Berufung Busonis im Jahre 1920 als Vorsteher einer Meisterklasse für musikalische Komposition an die Akademie der Künste in Berlin erfüllt mich noch heute mit ganz besonderer Genugtuung, denn obwohl sie zuerst von meinen Widersachern und Feinden als eine von dem Freund und Schüler des Meisters amtlich veranlaßte 'Protektion' angegriffen wurde, erwies sich diese Berufung doch als großer Erfolg, da Busoni sich seinen Schülern als Kompositionslehrer mit aller Hingabe und Verve widmete und auch sonst mit ihnen in freundschaftlich regem Verkehr stand, was außerordentlich günstige Resonanz in der musikalischen Offentlichkeit fand. Von seinen international berühmt gewordenen Schülern seien hier nur Philipp Jarnach, Waldimir Vogel und Kurt Weil genannt. Jarnach hatte später die große und verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen, Busonis letztes Opernwerk 'Dr. Faust', über dem er starb, zu Ende zu fuhren. (29)

Wer war, welche Ziele verfolgte Leo Kestenberg? Franz Beidler, Enkel Richard Wagners und 6 Jahre Mitarbeiter Kestenbergs, schildert ihn als eine

Persönlichkeit... gekennzeichnet durch ein wunderbares Gleichgewich der Kräfte, des Verstandes und der musisch-künstlerischen Kräfte. Dazu von einer Fülle, von einer Rundung und Geschlossenheit des Geistes, ein selten großartiger Manz dazu von einer unglaublichen Beherrschtheit und Gebändigtheit.

Gespeist wurde sein Denken einmal aus einer reformatorischen zum anderen aus einer revolutionären Grundidee. Als Schüler und Sekretär Busonis war Kestenberg natürlich vertraut »mit dessen musikreformerischen Bestrebungen«, und er hat versucht sie zu verwirklichen. Er knüpfte damit übrigens stark an Liszts musikreformerischen Intentionen im 19. Jahrhundert an. Darüber hinaus war Kestenberg aber »Sozialist aus seiner tiefen Überzeugung« und als solcher war er »durchdrungen von der Kulturmission des sozialismus«. Das aber bedeutete zweierlei: 1. Die Kust dem Volke, d. h. dem Volk als klassenloser Gesellschaft und 2. »Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Müsik« (30).
Diese Ausführungen Beidlers unterstreichen und kommentieren die Worte von Kestenbergs langjährigem Vorgesetzten Carl Heinrich Becker, Staatssekretär und dann auch Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, der schon 1930 sein Glückwunschschreiben zu dessen 50. Geburtstag mit dem Satz abschloß:

In alle Ihrer Wirksamkeit stand und steht Ihnen, wie Sie es einst in Leben und Lehre Ihres Meisters Busoni erfahren hatten, ein ganz bestimmtes Erziehungsideal vor Augen...: Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik. (31)

Man geht sicherlich nicht zu weit, wenn man Kestenberg als eine in ganz exzeptioneller Weise die Möglichkeiten seiner Zeit tatkräftig erfassende, zugleich aber utopisch über sie hinausblickende und hinausdenkende Persönlichkeit bezeichnet. Durch ihn wurde der Geist der Busonischen Persönlichkeit bezeichnte. Durch ihn wurde der Geist der Busonischen Utopie in Kulturpolitik umgesetzt. Das drückt sich nicht zuletzt auch in der nach Busonis Tod 1924 verwirklichten Berufung Schönbergs als dessen Nachfolger und in der Berufung Franz Schrekers als Direktor der Hochschule für Musik aus.
Mit diesem Grundsatz sind wir mitten in Busonis Utopie.
Von Busonis Utopie zu sprechen erscheint deswegen angebracht, weil alle in ihr vereinigten Züge über das Bewußtsein der Zeit weit hinauswiesen. Ja, mehr und wichtiger noch: das Ziel lag jenseits des auch für Busoni selbst einzusehenden Horizonts; und schließlich: Busonis Utopie barg einen inneren Widerspruch oder Zwiespalt, der ihre Realisierung in dem Sinne wie sie Busoni vorschwebte für ihn selbst jedenfalls unmöglich machte.
Busonis Utopie ist nicht einschichtig, ist nicht schlicht auf einen Nenner zu bringen. Sie verbindet - als frühen Gedanken - eine kompositorisch ästhetische Komponente, nämlich dir Forderung nach Befreiung der Musik von allen formalen und tonalen Fesseln, mit der spät formulierten Idee einer »jungen Klassizität«, d. h. die Integration aller bisherigen Experimente zu einer neuen, rein musikalischen Einheit. Diese beiden Aspekte fallen zusammen in der Vorstellung einer noch zu gewinnenden genuinen, der eigentlichen Musik. Als deren höchste Forme dachte er die Oper. Busoni forderte die Oper als das »musikalische' Gesamtkunstwerk; im Gegensatz zum Bayreuther Gesamtkunstwerk« (32). Diese Oper sollte als Scheinwelt sich darbieten, nicht das Publikum als Wirklichkeit packen und damit das private Gefühl des Einzelnen ansprechen: sie sollte ihn zum »geistigen Empfangen« führen. Gerade diese Musik, diese hochentwickelte Kunstform der Oper verlangte indes - und hier setzten Kestenbergs Bestrebungen ein - eine durch Erziehung, durch geistige, ästhetische und moralische Formung angehobene menschliche Existenz. Diese Zielsetzung war nicht in der Frist weniger Jahre zu erreichen, die Krise und schließliche Auflösung der Krolloper im Jahre 1931 sollte es beweisen.
Busoni hat diese Problematik schon im Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst umrissen:

Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um eine Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.
(33)

Busonis kritische Einstellung zum Publikum war also eine Funktion seines zukunftsgerichteten, antizipierenden Denkens und Komponierens. Vor der Hintergrund diese Feststellung erweisen sich Busonis Berliner Konzerte zwischen 1902 und 1909 nicht nur als eine Öffnung des Konzertbetriebs und eine Chance für das Neue, sondern auch als Einrichtung zu einer - freilich mühsamen und langwierigen - Gewöhnung und möglicherweise auch Erziehung des Publikums. Und die nach seiner Berufung nach Berliner in den Jahren 1920 und 1921 wieder einsetzenden Konzerte mit eigenen Werken sind als Fortsetzung der früheren Bestrebungen zu verstehen. Es handelte sich aber zugleich auch um eine Erweiterung und Konzentration; beschränkte sich Busoni doch nun auf die Aufführung eigener Werke, wenn er nicht als Pianist mit Kompositionen Mozarts und Beethovens hervortrat. Busonis eigene Kompositionen fanden dabei alles andere als ungeteilten Beifall. Dabei wurden die vom »Anbruch« veranstalteten drei Konzerte des Januar 1921 von Worten Oskar Bies über die Erscheinung Busonis begleitet. Doch gerade Bies Ausführungen provozierten den Spott der Kritik, einen Spott zu Lasten Busonis. So heißt es in der Vossischen Zeitung:

Zwischen dem ersten und dem zweiten des vom 'Anbruch' veranstalteten Busonizyklus spricht Oskar Bies - im Auftrage des 'Anbruch' - über die Erscheinung Busonis. Er lehnte ein endgültiges Urteil ab und sucht vielmehr die legendenumwobene Persönlichkeit des Meisters in ihrem tiefsten menschlichen Wesen zu erfassen. Die Ausstrahlungen dieses Wesen sind ihm bedeutungsvoll und wichtig nur als zentraler Ausdruck eines Menschen, der das Höhere will. Der Ursprung der Legende, die sich um Busoni gebildet hat, wird durch die interessanten Ausführungen des Redners nicht erklärt, und die Legende findet keine Rechtfertigung. Wir müssen uns einstweilen damit begnüngen, in Busoni den Menschen zu sehen, der das Höhere will. (34)

Es ist dieser Tenor der Ironie, mit dem in der Rezension am Beispiel eines E.T.A. Hoffmann nachgebildeten jungen Konzertbesuchers auch die Gefolgschaft des Meisters abgetan wird. Die Kompositionen aber werden an Johann Strauß und Richard Strauss gemessen und als wenig überzeugend charakterisiert. Zu den beiden Stücken aus Doktor Faust - Sarabande und Cortège - schließlich heißt es: »Die zwei Studien zur 'Faust'-Musik... verraten den sublimen Geist ihres Schöpfers in Linien und Farben, seine sezessionistischen Gelüste, sein Streben nach vorwärts, aber sie haben etwas Schattenhaftes infolge der Unkraft des Gedankens, die nun doch einmal ein Charakteristikum des Busonischen Schaffens ist.« (35)
Busoni zukunftsorientiertes Komponieren wurde mittlerweile also zur Kenntnis genommen, aber man brachte es auf den gemeinsamen Nenner allen Unverständnisses gegenüber dem in der Kunst Ungewohnten und Utopischen: auf den Nenner des intellektuellen Gedankens, der neben dem eigentlich musikalischen nicht lebensfähig sei.
Die Stimmen des Unverständnisses und der Ablehnung setzten sich auch gegenüber den anderen Werken Busonis fort, die bis zu seinem Tode noch in Berlin aufgeführt wurden. Das gilt namentlich für Turandot und Arlecchino, die in Mai 1921 ihre Berliner Erstaufführung erlebten (36). Doch es gab auch positive Stimmen, die zeigen, wie stark die Meinungen auseinanderklafften. So wurde Arlecchino in den »Musikblättern des 'Anbruch« als »geistvolle Persiflage der Oper in der Gegenwart« (37) herausgestellt und die Aufführung in der Staatsoper als eine besondere Leistung Erich Kleibers gewürdigt. In der Tat besteht zwischen Busonis Arlecchino, der das Prinzip des Busonischen »Lachspiegels« besonders virtuos verkörpert, und Weills Brecht-Vertonungen, man denke nur an die Dreigroschenoper eine unübersehbare Beziehung. Weill hat dabei nicht nur in Verbindung mit der aktualisierenden Nachschöpfung der Beggar's opera von Gay und Pepusch ein Moment der Opernparodie ins Spiel gebracht, er hat durch die Betonung rhythmischer Modelle, durch die sprachliche Gebrochenheit des Melodischen, geschlossene und szenisch konzentrierte Formen und die sog. »Halbtonlabilität« (38) Elemente verwendet, die sich schon bei Busoni finden. Durch seinen auf Distanzierung von romantischem Überschwang eingestimmten Kunstwillen hat Busoni aber auch auf die Entwicklung eingewirkt, die man als »neusachlich« zu bezeichnen gewohnt ist.
Und doch: auch und gerade hier bewahrt Busoni Eigenständigkeit. Denn gerade den aktualisierenden Zeitbezug, der zahlreiche Kompositionen der zwanzigen Jahren zur »Zeitoper« werden ließ, vermeidet er durchweg. Hier liegt wohl auch ein Grund dafür, daß seine Opern in den zwanzigen Jahren - und das gilt auch fur Berlin - nur aüßerst selten aufgeführt wurden (39). Busonis Opern sind nur über eine grundsätzliche Thematik auf aktuelle Fragen zu beziehen, vom flüchtigen Tagesereignis sind sie abgehoben.
Es ist deshalb umso, frappierender, übergeordnete Korrespondenzen feststellen zu können. So muß auffallen, daß das aus vielfältig neuen Kompositionen von Strawinsky, Krenek, Hindemith, Milhaud, Schönberg und Janacek auf der einen Seite und Repertoire-Opern, ja Operetten, auf der anderen sich zusammensetzende Spielplanbild der Krolloper gerade das umreißt, was Busonis Bregriff der »jungen Klassizität« bestimmt: ein aus den historischen Strömungen insgesamt zu gewinnendes und doch über sie hinausweisendes Neues.
Und auch der Aufführungsstil der Krolloper wirkt wie ein - wenn auch sicherlich nicht gesteuerter - Refle auf Busonis Asthetik. Klemperers Interpretation stellte an der Krolloper eindeutig das Musikalische in den Mittelpunkt, zugleich aber praktizierte er das, was man als »objektives Musizieren« bezeichnet hat, ein Musizieren, das bei aller Intesität gebändigt und an der Formspannung orientiert war (40). Spielplan und Aufführungsstil der Krolloper korresponiderten also mit bestimmten Elementen der Busonischen Utopie. Und kaum zufällig wohl war einer der wesentlichen Bühnengestalter der Krolloper, Ewald Dülberg, ein Freund Busonis.
Es wäre zu fragen, inwieweit Busonis allzu früher Tod die Wirkung und Ausbreitung seiner Musik eingedämmt und verlangsamt hat. Möglichkeiten, wie sie sich mit den Donaueschinger Musiktagen boten, konnte er nicht mehr ausschöpfen. Vor allem aber blieb seine letzte und »eigentliche« Oper Doktor Faust unvollendet. Das verzögerte die Dresdner Uraufführung; die Kritik an dem Werk aber blieb unerwidert. Die von Leo Blech geleitete Berliner Erstaufführung am 27. Oktober 1927, die vierte Aufführung nach Dresden, Hamburg und Frankfurt, war glanzvoll und großartig in der sängerischen Leistung. Beim Publikum aber weckte sie nur »temperierte Bewunderung« angesichts »der Geistigkeit, die in diesem Werk eines adligen Künstlers niedergelegt ist«. Neben dieser Pressenotiz werden jetzt aber auch positive Töne hörbar. Von »Bewunderung des künstlerischen Reichtums« ist jetzt die Rede und von »der Liebe zu einem Mann, der in einsamen Ringen neue Ausdrucksformen suchte und fand, und dem es gelang, einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung unserer zeitgenössischen Musik zu gewinnen« (41). Diese überraschenden Bermerkungen werden indes sogleich wieder eingeschränkt. Kritisiert wird, daß das reine artistische Vergnügen durch matte und ausgedehnte Partien eingeschränkt werde; und so könne auch die Schwäche des Buches, die Tatsache, daß es sich um »kein Drama an sich handle«, nicht ausgeglichen werden (42). Diese Rezension zeigt, daß der Schreiber, indem er vom wirklichen Drama als Maßstab spricht, gerade das Kriterium anlegte, das Busoni in seiner Schrift Über die Möglichkeiten der Oper als für die Rezeption seines Werkes ungeeignet abgelehnt hatte (43).
Was die Kritik hier mit Mißfallen festhielt, schloß ohne Zweifel das ein, was der Busoni-Schüler Wladimir Vogel als Aussage Busonis aus dem Jahre 1923 über die Fuge als Prinzip und nicht als festgeftigte Form berichtet hat (44). In dieser funcktionalen Auffassung erweist sich das Fugenprinzip als Element der »jungen Kiassizität«. In diesem Sinne, als »Einfügung... in eine... aus dem heutigen Geist geprägte Form« (45), hat Kurt Weill Busonis Polyphonic in dem Aufsatz »Busonis 'Faust' und die Erneuerung der Opernform« aufgefaßt und analysiert. Er verweist darauf, daß die Polyphonic in Busonis Faust-Oper nicht Selbstzweck, sondern eine dem verborgenen Gehalt angemessene Gestaltung ist. So gehe »Busonis Musik... immer dort ins rein Polyphone über, wo der faustische Gedanke in den Vordergrund rückt...« (46).
Die mit dem Prinzip der »jungen Klassizität« und der musikalischen Verabsolutierung der Oper sich ergebenden Wirkungsprobleme erweisen Busonis Doktor Faust - über den biographischen Bezug des Sujets hinaus - als Werk der Utopie. Es steht dafür, daß Busönis Schaffen über die zwanziger Jahre entschieden hinausweist.
Aber die Idee der »jungen Klassizität« reicht im Grunde weiter, weiter als Busoni es offenbar gesehen hat oder hat sehen wollen. Die »Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente« (47) erweist sich angesichts des voranschreitenden eigenen und fremden Schaffens als generierendes Prinzip, dessen Ziel im Grunde nicht festzumachen ist. Hier wird ein Materialbegriff erkennbar, der sich von dem Schönbergs deutlich unterscheidet. Das machen Schönbergs Bemerkungen zu Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst vollends deutlich, Busonis Erweiterung des Tonmaterials durch eine die Skalen auffächernde Spaltung der Chromatik in Drittel - und Sechzehnteltöne, seine 113 Skalen anstelle der 24 geläufigen lehnte Schönberg ab. Anders als Busoni, der auf eine Erweiterung des Materialvorrats zielte, ging es Schönberg um eine intensivere Nutzung des vorahndenen Materials durch Erweiterung der Melodie - und Klanggestaltung und komplexere kompositorische Strukturen.
Von hier aus erklärt sich auch die immer wieder festgestellte und kritisierte Diskrepanz zwischen Vorstellung und Realisierung in Busonis Schaffen. Sein für die Zeitschrift »Melos« verfaßter »Bericht über Dritteltöne« vom Jahre 1922 zeigt, daß er sich dieser Problematik bewußt war. Aber er lehnte eine kopflose Forcierung des Fortschritts ab (48). Wie stark er kompositorisch zu einer Überschreitung der Grenzen des Tonsystems tendierte, zeigen bestimmte Anwendungs-formen der in der Sonatina seconda als Studie zum Doktor Faust, in diesem selbst und auch in den Elegien verwendeten Bitonalität. So werden am Schluß der 6. Elegie, die Erscheinung betitelt ist, die chromatischen Übereinanderschichtungen von Akkord und Zweiundreißigstel-Leggiero ihrerseits noch einmal chromatisch nach oben verschoben. Es ist eine Auffächerung der Chromatick, die bereits über die Grenzen der bestehenden Chromatik hinausstrebt.
Busonis Utopie ist in seiner Auffassung vom musikalischen Material verankert, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß seine Vorstellung vom musikalischen Material doppelwertig, in sich gespalten ist. Der eine Aspekt, die umfassende kompositorische Einschmelzung »aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente«, die »Junge Klassizität« also und der andere, die physikalisch-akustische Klangerweiterung stehen eher gegen - als mit - und füreinander. Busoni hatte sich die wahrhaft faustische Aufgabe gestellt, beide Materialbereiche ins Zukünftige hinein und dieses bestimmend zu fusionieren. Busoni wollte nicht »verleugnen und ausstreichen«, sondern umfassend, d. h. schrittweise und kontinuierlich integrieren. Die Verwirklichung der damit verbundenen kompositorischen Aufgaben und Probleme lag jenseits der zu seiner Zeit gegebenen Möglichkeiten, sie lag für ihn im Niemandsland der Geschichte. Erst unsere Zeit kann weitersehen, und sie macht sichtbar, wie weit seine damals ins kompositorische »Nirgendwo« gerichtete Vorstellung tatsächlich reichte. Edgar Varèse, der Busoni 1908 in Berlin kennenlernte und an der geschichtlichen Einlösung der Busonischen Utopie wesentlichen Anteil hat, dokumentierte es gleichsam anläßlich einer Vorlesung im Sarah Lawrence College:

In jenen mich prägenden Jahren hatte ich das Glück, Busonis Freund zu werden... Ich traf Busoni, als ich vor dem ersten Weltkrieg in Berlin lebte. Mit seinem bemerkenswerten Buch Entwurf einer neuen Asthetik der Tonkunst, das einen weiteren Meilenstein in meiner musikalischen Entwicklung bedeutete, war ich bereits vertraut. Man stelle sich meine Erregung beim Lesen folgender Worte von ihm vor: 'Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung'. Bis dahin hatte ich vermutet, daß niemand außer mir eine solche Theorie vertrete. Als ich Busoni meine Partituren zeigte, war er sogleich interessiert, und es entwickelte sich trotz des großen Altersunterschieds zwischen uns eine Freundschaft... Obwohl unsere Ansichten über viele Dinge, die mit der Kunst zusammenhingen radikal differierten, bin ich davon überzeugt, daß jene langen Gespräche mit Busoni, während denen sich mir allmählich neue Horizonte eröffnenten, mir bei der Kristallisierung meiner Ideen halfen und meinen Glauben bestärkten, daß neue Mittel gefunden werden müßten, um den Klang zu befreien, und zwar von den Beschränkungen des temperierten Systems, und es ermöglichen sollten, meine Konzeption von Rliythums als eines Stabilisierungselements zu realisieren und beziehungsfreie metrische Simultaneität zu erzielen (49).

Fassen wir zusammen:

Busoni war ein großzügiger, eine generöser Charakter, und er war von einer Weltoffenheit, die sich über einen im Laufe seines Lebens immer größer werdenden Überblick zum Weitblick weitete, ein Weitblick freilich, der von Toleranz bestimmt und eine Toleranz wiederum, die nicht unkritisch war. Berlin wurde fir ihn der Ort einer von ihm ausgehenden, ab der auch auf ihn zurückschlagenden Reibungshitze, die ein entwicklungsförderndes, wenn auch kaum je eine Treibhausklima schuf. In der Weite des Busonischen Horizonts wurzete auch die Besonderheit seines Materialbegriffs. Eine Systematisierung lag Busoni fern. Sein Intellekt war nicht bohrend, nicht auf Systematisierung und Schulbildung, nich auf unbedingte Gefolgschaft gerichtet wie der Schönbergs. Nie hat er einen Artikel schreiben können wie »Brahms the Progressive«. Die »Tendengen des Materials« - um einen Terminus Adornos zu verwenden - waren fir ihn kein Gegenstand. Für ihn besaß das Reservoir der Geschichte mehr Relevanz als nur eine bestimmte, als stringent deklarierte Richtung. Auch Schönberg hat natürlich verschiedene Aspekte des historisch Verfügbaren aufgenommen - man denke nur an des jungen Schönberg Verbindung von Brahms und Wagner - aber er hat es gleichsam kompositorisch-strukturell auf einen bestimmten Nenner projiziert. Aber Schönberg konnte seinen Weg zu Ende gehen. Busoni starb gerade zu dem Zeitpunkt, als das erste große Werk einer Integration von historisch ausgreifendem und akustisch avancierendem Material (man denke nur an die bitonalen Partien im Doktor Faust) vor dem Abschluss stand, zu einer Zeit, als die ersten 'Kulturen' potenzierter Chromatik zu wachsen begannen. Man bedenke: Was wäre von Schönberg als historisch tragfähig geblieben, wäre er etwa 1917 gestorben? Wüßten wir das von Zwölftontechnick und serieller Komposition was wir heute wissen?

Doch von Busoni blieb immerhin der schon früh weit gespannte, selbsttragende Bogen einer Idee des Zukünftigen und ein ausgebauter kompositorischer Ansatz, und es blieb ein halb eingerichtetes 'Experimentalstudie für Dritteltöne'. Bemerkenswert genug, daß sich ein Mann wie Varèse auf ihn berief. Varèse, dessen Name den ganzen Kontext der elektronischen Musik, des klanglich entfesselten Komponierens, Varèse, der den Begriff der befreit im Raum schwebenden Musik aufleuchten läßt.

(*) Herzlich danke ich Helga v. Kügelgen für die Durchsicht des Manuskripts un die Erfassung von wichtigem Quellenmaterial.

(1) Das Stichwort lautent gewöhnlich: Busoni = »Wegbereiter« des Neoklassizismus (vgl. HERMANN DANUSER, Die Musik des 20. Jahrhunderts [= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, vol. 7], hrsg. von Carl Dahlhaus, Laaber 1984, S. 92). Auch Peter Heyworth bezeichnet Busoni als "a harbinger of the neo-classicism" (vgl. HEYWORTH, OTTO KLEMPERER, His Life and limit, 1885-1933, Vol. I, Cambridge 1983, S. 126 Anm.). Busoni war dabei freilich selbst alles andere als ein Neoklassizist: Mit seinem Begriff der "Neuen (oder "Jungen") Klassizität" verband sich die Integration "aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente" - auch der "vom Anfang des 20. Jahrhunderts". Das "Neue" definierte sich für Busoni nicht durch die Umwerfung des bestehenden, sondern durch die Uberbietung der Alltagsmodernität durch die Einschmelzung aller - wohlgemerkt - "Experimente" in ein "kommendes Definitives". An die Stelle der - zugespitzt formuliert - "modischen" Modernität trat die Idee der über die Zeiten hinweg gültigen Moderne. Das aber war - wenn überhaupt - kompositorisch nur schwer, nur im Verlauf eines langen Weges sich akkumulierender Integrationsschübe und sicherlich nicht nur mit einem Werk (Doktor Faust), zu erreichen.

(2) FERRUCCIO BUSONI, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Triest 1907, Leipzig 1910; erweitert: Leipzig 1916.

(3) HANS PFITZNER, Futuristengefahr. Bei Gelegenheit von Busonis Ästhetik, Leipzig-München 1921, S. 47.

(4) Auch Richard Strauss führte in Berlin, so in Winter 1902-1903, moderne Musik
auf (vgl. H.H. STUCKENSCHMIDT, Schönberg. Leben-Umwelt-Werk, Zürich/Freiburg 1974, S. 56). Strauss bemühte sich zu dieser Zeit auch sehr um Schönberg (vgl. STUCKENSCHMIDT, S. 57-60). Vor einer Aufführung der Orchesterstücke op. 16 scheute Strauss allerdings zurück. (Vgl. STUCKENSCHMIDT, S. 65 f.).

(5) Es fanden dort u.a. Urauführungen von Werken Bartóks, Delius', Sibeius' und von Busoni selbst statt (vgl. u.a. The New Grove, 3, London 1980, S. 509).

(6) LEO KESTENBERG, Bewegte Zeiten. Musisch-musikantische Lebens-erinnerwtgen,Wolfenbüttel/Zürich 1961, S. 24. Vgl. auch die Aufstellung bei EDWARD J. Dent, Ferruccio Busoni. A Biography, London 1933/R 1974, S. 332-336. Zu fragen ware, ob nicht Schönbergs "Verein fir musikalische Privataufführungen" auf dem Hintergrund dieser Busonischen Konzerte in Berlin zu sehen ist, die Schönberg während seiner ersten Berliner Zeit, 1901-1903, teilwesie miterlebt haben dürfte. (Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Plan zur Gründung der "Vereinigung schaffender Tonkünstler" aus dem Jahre 1904 [Vgl. Stuckenschmidt-S.Anm. 4-, S. 621).

(7) Vgl. DENT, (s. Anm. 6), S. 333.

(8) Vgl. JÜRGEN KINDERMANN, Thematisch-chronologrsches Verzeichnis der Werke von Ferruccio Busoni ("Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts", Bd. 19), Regensburg 1980, S. 224 ff.

(9) Vgl. DENT, (S. Anm. 6), S. 135.

(10) Zitat übersetzt nach Dent (s. Anm. 6), S. 135.

(11) Vgl. STUCKENSCHMIDT, (s. Anm. 4), S. 56. Vgl. auch: Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Ferruccio Busoni 1903-1919 (1927) herausgegeben von Jutta Theurich, in:"Beiträge zur Musikwissenschaft 19" (1977), 5. 163 f., 205 (Anm. 1,3).

(12) Busonis spätere Erfahrungen mit seinem Klavierkonzert konnten diese Problematik, sollte sie für ihn im Falle von Pelleas und Melisande eine Rolle gespielt haben, nur unterstreichen.

(13) Vgl. Dent (s. Anm. 6), S. 333, ferner: Theurich (s. Anm. II), S. 164, 205 [Anm. 4].

(14) Vgl. Theurich (s. Anm. 11), S. 164, Sicherlich war aber zudem der äußerst umfangreiche Orchesterapparat ein Hemmins (vgl. Theurich, S. 205 [Anm. 3]).

(15) Vorangegangen war em Brief Schönbergs mit der Bitte, diese beiden Klavierstücke aufzuführen (vgl. Theurich [s. Anm. 11], S. 164). Das 3. Klavierstück aus op. 11 wurde erst am 7. August 1909 beendet (vgl. Josef Rufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel 1959, S. 10). (16) Vgl. Theurich (s. Anm. 11), S. 166.

(17) Vgl.Theurich (s. Anm. 11), S. 166.

(18) Vgl. Theurich (s. Anm. 11), S. 166.

(19) Vgl. STUCKENSCHMIDT (s. Anm. 4), S. 204.

(20) ARNOLD SCHÖNBERG, Gedenkaustellung 1974,-Wien 1974, S. 229.

(21) Vgl. Theurich (s. Anm. 11), 5. 200 f

(21 a) Diese Aufführung fand am 17. Juni 1913 statt, vorbereitet wurde sie durch 29 Proben (vgl. Theurich [s. Anm. 11], S. 197, 210 [Anm. 124]).

(22) Vgl. Theurich (s. Anm. 11), S. 178. Um eine größere Differenzierung der Momente von Anziehung und Abstoßung im Verhältnis zwischen Busoni und Schönberg ist Daniel M. Raessler in dem Aufsatz: Schönberg and Busoni: Aspects of Their Relationship ("Journal of the Arnold Schoenberg Institutive" VII [1983], S. 7-27) bemüht. Zu bedenken ist dabei aber zusätzlich immer, daß die Elemente der positiven Bewertung bei derart ausgeprägt individuellen Geistern besonders hoch zu veranschlagen sind.

(23) Vgl. ARNOLD SCHÖNBERG, Berliner Tagebuch. Mit einer Hommage a Schönberg vom Herausgeber Josef Rufer, Frankurt a.Main 1974, S. 16.

(24) Vgl. A. SCHÖNBERG, Berliner Tagebuch (s. Anm. 23), S. 9.

(25) Vgl.STUCKENSCHMIDT, (s. Anm. 4), 204. Besonders gefielen Schönberg Busonis 6 Elegien, die Eduard Steuermann erstmals am 2.3.1919 und dann noch wiederholt im "Verein rur musikalische Privataufführungen" spielte (vgl. THEURICH s. Anm. 11, S. 197; ferner Schönbergs Verein für musikalische Privataufilihrungen ["Musik-Konzepte" 36], hrsg.v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1984, S. 102-111).

(26) F. BUSONI, Briefe an seine Frau, hrsg. von Friedrich Schnapp. Mit einem Vorwort von Willi Schuh, Erlenbach-Zürich/Leipzig 1935, S. 317 242

(27) THEURICH (s. Anm. 11), S. 194 f.

(28) KESTENBERG, Bewegte Zeiten (s. Anm. 6), S. 52.

(29) KESTENBERG, Bewegte Zeiten (s. Anm. 6). S. 53.

(30) HANS CURJEL, Experiment Krolloper 1927-1931. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Eigel Kruttge, München 1975 ("Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts" Bd. 7), S. 17 f.

(31) H. CURJEL, Experiment Krolloper (s. Anm. 30), S. 214; dsgl.: KESTENBERG, Bewegte Zeiten (s.Anm. 6), S. 78 f.

(32) F. BUSONI, Wesen und Einheit der Musik, Berlin-Halensee/Wunsiedel 1956, S. 17.

(33) F. BUSONI, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1954, S. 21 f.

(34) "Vossische Zeitung" V. 26.1.1921 (Morgenausgabe; Rezensent: Max Marschalk).

(35) S. Anm. 34.

(36) "Vossische Zeitung" v. 20. Mai 1921 (Morgenausgabe; Rezensent: "M.M.").

(37) Vgl. CURJEL, Experiment Krolloper (s. Anm. 30), S. 187.

(38) Vgl. GOTTFRIED WAGNER, Weill and Brecht. Das musikalisches Zeit-theater, München 1977, S. 50 f.

(39) 1926 wurde die "Brautwahl" aufgeführt.

(40) Vgl. CURJEL, Experiment Krolloper (s. Anm. 30), S. 41 f.

(41) "Vossische Zeitung" v. 28.10.1927 (Das Unterhaltungsblatt; Rezensent: "M.M.")

(42) S. Anm. 41.

(43) F. BUSONI, Über die Möglichkeiten der Oper und über die Partitur des "Doktor Faust", Wiesbaden 1967, S. 14 f.

(44) Abgedruckt in: F. BUSONI, Wesen und Einheit der Musik (s. Anm. 32), S. 69.

(45) F. BUSONI, Wesen und Einheit der Musik (s.Anm. 32), S. 70.

(46) KURT WEILL, Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. Main 1975, S. 33.

(47) F. Busoni, Wesen und Einheit der Musik (s. Anm. 32), S. 35. Es ist in diesem Zusammenhang auch von Interesse, daß Busoni seinerseits in Schönbergs Klavierstücken op. 11 einen wichtigen Schritt zu dem von ihm in seinem "Entwurf einer neuen Ästhtetik der Tonkunst" anvisierten fernen Ziel sah. Im nur teilweise veröffentlichten Vorwort zu seiner Bearbeitung von Schönbergs op. 11 Nr. 2 schrieb Busoni: "In einer kleinen Schrift, welche sich vornimmt, breiteren Anschauungen einen Weg zu bahnen, findet sich der Satz: 'Kaleidoskopisches Durcheinanderschütteln der 12 Halbtöne in der Dreispiegelkainmer der Empfindung, des Geschmackes und der Intuition: das Wesen der heutigen Harmonie'. Die in dem Satz zum Ausdruck gebrachte Idee erscheint in dem Schönberg' sehen Clavierstück -vielleicht zum ersten Male - verwirklicht; der Begriff einer Dur u. Moll Tonart und ihrer 12 Transpositionen ausgestrichen. In dieser Komposition erblickte der Herausgeber [also Busoni!] den Ansatz zu einer späteren Tonkunst".

(48) F. BUSONI, Wesen und Einheit der Musik (s. Anm. 32), S. 46 f.

(49) EDGAR VARÈSE, Spatiale Musik, abgedruckt in: EDGAR VARÈSE, Rückblick auf die Zukunft ("Musik-Konzepte" 6), hng.v. H.-K. Metzger und R. Riehn, München 1979, S. 20 f.