Franz Welser-Möst übernimmt von Riccardo Chailly kurzfristig die
Neuinszenierung von «La Fanciulla del West» bei den Zürcher Festspielen

«Ein Ritt über den Bodensee...»

Interview: Werner Pfister

M&T: Acht Auftritte waren für Sie an den Festspielen geplant, nun werden es sechzehn, und das in weniger als vier Wochen. So viel Loyalität dem eigenen Haus gegenüber?
Franz Welser-MöstF.W.-M.: Selbstverständlich! Wenn man Chefdirigent eines Opernhauses ist, ist man sozusagen Teil der Familie. Und dann tritt die Sippenhaftung in Kraft... (lacht) Im Ernst: Für mich war das keine Frage, dass ich diese Produktion übernehme. Als Chefdirigent hat man eine Verantwortung und eine Verpflichtung, und entsprechend habe ich andere – auch auswärtige – Verpflichtungen abgesagt. Abgesehen davon gibt es nicht viele Dirigenten, die diese Oper überhaupt dirigieren.
M&T: Haben Sie sie denn schon dirigiert?
F.W.-M.: Nein, noch nie. Es ist schon ein bisschen ein Ritt über den Bodensee, eine Ausnahmesituation. Aber zuweilen passiert gerade in solchen Situationen etwas, das Ausnahmerang hat. Entweder geht es schief, oder es wird besonders gut. Darauf muss man sich einlassen. Es ist eine Feuerwehraktion – aber es geht nicht anders.
M&T: Wie lernen Sie diese komplexe Oper in so kurzer Zeit?
F.W.-M.: Eigentlich ist das ein recht nüchterner Vorgang. Man analysiert das Werk, beschäftigt sich mit dem Libretto; und dann geht man mehr und mehr ins Detail und versucht, aus dem Überblick über das Ganze alle die einzelnen Details in sich hineinzufressen.
M&T: Um besonders schmackhafte Kost handelt es sich ja nicht: «La Fanciulla del West» steht im Verruf, eine drittklassige Wildwest-Oper zu sein mit mehrheitlich plakativer Musik...
F.W.-M.: ...Finde ich überhaupt nicht! Puccini hat in dieser Oper eine Orchestersprache entwickelt, die wesentlich über das hinausgeht, was er in seinen früheren Opern erreichte. In dieser Partitur steckt viel Impressionistisches – und das interessiert mich besonders. Puccini malt auf eine bislang ungehörte Weise musikalische Bilder – fein ziselierte Stimmungsbilder statt Schmachtfetzen wie etwa in der«Butterfly». Entsprechend kommt dem Orchester eine riesengrosse Rolle zu, bedeutender jedenfalls als in allen andern Opern Puccinis. Daran muss man hart arbeiten. Eigentlich sehe ich «La Fanciulla del West» als eine einzige grosse Parlando-Oper. Ähnlich vielleicht wie «Arabella» von Richard Strauss – auch hier gibt es nur ganz wenige grosse Melodien, und alles andere ist reine Konversation. Um so unerklärlicher ist für mich das Vorurteil gegenüber der «Fanciulla»: dass das eine laute Oper sei, in der es nur so knalle. Klar sind da ein paar Momente, wo man ordentlich hinlangen muss. Aber sonst handelt es sich um sehr differenzierte Musik – eine «Turandot» ist in dieser Hinsicht viel massiver.
M&T: Riccardo Chailly hatte geplant, das Werk erstmals in seiner Originalgestalt zu dirigieren. Halten Sie sich ebenfalls daran?
F.W.-M.: Ich habe mir das Original besorgt. Denn Toscanini nahm für die Uraufführung an der Met bekanntlich dynamische Retuschen vor. Er veränderte die Partitur hin zu höheren Lautstärken, um der Grösse des Opernhauses zu genügen. In Zürich werden wir das nun erstmals zurückretuschieren: so, wie es Puccini ursprünglich notiert hat.
M&T: Und die Striche, die Toscanini eigenhändig anbrachte – werden die in Zürich endlich geöffnet?
F.W.-M.: Nein. Riccardo Chailly überlegte sich ursprünglich, ob er sie öffnen soll. Aber letztlich entschloss er sich, die Striche von Toscanini zu übernehmen. An diesem Entscheid kann ich jetzt, in so kurzer Frist, nichts mehr ändern. Denn die Sänger haben ihre Partien bereits nach diesen Vorgaben gelernt.

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