Auch
das ist Repertoire: Es gibt wahrscheinlich nicht viele Opernhäuser in
der Welt, an denen mit zwei Orchesterproben eine solche Aufführung
möglich ist. Franz Welser-Möst und "Tristan" in Wien, das ist mehr als
ein Kapitel der jüngeren Staatsopern-Geschichte. Vor zwei Jahren kam
der Dirigent aus Zürich angereist, um über Nacht das Werk vom
erkrankten Christian Thielemann zu übernehmen, der die Premiere
einstudiert hatte. Das war ein Husarenstück - bei dem Möst alles
riskierte: Ohne Probe realisierte er seine, eine völlig andere als die
wohlstudierte Interpretation, sparte allein an Aufführungsdauer etwa 20
Minuten gegenüber der von Thielemann drei Tage zuvor geleiteten
Vorstellung ein.
Nun
die Kür. Geplanter Weise leitet Möst drei "Tristan"-Aufführungen mit
völlig neuer Besetzung und demonstriert, wie das ist, wenn er mit
einigen, wenigen Arbeitsstunden seine Vorstellungen vermitteln kann.
Das
Ergebnis ist überwältigend. Vor allem ist es überwältigend anders als
die mittlerweile auf CD nachzuhörende Realisierung durch die
Premieren-Besetzung. Den nach wie vor irritierende hässlichen Bildern
der Günter-Krämer-Produktion zum Trotz ereignet sich ein Psychodrama,
das den Hörer - wenn er im schlimmsten szenischen Missdeutungsfall
einfach die Augen schließt - vollständig in seinen Bann zieht.
Man
verzeihe den Vergleich, aber er drängt sich auf: Thielemanns
"Tristan"-Deutung war ganz aus dem verzehrend schönen Klang geboren.
Welser-Möst legt die Nervenstränge von Wagners Drama bloß und reizt die
pulsierende Energie bis zur Weißglut aus. Auch das führt zu
Klangereignissen von erregender Schönheit, zu beinah
entmaterialisierten, über alle Taktstriche hin strömende, aufgelöste
harmonische Räume, in denen sich - etwa in den entrücktesten Passagen
des Liebesduetts - die Singstimmen ganz frei schwebend entfalten
können. Es bringt aber das mit zuletzt ungeahntem Engagement
aufspielende philharmonische Orchester dazu, in Augenblicken der
völligen Ekstase scheinbar alle Grenzen des zivilisierten
Miteinander-Musizierens abzuwerfen und in Regionen anarchischer
Ausdruckswut vorzudringen. In den Steigerungen gegen Ende des ersten
Aufzugs, vor dem Höhepunkt des Duetts und bei Tristans Fiebervisionen
gewinnt der Hörer, so er vom Strudel der Ereignisse nicht vollständig
absorbiert ist, den Eindruck, die einzelnen musikalischen Linien würden
sich im Furor des Geschehens verselbstständigen.
Dann
weiß vielleicht wirklich nur noch einer im Saal, der Dirigent, wo in
dem gigantischen Koordinatensystem der frei gewordenen Seelenklänge
oben und unten ist. Die Souveränität, mit der Franz Welser-Möst die
Partitur beherrscht und das Geschehen auch im extremsten Punkt der
Handlung organisiert, ist staunenerregend. Die Besetzung, in dieser
Konstellation neu für Wien, findet sich in dem vom Orchester
entfesselten Pandämonium mit ähnlicher Souveränität zurecht. Es dürfte
schwer sein, für die Titelrollen Protagonisten zu finden, die mit mehr
technischer Sicherheit und Intelligenz zu gestalten wissen. Ben Heppner
und Deborah Polaski gehören zu den raren Sängern, deren Stimmen auch
heldische Aufgaben als naturgegeben scheinen lassen können.
Auch
dort, wo die Musiker - vor allem mit fortschreitendem Abend - dynamisch
kaum mehr Rücksicht nehmen, verliert keiner die Contenance; auch Boaz
Daniel nicht, der einen sehr lyrischen, doch anrührenden Kurwenal gibt.
Und schon gar nicht Michelle Breedt, nach langem wieder eine Brangäne,
die nicht nur den dramatischen Anforderungen der Partie gewachsen ist,
sondern die Stimme auch bei den Wacherufen betörend schön strömen
lassen kann. Mit Robert Holls soigniert-wohltönendem König Marke ergab
das alles ein Opernfest.
"Tristan und Isolde": 15. und 18. Februar
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