FRANZ WELSER-MÖST:

«ICH BEREUE KEINE SEKUNDE...»


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scritta della Dramaturgie.


Sieben Jahre war Franz Welser-Möst dem Opernhaus als Chefdirigent verbunden und hat es international zu weltweitem Ansehen geführt. 27 Neuinszenierungen hat er in dieser Zeit betreut und insgesamt gegen 500 Vorstellungen dirigiert. Ein Rückblick auf die Jahre am Zürcher Opernhaus und ein Ausblick auf die neuen Aufgaben
als Chefdirigent des Cleveland Orchestra. Interview: Werner Pfister


Neulich sagten Sie in einem Interview, dass man durch negative Erfahrungen mehr lerne als durch positive. Gilt das auch für Ihre Zeit als Chefdirigent am Opernhaus?

Natürlich gab es auch negative Erfahrungen, die macht man pausenlos. Doch was heisst negativ? Immer, wenn ein Problem auftaucht, empfindet man das anfänglich als negativ.Wichtiger aber und entscheidend ist, was man daraus macht, und das hängt von einem selber ab. In sieben Jahren - und mit 27 Neuproduktionen, die ich dirigiert habe - da lernt man viel. Und ich bereue keine Sekunde, die ich hier am Opernhaus verbracht habe.

Sie haben nicht nur viel dirigiert, sondern vor allem viel Unterschiedliches: Oper Operette, philharmonische Konzerte, sogar Ballett.

Ja, natürlich habe ich hier viel dirigiert, das gehört auch zur Aufgabe eines Chefdirigenten. Wenn Sie ein Opernhaus übernehmen, das ein grösseres Repertoire hat als jedes andere vergleichbare Haus, möglicherweise als jedes andere Haus überhaupt, und wenn Sie in diesem Haus künstlerisch etwas bewegen wollen, müssen sie alle Kunstsparten ernst nehmen, und vielleicht auch Projekte realisieren, für die Sie etwas weniger persönliche Vorliebe haben, Entzieht man sich solchen Aufgaben, dann verliert man automatisch den Kontakt zum Haus. Als Chefdirigent aber war es mir wichtig, stets den Puls des Hauses zu spüren, denn sonst kann man ein Haus nicht persönlich prägen. Man kann das künstlerische Niveau nur dann heben, wenn man auch bereit ist, Knochenarbeit zu leisten.

Was hiess Knochenarbeit für Sie am Zürcher Opernhaus?

Die dreissigste Vorstellung von «Traviata» zu dirigieren, und zwar ohne Probe. Das ist Knochenarbeit.

Weil die dreissigste Vorstellung immer noch so gut sein sollte wie die erste?

Sie sollte besser sein als die erste. Sicher haben wir das nicht immer erreicht. Dennoch muss man genau mit dieser Einstellung arbeiten, denn es fängt ja alles im Kopf an. Wo nicht die richtige Einstellung vorhanden ist, dort wird auch nichts daraus. Deshalb habe ich pro Spielzeit 70 Vorstellungen dirigiert, und wenn ich diese Arbeit - die zum Teil Knochenarbeit war - nun im Rückblick betrachte, so kann ich schon sagen: Da hat sich etwas bewegt.

Wie schaffen Sie das überhaupt, auch eine dreissigste «Traviata» noch mit demselben frischen Impetus, mit künstlerischer Neugier und gleichsam idealistischem Furor zu dirigieren?

Das ist überhaupt kein Problem für mich. Was mit meiner persönlichen Lebenseinstellung zusammenhängt: Wenn einer das Staunen verlernt, dann hat er mit seinem Leben eigentlich abgeschlossen. Das sind dann die grossen Zyniker im Leben, die vielleicht Kritiker werden... (lacht) Im Ernst: Sicher gibt es Vorstellungen, wo man nicht so gut ist. Selbst bei einem Furtwängler war nicht alles gut, auch bei Karajan nicht. Schliesslich sind wir keine Maschinen. Aber ich bin überzeugt, dass die Orchestermusiker unter meiner Leitung keine einzige routinierte Aufführung im schlechten Sinn erlebt haben. Routinierte Vorstellungen sind verlorene Vorstellungen.






Zum Stichwort Kritiker: Wie ist Ihre Arbeit als Chefdirigent in der Zürcher Presse gewürdigt worden?

Ich würde es so sagen: Meine Arbeit wird ausserhalb der Schweiz wesentlich mehr gewürdigt. Aber vielleicht gelten eben Propheten im eigenen Land weniger als im Ausland. Cleveland, eines der fünf oder gar drei besten Orchester, hat mich zum Chefdirigenten gewählt. Die Berliner Philharmoniker haben mir nach meinem Debüt sogleich eine ganze Liste von neuen Terminen angeboten. Überhaupt dirigiere ich in Europa in den nächsten Jahren nur noch drei Sinfonieorchester: die Wiener Philharmoniker, die Berliner Philharmoniker sowie das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundf unks.
Doch um auf ihre Frage zurückzukommen: Ich habe meine Arbeit am Opernhaus gemacht, so gut ich konnte. Ich bin halt kein Schaumschläger - und auf solche fallen immer noch viele Kritiker herein. Das einzige, was mich dabei traurig macht, ist die Tatsache, dass diese Leute nicht merken, wie sie am Ast der Kultur sägen.

Sind in Ihrer Tätigkeit am Opernhaus Wünsche offen geblieben?

Bei den 27 Premieren, die ich hier bis jetzt leiten konnte, können Sie sich sicher sein, dass ich mir sehr viele Wünsche erfüllen konnte. Ich hätte gern mehr Janàcek dirigiert. Die «Lady Macbeth von Mtsensk» von Schostakowitsch steht auf meiner Wunschliste sowie «Saint François d'Assise» von Messiaen. Debussys «Pelléas», ein weiterer Herzenswunsch von mir, wird sich für mich in zwei Jahren erfüllen.

Sie bleiben dem Opernhaus erhalten, zum Glück. Dreissig Vorstellungen werden Sie pro Spielzeit dirigieren. Genügen sie, um all das, was Sie hier in sieben Jahren aufgebaut und erreicht haben, auf diesem Niveau am Leben zu erhalten und womöglich noch weiter auszubauen?

Das wird sicherlich eine grosse Herausforderung für das Opernhaus sein. Ich werde als Principal Conductor versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten, allerdings kann ich nur noch 30 statt 70 Aufführungen dirigieren.

Sie übernehmen im Herbst das Cleveland Orchestra. Haben Sie von der Oper genug, dass Sie sich künftig schwerpunktmässig dem sinfonischen Alltag widmen?

Keinesfalls habe ich von der Oper genug. Vielmehr ist es so, dass man bei der Analyse der grossen Dirgentenkarrieren derVergangenheit feststellt, dass diese Persönlichkeiten stets darauf bedacht waren, eine Ausgewogenheit zwischen der Konzert- und Operntätigkeit anzustreben. Umso mehr bin ich glücklich darüber, dass sich seit 1993, als ich das Cleveland Orchestra zum ersten Mal dirigiert habe, eine derart schöne Beziehung aufgebaut hat, dass sich die Dinge ganz zwanglos in dieser Richtung entwickelt haben.

Als die Anfrage, ob Sie neuer Chefdirigent werden wollen, dann kam, haben Sie sofort zugesagt?

Nein, ich habe mir eine Bedenkzeit von zehn Tagen erbeten.

Was gibt es in einer solchen Situation denn überhaupt zu bedenken?

Es ging vor allem um eines: dass ich einen der musikalisch schönsten Jobs angeboten bekomme, und dass ich den vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre machen werde - was aber dann? Das habe ich mir überlegt. Schliesslich kam ich zum Schluss, dass ich anschliessend auch etwas ganz anderes machen kann. Zum Beispiel ausschliesslich unterrichten.

Tatsächlich?

Aber sicher! Warum denn nicht? Ein wesentlicher Teil des Lebens ist doch, etwas weiterzugeben und nicht dauernd zu sagen: ich, ich und nochmals ich. Teilen ist etwas vom Wesentlichsten im Leben. Ich weiss, dass das gerade in unserem Beruf nicht sehr en vogue ist; aber es ist meine Lebensphilosophie, und das Cleveland Orchestra teilt diese Philosophie.

Was macht Cleveland im Wesentlichen aus?

Um es paradox zu sagen: eine unglaubliche Stille. In Cleveland wird im Gegensatz zu vielen anderen Sinfonieorchestern nicht mit Muskeln gespielt, und auch die Art, wie man dort miteinander umgeht, ist von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt. Alles wird mit einer grossen Würde gemacht. Man ist sich stets der Aufgabe bewusst - dass es eine grosse Aufgabe ist, selbst wenn sie noch so klein sein mag. Da herrscht insgesamt ein Geist, der sich stets als Teil eines Ganzen sieht, zwar als einen wichtigen Teil, aber eben nur als einen Teil. Diese Einstellung ist einmalig, und sie ermöglicht die Konzentration auf das Wesentliche.