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Der Engel in Reihe
5
VON JÜRGEN FLIMM
© DER SPIEGEL
46/2002
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Als vor geraumer Zeit die im
Frühjahr dieses traurigen Jahres verstorbene
verehrungswürdige Gräfin Dönhoff zur
Ehrenbürgerin der Hansestadt Hamburg gewählt wurde, gab es
im Kaisersaal unseres Rathauses eine kleine Feier. Nachdem diese
Ehrung vorüber und alle Glückwünsche ausgesprochen
waren, eilte ich zu Rudolf Augstein - auch Ehrenbürger unserer
Stadt - um, wie stets, meine höfliche Aufwartung zu machen,
schließlich war er einer der Gründungsväter unseres
republikanischen Gemeinwesens und wir kannten uns schon sehr lange.
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Ich sei Jürgen, flüsterte ich ihm
zu, schließlich sah er nicht mehr so gut. Das wisse er sehr
wohl, knurrte er, und wie sich das denn so mit dem "Ring"
in Bayreuth anließe? Er werde selbstverständlich
erscheinen und auch darüber berichten. Mir wurde Angst und
Bange, freilich ging es später glimpflich ab. Ob er denn nicht
lieber mitsingen wolle statt zu schreiben, versuchte ich einen
hilflosen Scherz. Wissen wir doch alle, wie sehr der mächtige
Mann der Gesangskunst verfallen war: Fasolt oder Fafner? Dann doch
eher Siegmund, raunzte er mürrisch zurück. Meinen Einwand,
dass die Partie wohl kaum seine Lage sei, konnte ich nicht mehr zu
Gehör bringen, denn er stimmte sogleich "Winterstürme
wichen dem Wonnemond" an, lauthals in Hamburgs bester Stube, so
etwas aber auch: Im Saale drehten sich die Gäste verstört
herum, hörten dem Ständchen zu, niemand tat einen Mucks.
Nur die Gräfin lachte fröhlich und winkte im Kreise ihrer
Lieben dem alten Freund zu. Der sang in seinem tiefen Stuhl aus
vollem Herzen; da lass dich ruhig nieder.
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Er kannte viele Lieder, so 'ne
und so 'ne, rauf und runter, und sich in kulturellen Dingen ziemlich
gut aus! So hatten mich einmal die feinen Hamburger bei
"Hoffmanns Erzählungen" in der Oper sehr unflätig
ausgebuht.
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Verärgert trudelte ich bei
"Paolino" ein, der schmächtige Tenor aus Brooklyn
stolperte hintendrein. Ein lieblicher Engel namens Rudolf A. aber
segelte alsbald durch das Lokal, wo er mit Entourage feierte,
drückte mich und rief in das verstummende Stimmengewirr, dies
sei überhaupt der allerschönste seiner 13 Hoffmänner
gewesen. Da war wieder alles gut, und der ahnungsvolle Engel sang mit
Neil Shicoff um die Wette, bis der Morgen über der Alster
graute. O Dieu, quelle ivresse!
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Er hat sich ja oft eingemischt, so als er
zum Exempel dem Bürgermeister Klose nach durchfeierter Wahlnacht
einen Großintendanten abschmetterte. Er war auch da
mächtig und an unserer Sache mehr interessiert, als manch
anderer Bildungsbürger seines Gewerbes, dem Auflagenzahlen das
einzige Vergnügen waren. Oft ging er also ins Theater, im Thalia
saß er in Reihe 5, die er zuweilen auch mittendrin flugs
verließ. Und sparte nicht mit spitzen Notizen oder Schreiben
voll Lob und Dank. Er wusste um Umgang, hatte er doch nach dem Krieg
ein Theaterstück geschrieben!
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Er half - nicht nur beim
Filmverlag der Autoren - rasch und diskret. So als ich einmal tief in
rabenschwarzer Tinte saß, als wir am Thalia Sponsorengeld einer
Waffenschmiede abgelehnt und doch aus Unachtsamkeit in Teilen schon
ausgegeben hatten. Mitten in einem düsteren Sommer des
Missvergnügens kam ein fröhlicher Anruf. Nachdem er eine
Zeit lang über Waffenexporteure gezetert hatte, schenkte der
gute Engel Rudolf uns jene Summe. Und über unserem schönen
Sommerhimmel flatterte ein blaues Friedenstäubchen.
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