Aktualisiert am  Donnerstag, 11. April 2002




F U S S B A L L

Das erste Zucken

Darf man den Fußball sterben lassen oder: Was wäre das Leben ohne Werder Bremen? Ein Gespräch mit dem Regisseur Jürgen Flimm


Von Moritz Müller-Wirth (Interview)


Der Theater- und Opernregisseur Jürgen Flimm bereitet im Augenblick seine erste Saison als Schauspieldirektor in Salzburg vor. Anfang Mai beginnt er mit den Proben zu der Uraufführung von Der Riese vom Steinfeld mit der Musik von Friedrich Terha an der Wiener Staatsoper. Der Fußballfan Flimm wird seit Jahrzehnten beim SV Werder Bremen unter der Nummer 021906 als Mitglied geführt.

Herr Flimm, wie wäre das: ein Leben ohne Werder Bremen?

Ich kann mir ein Leben ohne Bücher vorstellen, ohne Theater und natürlich auch ohne Werder Bremen. Aber das Leben mit alledem, also auch mit Werder Bremen, ist sehr viel schöner.

Damit könnte es demnächst vorbei sein.

Sie meinen, nur weil vielleicht die Fernsehgelder nicht mehr in dem Maße fließen wie bisher?

Nun, das TV-Honorar in Höhe von 18,7 Millionen Euro pro Saison macht fast 50 Prozent des Werder-Etats aus.

Mir war schon lange klar, dass diese Abhängigkeit von einem einzigen Geldgeber, in der sich ja faktisch alle Bundesligaclubs befinden, kein gutes Ende finden würde. Das Rumoren über Kirchs finanzielle Misere hält ja schon seit Jahren an. Dass das auf der Kippe stand, wussten alle, auch die Vereine, schon lange. Dass man trotzdem immer weiter mit den Fernsehmillionen geplant hat, war schlicht nicht seriös. Jetzt, wo ein Sponsor seinen Exitus hat, droht fast die ganze Branche hopszugehen.



Diese Erkenntnis hilft den Vereinen und den Fans jetzt nicht wirklich weiter.

In der Tat. Deshalb gilt es jetzt, schnell andere Geldquellen zu erschließen, die Wirtschaft ist gefragt, aber auch die Mitglieder. Ich zum Beispiel wäre bereit, für meine Mitgliedschaft bei Werder mehr zu bezahlen als die rund 30 Euro pro Jahr.

Sie wollen also die Mitglieder zur Kasse bitten, damit die hoch bezahlten Angestellten weiter die Millionen scheffeln?

Die müssten selbstverständlich auf einen Teil ihres Gehalts verzichten.

Theater- und Opernintendanten arbeiten auch nicht nach Tarif, obwohl es vielen Bühnen ebenso schlecht geht, wie es den Clubs bald gehen könnte. Würden Sie auf einen Teil Ihrer Gage verzichten, um ein Theater, an dem Sie gerade arbeiten, zu sanieren?

Ja, klar! Viele Mitarbeiter an vielen gefährdeten Theatern tun das allerdings auch schon. Das sollte beispielhaft für die Kurzhosen sein. Stures Beharren auf den Verträgen zeugt nicht von Weitsicht. Das Leben ist mehr als eine Blutgrätsche.

Die Rufe nach staatlicher Unterstützung, die in der Kultur eine lange Tradition hat, werden jetzt auch in Sachen Fußball laut.


Dass der Staat nun einsteigen und die Millionengehälter der Herren Kahn und Co durch Bürgschaften finanzieren soll, ist völlig absurd.

Aha, auch ein Neider!

Ich komme zurecht. Die Gehälter der Fußballer bewegen doch sich längst außerhalb jeder Relation und stehen in keinem reellen Zusammenhang mit dem Produkt, das sie abliefern. Die Situation gibt jetzt Gelegenheit, die gesamte wirtschaftliche Situation den Gegebenheiten anzupassen. Das kann eine Chance sein.

Die erstklassigen Spieler werden abwandern, die Liga wird im Mittelmaß versinken.

Na und? Dies ist doch eine unselige Spirale: Die Vereine brauchen mehr Geld, um international mithalten zu können, um damit wieder mehr Geld zu verdienen, das für neue Spieler gebraucht wird, damit - und so weiter.

Ihr Rat wäre also, frei nach Hermann Hesse: Nimm Abschied und gesunde?

Im Zweifel ja. Ein Theater in der Provinz kann sich auch die Gagen der Metropolitan Opera nicht leisten, und trotzdem gehen die Leute hin. Was ist denn so schlimm daran, wenn wir mal zwei Jahre lang im internationalen Geschäft nicht vertreten sind? Die Spiele gegen Liverpool sind doch nicht wirklich besser als die gegen Schalke 04.

Kann es sich eine Kulturnation leisten, fragt sich mancher, den hochklassigen Fußball, in dem viele ein Kulturgut sehen, vor die Hunde gehen zu lassen?

Die Kulturnation leistet sich im Augenblick ganz andere Dinge, nämlich dass es nicht genügend Kindergartenplätze gibt, dass viele Kommunen veröden, auch weil sie für die Bibliotheken, Museen, Theater, Orchester kein Geld mehr haben. Erst wenn die deutsche Kulturnation ihren Pflichten in diesen Bereichen nachgekommen ist, denke ich darüber nach, ob Fußball ein Kulturgut ist.

Und?

Wenn ich gute Laune habe, würde ich sagen: Ja. Im Augenblick habe ich aber keine gute Laune, wenn ich sehe, wie viel Kultur im engeren Sinne auf der Strecke bleibt. Fußballvereine werden geführt wie Unternehmen, sie spekulieren mit und an der Börse. Wenn denen jetzt ein Hauptfinanzier verloren geht, müssen sie sehen, wo sie andere herbekommen.

Und wenn sie keinen finden, Konkurs anmelden wie andere Unternehmen auch?

Ja, das wäre wohl die letzte Konsequenz.

Und womit würden sich dann Jürgen Flimm, Walter Jens und viele andere Intellektuelle in ihrer Freizeit beschäftigen, all jene, für die der Fußball ja weniger eine körperliche Betätigung als vielmehr Gegenstand hoch emotionaler, um nicht zu sagen, sinnlicher Auseinandersetzung ist?

Fußball, das ist doch klar, ist das schönste aller Spiele. Die Tatsache, dass dabei derjenige gewinnt, der so ein merkwürdiges rundes Ding am häufigsten ins Netz schießt, ist schon ein merkwürdig atavistischer Vorgang. Hinzu kommt, dass fast alle, die darüber reden, einmal selbst gespielt haben. Dieses Vergnügen habe ich allerdings auch bei meinem Dorfverein in Wischhafen. Man weiß genau, was für ein Gefühl das ist, wenn man einen Ball anschneidet, wenn man ihn mit dem Außenrist oder dem Vollspann schießt. Das Gefühl ist bei den meisten sofort abrufbar, wir haben das alle noch im Fuß. Und wenn man den Profis zuschaut, dann zuckt der eigene Vollspann im teuren italienischen Lederschuh! Gibt es eine höhere Form der Identifikation?

Wäre also doch eigentlich schade drum, oder?

Das kann man wohl sagen. Aber so weit wird es nicht kommen. Ich hoffe, der Warnschuss ist bei den Clubs angekommen. So manches Fußballspiel hat nach einem heftigen Warnschuss ja auch noch ein gutes Ende gefunden.






« /leben     ../inhalt     zeit.de/ »

WEITERE ARTIKEL
» Auf sicheren Gleisen - Seit dem 11. September nehmen viele Amerikaner lieber den Zug, statt zu fliegen. Im »Acela«-Express von New York nach Washington kann man einiges über das neue, vorsichtige Amerika erfahren
» Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt - Wer spielt eigentlich das Fernsehstudio-Publikum bei Christiansen & Co - und warum? Eine kleine Typologie
» Patient Fußball - Steuergeld für die Bundesliga? Voreilige Hilfe von außen stört die Selbstheilung der Branche
» Euro? pah! - Neues Geld geht um in Europa, und die schlechten Verhältnisse haben eine weitere Wendung zum Schlechten genommen
» Rotkreuzzug - Das rote Kreuz, geschütztes Zeichen für Krisen- und Katastropheneinsätze, prangt immer öfter auf T-Shirts oder Badezimmerschränken. Warum?
» Ein Van will nach oben - Transporter? Limousine? Im großen Bruder der A-Klasse auf der Suche nach dem Mercedes-Image
» Schluck! - Der russische Wodka wird 500 Jahre alt. Mit seiner Hilfe kann man in Russland die Tiefen der menschlichen Seele besser erkunden als anderswo
» Fischmesser? Können Sie vergessen - Warum man Fisch heute auch mit ganz normalem Besteck essen darf, erklärt Wolfram Siebeck
» Sagen Sie mal, Herr Siebeck: - Wie spreche ich eine weibliche Bedienung an? Früher konnte man einfach Fräulein sagen ...
» 7 Tage mit Karl Lehmann - Karl Lehmann, 65, Kardinal, Mainzer Bischof und Vorsitzender der Bischofskonferenz eröffnet die ökumenische »Woche für das Leben«
» Geschichten, die das Leben schrieb - In der Ausgabe 6/02 träumte die ZDF-Fernseh-Moderatorin Maybrit Illner (Berlin Mitte) von einer abenteuerlichen Überlandfahrt auf den Spuren mysteriöser Versicherungsbetrüger
» Der Ethikrat - Philosophische Hilfestellungen für Anne Will, parteiisch
» Buße für die Vielfliegerei - Schöner Leben mit Tita von Hardenberg
» Erben für eine bessere Welt - Sie haben viel Geld von ihren Eltern. Aber das reicht ihnen nicht. Mit einer Stiftung finanzieren sie Protest und gesellschaftliches Engagement
» Ich habe einen Traum - Jean Baudrillard, 72, Soziologe, träumt davon, in der Wüste zu verschwinden
» Dichter Dran - Bad oder Bühne - John von Düffel
» Hometrainer-Lektüre - Überlegen Sie sich gut, wem Sie 7,638 Kilogramm Buch schenken möchten
» Ich bin bereit! - Der große ZEIT-Kochwettbewerb: Wer Wolfram Siebeck und seine Jury überzeugt, kann eine Reise zum besten Koch der Welt gewinnen
» DAS GROSSE WM-GEWINNSPIEL - Raus geht: Andreas Möller (Nr.34)
» Glück auf! dem Göldner - Jena-Report, 14. Folge, von Christoph Dieckmann