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Nikolaus Harnoncourt (Interview aus RONDO 5/97)

Ohne ihn wäre alles anders. Ohne die Revolution der Musizierweise, die der Cellist und Dirigent Nikolaus Harnoncourt vor fast fünfzig Jahren angestoßen hat, würden wir heute anders und anderes hören. In zahlreichen Büchern und Interviews hat er sich ausführlich über "historische Aufführungspraxis" und "Musik als Klangrede" geäußert - RONDO sprach mit ihm über seine Familie, seine Jugend im Dritten Reich, den Traum vom Marionettentheater und den Rhythmus von Treppen.

RONDO: Herr Harnoncourt, gibt es ein Foto von Ihnen, auf dem Sie lachen?

Harnoncourt: Ein Kabarettist, der über seine eigenen Witze lacht, ist doch das Mieseste, was es gibt. Die anderen sollen lachen. Ich habe viele Jahre unterrichtet; das war zeitweise wie ein Kabarett – die Studenten haben gebrüllt vor Lachen! Wenn ich Liedsänger sehe, die traurige Lieder über den Tod singen und zwischen jedem Wort die Leute angrinsen ... und Dirigenten, die bei einer traurigen Schubert-Sinfonie ins Publikum hineingrinsen. Das mache ich nicht. Ach, diese Klischees von mir: finster, grantig und grimmig ... ich habe auch schon gelesen, ich sei der humorloseste aller Dirigenten ...

RONDO: Auf dieser Anzeige sehen Sie nicht gerade freundlich aus ... (Wir zeigen ihm eine Anzeige seiner Plattenfirma.)

Harnoncourt: Glauben Sie, daß ich da inszeniert worden bin? Ich habe da halt stundenlang gesessen. Es kann auch sein, daß es mir da schon zu blöd war. "Er haßt diese Fototermine", kommentiert seine Frau Alice. Aber ich bin ja ganz brav bei solchen Sitzungen ... "Besonders lustig schaust aber auf dem Foto wirklich nicht aus …" Warum sollen sie Grinse-Fotos von mir veröffentlichen?! Vom Solti kenne ich wirklich jeden Zahn, dabei waren die alle aus Porzellan (schmunzelt spitzbübisch). Er hat in den sechziger Jahren, als ich noch bei den Wiener Sinfonikern Cello spielte, viel bei uns dirigiert. Der und der junge Fricsay, die waren ganz hart; die Musiker hatten Angst vor den beiden!

RONDO: Solche Tyrannen gibt’s ja heute nicht mehr ...

Harnoncourt: Das würden sich die Orchester nicht gefallen lassen. Als ich noch im Orchester war, war es besonders gefürchtet, daß der Dirigent einen Streicher allein spielen ließ, um ihn zu überführen. Das hat jeder Dirigent gemacht, wenn seine Autorität nicht mehr voll da war. Heute ist das verboten. Da steht sofort der Orchestervorstand auf und sagt: "Das gibt’s nicht!" Karajan hat das gemacht. Wir waren vier Wochen mit ihm auf Tournee, dann wird alles etwas kumpelhaft ... und dann sagt er in einer Probe: "Spielen Sie das mal allein!" Da war’s ganz still im Orchester. Dann bekam Karajan so einen gelben Blick und sagte ganz leise: "Das ist doch nicht Ihr Ernst?! Gehen Sie nach Hause!" So: Wer ist der nächste? Jetzt hat er für ein halbes Jahr Disziplin.

RONDO: Ist Ihnen so etwas auch passiert? Sie waren immerhin siebzehn Jahre als Cellist bei den Wiener Sinfonikern.

Harnoncourt: Nein, aber ich habe auch Angst gehabt. Karajan mochte mich ganz gern; ich hatte bei ihm das Probespiel, mit zweiundzwanzig: Kurz danach war eine Europatournee, und da kam der Orchesterdirektor zu mir und sagte: "Karajan will, daß Sie Solo-Cellist werden." Doch das konnte ich nicht machen, denn dann hätte ich alles andere aufgeben müssen; Concentus und all das wäre nicht möglich gewesen.
Ich habe genau gewußt, daß man, um Solist zu werden, etwa zehnmal so begabt sein mußte, wie ich es war. Diese Illusion, die fast alle Musikstudenten haben, daß sie Solisten werden, habe ich nie gehabt. Ich war dann ein guter Orchestermusiker – doch sehr frustriert, weil ich sehr bald gesehen hab’: In einem Orchester sind hundertfünfzig Individualisten. Ein Musiker ist dazu erzogen, sich eine Meinung zu bilden zu dem, was er spielt, und diese Meinung dann musikalisch auszudrücken. Und im Orchester darf er das nicht und muß nach dem Konzept eines anderen spielen – und das mit dem größtmöglichen Enthusiasmus und Einsatz.
Ich habe versucht, mit großer innerer Beteiligung zu spielen, was leicht für mich war, weil die Musik mir wirklich etwas bedeutet. Aber mich hat es wahnsinnig irritiert, daß die meisten Dirigenten überhaupt kein Konzept hatten. Ganz berühmte Namen! Irritiert hat mich, daß die Dirigenten etwas anderes gemacht haben, als in den Partituren steht! Ich habe mich gefragt: Macht er es anders, weil er zu einem anderen Resultat gekommen ist? Oder weil er sich überhaupt nichts dabei denkt? Und das war das Vorwiegende. Das Leben eines Orchestermusikers ist eine ganz problematische Sache!

RONDO: Was war der Anlaß für Sie zu sagen, jetzt ist Schluß?

Harnoncourt: Der letzte Anlaß waren die "Matthäus-Passion" von Bach und die g-Moll-Sinfonie von Mozart. Ich wollte die nie wieder in meinem Leben so spielen müssen. Sie würden staunen, wenn ich Ihnen den Dirigenten sagen würde, um den es da gegangen ist! Meine Frau hat gesagt: Wir schaffen das. Wir haben gemeinsam entschieden, daß ich vom Orchester weggehe.

RONDO: Nun haben wir einen großen biografischen Sprung gemacht, gehen wir zurück zu Ihren Anfängen. Stimmt es, daß ein Kaiser unter Ihren Vorfahren ist?

Harnoncourt: Wenn es einer ist, dann sind es viele. (lacht verschmitzt) Mütterlicherseits ist mein Ururgroßvater der Bruder von Kaiser Franz I. Mein Urururgroßvater ist der Kaiser Leopold II., und die Ururururgroßmutter ist Maria Theresia. Aber ich würde vermuten, daß einer von Ihnen auch von Maria Theresia abstammt. Es gibt ja, wenn Sie zurückgehen, viel mehr Vorfahren als Menschen in Europa. Es ist unmöglich, nicht von jemandem abzustammen.

RONDO: Also sind auch wir miteinander verwandt?

Harnoncourt: Keine Frage ... (lacht)

RONDO: Erfüllt Sie diese Herkunft mit Stolz, oder ist Ihnen das gleichgültig?

Harnoncourt: Hab’ ich nur diese Wahl: stolz oder wurscht? (spöttisch) – Warum soll ich stolz sein? Stolz ist sowieso eine Eigenschaft, die mir nicht so wahnsinnig naheliegt. Ich bin vielleicht stolz, wenn ich etwas mache, was nicht so selbstverständlich ist, daß ich das kann. Wenn ich zum Beispiel eine Holzskulptur mache, was gelegentlich vorkommt, dann bin ich ganz blödsinnig stolz. Stolz darauf, wer meine Urgroßmutter ist? Wie soll man da stolz sein? Aber daß es mir gar nichts bedeutet, kann ich auch nicht sagen. (schaut frech)
Ich bin sehr familiär aufgewachsen. Meine Verwandten waren alle Aristokraten. Sie haben fast alle in Schlössern gewohnt, wir aber nicht, weil meine Familie, die Harnoncourts, vom Großvater her mit dem Ersten Weltkrieg total verarmt ist. Die haben ganz normal von der Arbeit gelebt. Daher habe ich den normalen Adelszusammenhang – Militär oder Grundbesitz – nur bei anderen erlebt. Oft habe ich mir auch gedacht: Wie haben die Vorfahren der Aristokraten vor tausend Jahren ihren Besitz aufgebaut? Sie sind einmal als Schutz für die Bauern und Frauen gewählt worden, weil sie besonders gute Krieger waren, aber im Grunde haben viele durch Mord und Totschlag ihre Sachen erworben.

RONDO: Sind Sie das älteste Kind?

Harnoncourt: Mein Vater hat zweimal geheiratet, weil seine erste Frau gestorben ist. Ich habe eine ältere Schwester und einen älteren Bruder. Der wollte Musiker werden und kam mit sechzehn zum Militär und, wie fast alle Musiker, zu den Funkern, wegen des Rhythmusgefühls, da sie sehr schnell diese Morsesachen lernten. Er war Artilleriebeobachter und ist dabei in ein Schrapnell geraten, das ihn von oben bis unten durchsiebt hat; er hat ein Auge verloren, das Gehirn wurde auch verletzt. Trotzdem hat er ein komplettes Kapellmeisterstudium fertiggemacht und wollte Dirigent oder Korrepetitor an einer Oper werden. Aber dafür hat’s nicht gereicht, weil seine Finger nicht ganz mitgemacht haben. (Emphatisch:) Er kann heute noch die ganze Literatur am Klavier auswendig spielen! Jetzt ist er pensioniert; er war sein ganzes Leben Lehrer am Konservatorium, und zwar in dem Haus in Graz, in dem er als Kind aufgewachsen ist.

RONDO: Wie haben Sie das Dritte Reich erlebt?

Harnoncourt: Das ist für mich sehr bestimmend gewesen. Ich kann mich an die Schüsse im Jahr 1934 erinnern; das war der Juli-Putsch, der erste Nazi-Putsch in Österreich, und es ist natürlich zu Hause davon gesprochen worden. Kurz nach dem "Anschluß" ist Hitler nach Graz gekommen. In Graz gab es sehr viele Nazis, Hitler nannte die Stadt "Die Stadt der Volkserhebung". Selbst mein Physikprofessor, ein kritischer Mensch, ist damals die ganze Nacht mit Heil-Rufen durch Graz getaumelt. Später hat er sich vor die Klasse gestellt und hat gebetet und gesagt: "Wie ich so etwas machen konnte, kann ich selbst nicht begreifen."
Hitler hat in einem kleinen Hotel gewohnt, direkt über die Straße. Mein älterer Bruder hat ein Foto von ihm gemacht. Wir mußten alle Fenster mit Tannenreisig schmücken, dann wurden die Hakenkreuzfahnen herausgehängt – aus jedem Fenster. Das Haus in Graz, ein Palais, gehörte meinem Großvater, jetzt ist die Musikhochschule drin. Der große Park war ganz voll mit SS, es waren Wachen beim Hauseingang; wenn wir hinein wollten, mußte mein Vater sich ausweisen. Ich habe gemerkt, daß meine Großmutter verzweifelt war, daß meine Mutter geweint hat.

RONDO: Sie waren ja noch ein Kind ...

Harnoncourt: Ja, ich bin damals zur Cellostunde gegangen; mein Lehrer war ein großer Nazi, aber ein herzensguter Mensch; sein wirklicher Beruf war Taubstummenlehrer. Er hatte Angst, daß ich verprügelt werde, weil ich keine Hakenkreuzbinde umhatte, und hat mir ein kleines Hakenkreuz zum Anstecken gegeben. Zu Hause habe ich es sofort weggetan, weil ich das Gefühl hatte, meine Mutter würde mich deshalb ohrfeigen. Mit zehn bin ich natürlich zur Hitlerjugend gekommen. Ich kann mich an die Bücher erinnern, an die weltanschauliche Schulung. Ich kann bestimmt noch fünfzig Lieder ... Wenn ich Filme über diese Zeit sehe, merke ich jeden Uniformfehler und jeden Textfehler der Lieder. Die Riten von Feiern haben die dermaßen verstanden! Die konnten Leuten, die überhaupt nichts damit zu tun hatten, Begeisterungsschauer über den Rücken jagen.

RONDO: War da bei Ihnen, in dem Alter, nicht auch etwas Abenteurertum und Jungenromantik dabei?

Harnoncourt: Ich wurde schnell ausgesiebt für eine "Führerausbildung", weil ich blaue Augen habe und wegen der Abstammung. Man mußte dauernd boxen, und ich wurde ständig zusammengeboxt, weil ich jünger war. Ich habe vieles nicht gemocht. Ganz früh habe ich mich der weltanschaulichen Schulung entzogen, indem ich eine Theatergruppe gegründet habe. Wir, so fünf, sechs, haben Straßentheater gemacht. Merkwürdig ist, wie deutlich wir empfunden haben, welche von den Führern – die waren zwischen achtzehn und zwanzig – wirklich gefährlich waren. Viele von denen hab’ ich nachher wiedererlebt. Zum Teil in recht auffallenden Positionen, politisch auch, und die waren nicht verändert, zum Teil bis heute nicht!

RONDO: Wie sind Sie von dieser Zeit geprägt?

Harnoncourt: Wenn ich heute irgendeinen Film über diese Zeit sehe, kann ich nicht abschalten! Ich hab’ auch sehr viel gelesen darüber, und da frag’ ich mich auch: Was habe ich damals wirklich gedacht? Wie waren meine Eltern wirklich eingestellt? Ich hatte in dieser Zeit ziemlich viel Angst. Eine Tante von uns ist ganz früh ins KZ gekommen, weil sie englisches Radio gehört hat; der Hausmeister hat sie angezeigt, und sie ist von der Gestapo geholt worden. Die haben ihr sogar gesagt: "Sagen sie, daß Sie nicht gehört haben, dann können Sie wieder nach Haus gehen." Doch sie war eine Wahrheitsfanatikerin: "Ich denk’ nicht dran, Euer lügenhaftes Radio zu hören." Sie hat es überlebt, muß aber Furchtbares mitgemacht haben im KZ. Man durfte nicht darüber sprechen; nicht in der Schule oder wenn andere Kinder zum Essen da waren.

RONDO: Hat sich dieser Druck gegen Ende des Krieges noch verstärkt?

Harnoncourt: Gegen Ende des Krieges war ich der Meinung, ein Widerstandskämpfer zu sein. (Wir schauen ratlos.) Wirklich! Ich bin mit einem Freund mit dem Fahrrad in den Süden von Graz gefahren, wo es ein Flugzeugwerk von Messerschmitt gab, und wir hatten auf dem Gepäckträger eine Kiste voll Nebelmasse. Mein Freund hat sich mit Chemie beschäftigt. Wir haben unseren Eltern gesagt, wir würden Segelflugzeuge starten lassen, was wir am Tag auch gemacht haben. Und als es gedämmert hat, wollten wir das Werk einnebeln. Wir haben gedacht, daß wir den Krieg damit verkürzen! Wir kamen uns unheimlich heldenhaft vor. (lacht sehr anrührend) Aber dann hatten beide Räder sonderbarerweise auf einmal einen Platten, und wir mußten sie nach Hause schieben. Ob uns ein Schutzengel beschützt hat?

RONDO: Sie stammen aus einer großen Familie ...

Harnoncourt: Ja, wir sind fünf Brüder und zwei Schwestern. Ich bin der Älteste von der zweiten Frau meines Vaters. Die jüngeren Geschwister waren mehr oder weniger meine Vasallen ...

RONDO: Da zeigte sich schon der Dirigent ...

Harnoncourt: Ein bißchen ja ... Ich hab’ immer die Initiative gehabt und die Idee und alles organisiert. Nach dem Krieg hatte ich ein Marionettentheater, ich wollte das als Beruf machen. Ich hatte nie eines gesehen – das wundert mich heute am meisten. Ich hatte nur die Arbeit von Kleist gelesen.
Ich habe schon immer Holzschnitzereien gemocht. Im Sommer waren wir immer auf einem Jagdschloß meines Großvaters, und da gab’s genug Holz. Ich habe mir ein Theaterstück nach dem Volksbuch des Faust gemacht; die ganzen Sommerferien hab’ ich damit zugebracht, die Figuren zu machen. Ich hab’ dann Leute gesucht, die mitmachen, habe die Beleuchtung und die Bühne selbst gebaut; die war vier Meter hoch! Da mußten ja zehn Leute oben stehen mit den Figuren. Es waren zwanzig Mitwirkende: Jede Figur braucht zwei Leute – einen, der sie spielt, und einen, der sie spricht. Meiner Meinung nach kann das nicht einer machen. Wenn ich beim Sprechen eine heftige Bewegung mache, ist das viel zu kräftig für die Bewegung einer Figur; das Temperament muß sich beim Sprechen und Spielen in ganz anderer Weise zeigen.
Das alles war im Schuljahr 1946/47. Da gab’s keine Kohlen und zwei Monate Ferien. In diesen zwei Monaten haben wir jeden Tag zehn Stunden geprobt! Der Jüngste war ein Bruder von mir, er war sieben oder acht, der Älteste ein Schauspieler von fünfundvierzig Jahren. Da ging alles ganz professionell zu. (Man merkt ihm noch heute den Stolz an) Wir haben zwanzig Aufführungen gemacht. Damit es ernst genommen wurde, habe ich keine Jugendlichen hereingelassen. Ich war selbst sechzehn oder siebzehn und hab’ keinen unter achtzehn hereingelassen! (er feixt) Doch dann hab’ ich überlegt, was ich für Kompromisse machen müßte, wenn ich das als Lebensberuf mache. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß es mit meinen Ansprüchen nicht möglich wäre. Ich habe von einem Tag auf den anderen gesagt "aus" und nichts mehr mit Marionetten gemacht.

RONDO: Schnitzen Sie heute noch Holzfiguren?

Harnoncourt: Vor drei, vier Jahren zum letzten Mal, einfach weil mir die Zeit abgeht. Als meine Kinder geheiratet haben, habe ich ihnen ein Kruzifixus geschnitzt. Ich habe sehr viele Möbel selbst repariert, und zwar immer richtig; nicht mit so einem Leim, den man nicht mehr mit Wasser auflösen kann; nicht mit Papier glattgeschliffen, sondern mit einem Messer glattgeschnitten und so weiter.

RONDO: Sie kennen sich mit den Materialien also gut aus ...

Harnoncourt: Für mich bedeutet Material sehr viel. Ich habe schon als junger Mensch ein in Leder eingebundenes Buch lieber gelesen als eins mit lackiertem Buchdeckel, weil mir das in den Fingern unangenehm war. Und wenn das Papier beim Blättern so ein ungutes Geräusch macht, dann empfinde ich das als handwerklich schlecht und unkünstlerisch. Das ist keine Marotte, sondern hat wirklich mit Kultur zu tun.
Warum hat man ein bestimmtes Möbel? Ganz lange habe ich über sinnvolle Sitzmöbel nachgedacht. Sitzt man anders, wenn man arbeitet oder wenn man sich entspannt? Der Stuhl auf dem Sie zum Beispiel sitzen, war wahrscheinlich einmal fünf Zentimeter höher. Wenn man bedenkt, daß die Leute früher um einiges kleiner waren, dann haben sie viel höher gesessen als wir heute. Die Lehnen sind so, daß man sich fast nicht anlehnen kann; für die Bereitschaft des Gehirns zu denken, muß das eine ziemlich Rolle gespielt haben.
Oder Treppen! Ich habe einmal überlegt, wie wichtig es ist, dem Körper beim Gehen den richtigen Rhythmus zu geben. Darauf bin bei einer Besichtigung des "Belvedere"-Schlosses in Wien gekommen und bei den Treppen Balthasar Neumanns in der Würzburger Residenz. Die Touristen kommen da herein und hatschen da so – die können ja überhaupt nicht gehen –, und kaum gehen sie diese Treppe hoch, bekommen sie einen Gang, eine Haltung. Das müssen Sie sich einmal anschauen! (ganz begeistert) Diese Stufen haben eine perfekte Höhe, die Schrittlänge ist richtig; der ganze Raum bringt einen dazu, daß man sich richtig hält.
Als Student in Wien habe ich im Schottenhof gewohnt, in dem eine Treppe aus dem 16. oder 17. Jahrhundert war. Ich habe gespürt, was da für ein toller Rhythmus in diesen Stufen ist. Dagegen die Wiener Stadtbahn von Wagner: Wenn Sie da eine Treppe gehen, wissen Sie nicht, wie sie gehen sollen – eine Stufe oder zwei; zu klein für das eine, zu groß für das andere. Man wird ganz grantig davon. Wenn jemand Tag für Tag über so eine miese Treppe gehen muß und dadurch aus der guten Laune gebracht wird; und dann geht er ins Büro und kriegt einen schlechten Brief aus dem Fax gespuckt; und am Abend geht er wieder über diese Treppe – da bleibt ihm überhaupt nichts anderes übrig, als sich anzusaufen! – Reden wir eigentlich über das, was Sie wollten? Sie machen so lustige Reaktionsgesichter ...

RONDO: O ja, durchaus. – Eine Treppe nötigt einem einen bestimmten Gang auf, zwingt einen ein altes Instrumente auch, anders zu spielen?

Harnoncourt: Ja! Streicher haben ja fast immer historische Instrument in der Hand, denn selbst modernisierte Streichinstrumente sind in der Regel mindestens zweihundert Jahre alt. Aber je historischer sie sind, also noch Darmbesaitung haben, desto mehr verlangen sie ein Gleichgewicht von Druck und Gegendruck. Bei einer modernen E-Saite zum Beispiel, die mit 10 Kilo Saitenspannung gespannt ist, muß man ganz anders mit dem Bogen draufdrücken, als bei einer, die mit 2,5 Kilo gespannt ist. Die würde, wenn man sie genauso wie die moderne spielte, nur kreischen. Man muß also eine völlig andere Bewegung und Intensität anwenden. Es gibt alte Instrumente, die viel lauter und aggressiver sind als neue. Sie wurden für Musik verwendet, die für den Krieg geschrieben ist, die den eigenen Leuten Mut machen und den Feind schrecken soll. Eine Trommel zum Beispiel: Man trommelt immer für oder gegen jemanden.

RONDO: Könnten Sie dazu ein Beispiel nennen?

Harnoncourt: Die türkischen Instrumente in der Ouvertüre von Mozarts "Entführung". Das Peitschen der Trommel ist ein Ausdruck dafür, daß ein Mensch geschlagen wird. Man hört direkt das Klatschen auf dem Fleisch, das ist das, was dargestellt werden soll. Oder in Haydns Militärsinfonie – da kommen diese Instrumente so programmatisch vor, daß man erkennen kann, daß es eine Anti-Militärsinfonie ist. Man kann erkennen, daß Haydn die jungen Menschen, die zum Militär gepreßt werden, bedauert. Die Trompeten und die türkischen Instrumente kommen mit der größten Brutalität herein und sagen: Du mußt jetzt zum Militär und mußt kämpfen. Dann entsteht ein Weinen und eine Reaktion.

RONDO: Sie schreiben der Kunst eine moralische Funktion zu ...

Harnoncourt: Ja, aber nicht dem Künstler, sondern der Kunst. Der Künstler selbst kann seine moralischen Qualitäten verraten, aber in der Kunst kann er’s nicht und tut er’s nicht.

RONDO: Sehen Sie heute jemanden, der in dieser Art schafft?

Harnoncourt: Das muß es geben! Sonst wäre ja schon alles vorbei. Ich bin zwar ein Pessimist, aber ...

RONDO: Sie haben mal geschrieben: "Wir steuern auf einen allgemeinen kulturellen Zusammenbruch zu" ...

Harnoncourt: Das ist nicht zu übersehen. Aber es ist eigenartig, daß ein Pessimist wie ich, der überhaupt keinen Ausweg sieht, irgendeinen Funken hat, daß es doch nicht so ist. Aber das ist wahrscheinlich der menschliche Wahnsinn.

RONDO: ... der einen überleben läßt ...

Harnoncourt: Vielleicht.

RONDO: Sie waren krank ...

Harnoncourt: Ich hatte eine ziemlich schwere Operation, aber die hätte ich auch mit dreißig haben können. Ich hab’ da schon einiges erlebt, als ich vier Tage auf der Intensivstation lag ...

RONDO: Hat diese Erfahrung Sie verändert?

Harnoncourt: Ich bin nach der Genesung genauso wie vorher. Das war kein Einschnitt, der mich alles neu sehen läßt; dazu war es nicht drohend genug. Aber das bloße Bewußtsein, den größten Teil des Lebens hinter sich zu haben, ist nicht so lustig.

Alle Rezensionen von Harnoncourt-CDs

Das Gespräch führten Teresa Pieschacón Raphael und Wolfgang Halder im Oktober 1996 in Nikolaus Harnoncourts Haus in Kilchberg bei Zürich.

 

 

 

 

 

 

 



 

 

 

 

"Das Leben eines Orchestermusikers ist eine ganz problematische Sache!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Das Bewußtsein, den größten Teil des Lebens hinter sich zu haben, ist nicht so lustig."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Mein Cello-Lehrer war ein großer Nazi, aber ein herzensguter Mensch."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Die Illusion, Solist zu werden, die fast alle Musikstudenten haben, hatte ich nie."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Nach dem Krieg hatte ich ein Marionettentheater."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Es ist wichtig, dem Körper beim Gehen den richtigen Rhythmus zu geben. Darauf bin bei einer Besichtigung des 'Belvedere'-Schlosses in Wien gekommen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Im Dritten Reich wurde ich schnell ausgesiebt für eine 'Führerausbildung', weil ich blaue Augen habe und wegen der Abstammung."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Warum sollen sie Grinse-Fotos von mir veröffentlichen?!"

 

 

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