Ist eine erregendere, farbenprächtigere Kulisse vorstellbar für ein grosses dramatisches Ballett als das Paris von Jacques Offenbach, die Metropole des zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III.? Schien doch die ganze Epoche unter dem Motto «La belle vie» zu stehen, schien doch Frankreich im Rausch dahinzuleben, dahinjagend in einem Wirtschaftsboom sondergleichen, mit Paris als der Hauptstadt der vergnügungssüchtigen Welt. Fragen wir nach den Quellen, die Heinz Spoerli zu dem Ballett inspiriert haben, das dann im Dezember 1987 unter dem Titel «La belle vie» in Basel uraufgeführt wurde.
Unmöglich, dass die entscheidenden Impulse nicht von der Musik des genialen Kölners Jacques Offenbach gekommen sein sollten, der als Dreizehnjähriger nach Paris gezogen war, das er ein paar Jahrzehnte später mit seinen Operetten unangefochten beherrschte. Aber auch: Welcher Gedanke mag für einen klassisch geprägten Choreographen verführerischer sein als der, einmal alle Schranken der klassischen Form zu durchbrechen und sich hemmungslos dem Cancan hinzugeben, diesem «Wahnsinn der Beine», bei dem - um die Can-Can-Legende La Rigolboche zu zitieren - «das linke Bein sozusagen nicht wissen darf, was das rechte tut»?
Was erzählt Spoerli in den zwei Akten und elf Bildern von «La belle vie»? Die Geschichte einer Familie, die ebenso typisch war für ihre Epoche wie aussergewöhnlich und sozusagen tragödientauglich. Prototypen des Grossbürgertums: ein Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Der Mann als heilloser Börsenspekulant und Bordell-Habitué, die Frau im Kerker ihrer Bigotterie unglücklich gefangen. Die Kinder, drei sehr unterschiedliche Wesen: ein noch kindlicher, romantisch-verschwärmter Junge, und zwei Mädchen, die ganz eigene Wege gehen werden, die eine scheu, unschuldig und idealistisch, die andere von frühreifer Sinnlichkeit.
Erwähnen wir noch einen entscheidenden Mosaikstein, der für Spoerli vom ersten Anfang an zum Belle-Vie-Ideenraum gehörte, und der denn auch Anfang und Schluss des Balletts vom «schönen Leben» bildet: Eugène Delacroix' grandioses Revolutions-Gemälde von 1830, «Die Freiheit auf den Barrikaden», mit jener fahnenschwingenden, barbusigen Frauenfigur im Zentrum, die zum Symbol revolutionären Heroismus' geworden ist. Das Revolutionslied «Ça ira!
Les aristocrats à la lanterne!» gesungen von Edith Piaf, bildet das musikalische Pendant und zeigt gleichzeitig die Freiheit von Spoerlis musikalischer Phantasie. Die auch im Umgang mit Offenbach zu erkennen ist: wer kennt schon die frühen Duos für zwei Violoncelli? In «La belle vie» erklingen sie als Tafelmusik zum Souper unserer Familie, ehe ein Börsencrash diesen, wie allen anderen Luxus, unter sich begräbt. Makabre Bemerkung am Rande: als Spoerli Anfang 1987 sein Ballett konzipierte, konnte er nicht wissen, dass just zur Endprobenzeit im Oktober 1987 ein spektakulärer weltweiter Börsencrash persönliche Katastrophen en masse provozieren würde, wie sie in «La belle vie» vorgeführt wurden, und die dem nostalgischen Werk beklemmende Tagesaktualität verliehen.
Zurück zur Musik. Spoerli konnte darauf vertrauen, dass sich im riesigen Oeuvre von Offenbach Material genug für jede nur denkbare Szene finden mochte. Caspar Richter bot dem Choreographen eine Auswahl, bei der weder die bekanntesten Schlager aus «Orpheus in der Unterwelt» und «Le Roi Carotte», noch kaum Bekanntes aus «Die Seufzerbrücke» oder «Die Prinzessin von Trapezunt» fehlten. Aber für die Szenen des Verfalls, der persönlichen Katastrophe zwischen den Ehegatten hatte Spoerli nicht nur ein anderes choreographisches Vokabular jenseits des klassischen Kanons im Sinn, sondern suchte auch musikalisch nach einer Auflösung, ja Zersetzung der Offenbachschen Musik. Ob je Ballettmusik so unmittelbar vom Choreographen inspiriert wurde wie diese vom Akkordeon gespielten Klänge zum Trennungs-Pas de deux der Eheleute, zum Solo der in den Wahnsinn fliehenden Frau?
Jedenfalls entstanden sie ganz direkt zwischen dem Choreographen und dem Akkordeonspieler, der die Vorschläge Spoerlis Punkt für Punkt umsetzte.
Von Revolution zu Revolution erstreckte sich Frankreichs Zweites Kaiserreich. Spoerlis Ballett stellt dieser im Rausch explodierenden Gesellschaft den Ruin einer grossbürgerlichen Familie entgegen. Er saugt sich die Geschichte nicht aus den Fingern, obwohl sie Punkt für Punkt seine eigene Erfindung ist. Aber die Geschehnisse, so romanhaft-phantastisch sie sein mögen, haben einen sehr realen Kern.
Siegfried Kracauers gelehrtes und unterhaltsames Standardwerk «Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit» lieferte Spoerli mehr als nur den Hintergrund, die sachliche Folie. Was wie eine Groteske à la Courts-Mahler klingen mochte ? bei Kracauer wird es überraschend beglaubigt. Etwa, dass es Ballettlehrerinnen gab, die gleichzeitig ein Bordell unterhielten und ihre Schülerinnen an reiche Habitués verkuppelten. So geschieht es mit den Töchtern der Belle-vie-Familie. Die eine verweigert sich, die andere folgt allzu willig der Versuchung. Und der Sohn? ? sucht in seiner Verzweiflung seelische und körperliche Hilfe bei der Lehrerin.
«La belle vie» wurde zu einem Kaleidoskop, einer Fülle von Stimmungen, choreographischen Bildern, wie es in den vergangenen Jahrzehnten auf der Ballettbühne wenig Vergleichbares gab. Die internationale Presse bei der Uraufführung war denn auch von seltener enthusiastischer Einmütigkeit, ohne dass einige ernsthafte Einwände gefehlt hätten, wie sie ein so kontroverses Werk notwendig provozieren musste. «Ein Versprechen auf die Zukunft des Balletts», die «Versöhnung des schönen Scheins mit der Wahrheit», ein «Sinne und Intellekt gleichermassen stimulierendes Ballett, das dem Tanz neue, bizarre und spannende Aspekte erschliesst», und schliesslich: «...brach das Publikum in Jubel aus. Zu Recht.» Es wird aufregend sein zu sehen, wie eine neue Compagnie, eine neue Stadt, ein neues Publikum und ein neues Jahrtausend sich mit Heinz Spoerlis «schönem Leben» auseinandersetzen
werden.