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MAGAZIN OPERNHAUS ZÜRICH

«LES INDES GALANTES» VON RAMEAU

EINLEITUNG

Testo pubblicato per gentile concessione della
direzione della Dramaturgie che il curatore
di questa Web Site ringrazia di cuore.


© Opernhaus Zürich

Nach 72 langen Regierungsjahren starb Ludwig XIV., der «Sonnenkönig», 1715. Das Ende seiner Regentschaft war wenig glanzvoll gewesen: Einstige Siege wurden zu Niederlagen, kurze Eroberungskriege zu langwierigen, auszehrenden Konflikten. Krankheiten dezimierten das französische Königshaus, und der Regent selbst war zum Greis verkümmert, zu einer Marionette in den Händen von Madame de Maintenon, die er heimlich geheiratet hatte. Mit seinem Nachfolger Ludwig XV. waren deshalb die grössten Hoffnungen für den Beginn eines neuen Zeitalters verbunden.

Es ist die Zeit des beginnenden Rokoko, wie sie Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux in seinen frivol-eleganten Komödien über Herzens- und Gemütsregungen aller Art geschildert und wie sie François Boucher in seinen erotisch-reizvollen Bildern festgehalten hat. Gefragt war nicht länger die Schönheit im klassischen Sinne, sondern das Hübsche des galanten Zeitgeschmacks. Auch die Musik sollte in erster Linie gefallen. Es mehrten sich die Stimmen, die nicht länger hehre griechische Götter und römische Imperatoren auf der Bühne sehen wollten und die genug hatten von erhabenen, schweren an der klassizistischen Tragödie orientierten Stoffen. Vielerorts war man des Opernideals der «Tragédie lyrique» und der offiziellen Staatskunst des Sonnenkönigs überdrüssig. Neues wollte man sehen: die vornehmen Herren und Damen des Landadels vielleicht, Schäferidylle auch oder gar etwas Exotisches.

Zu jener Zeit betritt ein Mann die Bühne, der zwar als Musiktheoretiker über einen grossen Namen verfügte, aber noch nie, obwohl bereits fünfzig Jahre alt, mit einem Bühnenwerk auf sich aufmerksam gemacht hatte. Es ist Jean-Philippe Rameau, der wohl vielfältigste, brillanteste und produktivste Geist unter den französischen Musikern. Am 24. September 1683 in Dijon als einer von sechs Söhnen eines Organisten geboren, entschied er sich erst mit achtzehn Jahren für den Beruf des Musikers. Ein Jahr später verliess er seine Geburtsstadt und nahm – nach einem Studienaufenthalt in Italien – bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr als Musiker Stellungen in verschiedenen Orten an, u.a. in Avignon, Clermont-Ferrand, Paris und Lyon. 1723 ging er ein zweites Mal nach Paris, diesmal für immer. Bis 1738 war er Organist an der Kirche Sainte-Croix-de-la-Bretonnerie. Seinen Lebensunterhalt bestritt er jedoch hauptsächlich als Privatmusiker im Hause des vermögenden Steuerpächters Le Riche de la Pouplinière. Als dieser sich immer mehr der Opera buffa zuwandte, die sich in Paris zunehmender Beliebtheit erfreute, verlor Rameau seinen wichtigsten und einflussreichsten Gönner. Bis zu seinem Tod am 12. September 1764 nahm er keine weitere Stellung mehr an. Sein Grab befindet sich in der Pariser Kirche St. Eustache.

Schon Rameaus erste Oper, «Hippolyte et Aricie», 1733 an der Opéra uraufgeführt, hatte die Gemüter entzweit und lieferte den Auftakt für eine Auseinandersetzung, die wenig später im sogenannten «Buffonistenstreit» gipfeln sollte. Als französischer Komponist war Rameau in der Tradition Jean-Baptiste Lullys verwurzelt, hielt sich stets für einen «Lullisten», wenn er auch, wie er selbst sagte, kein «sklavischer Nachahmer» sein konnte. Trotzdem warf man ihm vor, er habe die französische Oper Lullys verraten, italienische Harmonien eingeführt, kurzum: Sein Werk sei destruktiv. Das formale Vorbild für die Rameausche Oper bestand seit den Anfängen der französischen Oper im 17. Jahrhundert: seit Robert Cambert und vor allem seit Jean-Baptiste Lully. War der Prolog zur Zeit Lullys stets ein Vorwand zur Verherrlichung der Taten und Grösse des Sonnenkönigs Ludwig XIV. gewesen, so wurde er mit Rameau – wenn auch auf der Ebene der Götter spielend – Bestandteil der Handlung. Rameau, immerhin ein halbes Jahrhundert jünger als Lully, sprach die Sprache seiner Generation, und sein Verdienst besteht vor allem darin, dass er imstande war, diese Sprache der alten Gattung der «tragédie lyrique» anzupassen, ohne sie zu zerbrechen. Seit ihrem Beginn, etwa um 1670, kam dem Tanz in der französischen Oper eine wichtige Rolle zu: es handelte sich um nichts weniger als um eine nationale Obsession, was Hector Berlioz später zu der süffisanten Bemerkung veranlassen sollte, ein Franzose würde selbst in einer Aufführung vom Jüngsten Gericht noch eine Entschuldigung dafür finden, tanzen zu müssen. Da man sich in Frankreich also kein Bühnenwerk ohne Ballett vorstellen wollte, hatte André Campra bereits 1697 die neue Gattung der «Opéra-ballet» entwickelt: sein «L'Europe galante» war ein Riesenerfolg.

Hier offenbarte sich eine Alternative zum von Lully vertretenen und perfektionierten «Ballet de Cour», vom Gepräge her weniger nobel und allegorisch, dafür unterhaltender, erzählender und – ganz wörtlich – volksnäher. Tanz war nicht mehr eine Angelegenheit des Hofes, der sich in ihm spiegelte und seine eigene Welt reflektierte. Die allegorischen Bilder sprachen bei Lully noch von der Gottähnlichkeit der Herrschenden. Die formale Anlage, die streng geometrischen Raumwege repräsentierten die innere Ordnung und Hierarchie des Staates. Ballett war eine Art Gesellschaftstanz auf höchstem Niveau. Mit der Loslösung aus dem höfischen Kontext verlor das Ballett das Repräsentative. Mit Rameau war diese Epoche endgültig vorbei.

Interessanterweise haben aus dieser Zeit auch die Namen von Stars und Tänzerpersönlichkeiten bis heute überlebt, sind aktiv in unserem Bewusstsein geblieben, zumindest was den Ballettfan betrifft: Dupré, Vestris, die Camargo und Marie Sallé. Le Grand Dupré erhielt als erster (wenn auch nicht letzter) den Beinamen «le dieu de la danse». Er war der Protagonist von Lullys Balletten und wirkte auch in der Uraufführung der «Indes galantes» mit, da war er allerdings bereits über Vierzig. Er war ein Vertreter der alten Schule, eines noch ganz terre à terre getanzten – und darin dem höfischen Gesellschaftstanz noch nahen – Stils mit regelmässigen, symmetrischen Figuren, Promenaden und reizenden Mustern in der horizontalen Ebene, also Bodenmustern. Dann, zu Rameaus Zeiten, eroberte sich der Tanz die Vertikale, das Ballett vervollkommnete sein Repertoire an Sprüngen und Batterien – noch waren es kleine verglichen mit den heutigen –, sehr zum Leidwesen von Lully, der kritisierte: «Früher tanzten sie, heute springen sie.»

Der Tanz wurde virtuoser, sein männlicher Protagonist war Vestris der Ältere, auch er ein «Gott des Tanzes». Er galt als ausgesprochen modern, denn er trat als erster ohne die bis dahin obligate Maske auf. Auch die Camargo revolutionierte das Ballett mit ihren Entrechats und Cabrioles, die bisher den männlichen Tänzern vorbehalten waren. Um sie besser ausführen zu können, kürzte sie den Reifrock und schaffte die hohen Absätze ab. Sie war eine Briotänzerin mit bestechend brillanter Technik. Marie Sallé dagegen, die in der Uraufführung der «Indes galantes» tanzte, war eine sensible Tanz-Darstellerin und wie Vestris eine Pionierin des neuen Handlungsballetts, des «Ballet d'attraction».

Es ist die Entdeckung des Tanzes als darstellendes Medium, das genau so erzählen und berühren kann wie das Theater, das Drama, das gesprochene oder gesungene Wort. Die Erfinder des «Ballet d&Mac185;action» sind der französische Choreograph Jean-Georges Noverre und der Italiener Gaspero Angiolini; aber auch andere bereiten vor und neben ihnen das Feld. Die eigentliche Reform – oder ist es eine künstlerische Revolution – findet in Glucks grossen Opern statt. Rameaus «Indes galantes» entstehen an der Schwelle dieser Entwicklung und tragen Züge des neuen Genres: Sie versuchen eine Verschmelzung von Wort, Gesang, Musik, Tanz und Spiel, ein künstlerisches Ganzes, ein Amalgam.

Eine typische «opéra-ballet» à la Rameau bestand aus einem Prolog sowie drei oder vier Akten, die auch Entrées genannt wurden und nur lose durch eine Rahmenidee verbunden waren. Der Schriftsteller und Opernliebhaber Rémond de Saint-Mard brachte es folgendermassen auf den Punkt: «Jeder Akt muss eine interessante, heitere und, wenn man so will, leicht galante Intrige enthalten. Zu all dem, das heisst zu jedem Akt, gehört eine kleine Verwicklung; zwei oder drei kurze Szenen genügen dazu vollauf. Der Rest der Handlung besteht aus Arietten, Festen, unterhaltsamen Darbietungen und sonstigen hübschen Sachen. Nichts kommt unserer Leichtlebigkeit mehr entgegen, nichts ist unserem Charakter angemessener...» («Réflexions sur l'Opéra», 1741). Das Publikum schätzte die kurzweiligen Stücke und erfreute sich an ihren einfachen und unbeschwerten Stoffen, die nicht mit Abstrakt-Mythologischem belehrten, sondern mit Allgemein-Menschlichem bewegten. Besonders beliebt waren exotische Sujets, möglichst aus den zwei Welten, die das 18. Jahrhundert kannte: die «Indes orientales», der asiatische, und die «Indes occidentales», der amerikanische Kontinent. Die Bezeichnung «les Indes» bedeutet denn auch nicht Indien, sondern exotische Ferne allgemein.

Mit «Les Indes galantes», die am 10. März 1736 in ihrer kompletten Fassung mit einem Prolog und vier Entrées an der Académie Royale de Musique et de Danse, der Pariser Oper also, uraufgeführt wurden, hatte Rameau einen Prototyp der Gattung geschaffen. Waren es in Campras «L'Europe galante» noch vorwiegend europäische Nationen gewesen, wählte Rameau knapp vierzig Jahre später vier aussereuropäische Völkerschaften und Amor als ihren gemeinsamen Herrscher.

Ausgangspunkt für die «musikalische Weltreise» in «Les Indes galantes» ist der Prolog, in dem sich Hébé, die Göttin der Jugend, und die Mars-Schwester Bellone mit ihrem Gefolge darüber streiten, ob der Waffenruhm der Liebe vorzuziehen sei. Unterstützt von Amor beschliesst Hébé, die an Bellone verlorenen Herzen der Europäer nicht zurückzuerobern, sondern die Liebe in entfernteren Gefilden zu suchen.

Erste Station ist die Türkei. «Le Turc généreux» offenbart sich als eine Art Vorläufer zu Mozarts «Entführung aus dem Serail»: Der Pascha Osman ist in seine christliche Sklavin Emilie verliebt. Sie hält jedoch ihrem Verlobten Valère die Treue, der von Seeräubern entführt worden ist. Als ausgerechnet er bei einem Sturm an den Strand geschwemmt wird, schenkt Osman beiden die Freiheit. Auch das zweite Bild «Les Incas de Perou» führt zwei Liebende aus verschiedenen Kulturkreisen zusammen: die Inka-Prinzessin Phani und Don Carlos, einen spanischen Offizier. Der Sonnenpriester Huascar will Phani seinerseits für sich gewinnen und versucht ihr einzureden, dass ein Vulkanausbruch Ausdruck des göttlichen Zorns über ihre Verbindung mit einem der feindlichen Eroberer sei. Doch Carlos enthüllt, dass Huascar selbst die Explosion verursacht hat, und während sich Phani und Carlos ihre Liebe beteuern, wird Huascar bei einem neuerlichen Ausbruch von einem Lavabrocken erschlagen. Nach Persien führt das dritte Bild «Les Fleurs, fête persane». Zwei Paare sind es, die hier zueinander finden. Der Prinz Tacmas liebt eine der Sklavinnen seines Freundes und Untergebenen Ali, dieser eine des Prinzen. Nach einigen, von den Kritikern der Uraufführung ganz und gar nicht goutierten Verkleidungen und Verwechslungen, tauscht man die Sklavinnen. Der Sieg der Liebe wird mit einem prunkvoll-verschwenderischen Blumenfest gefeiert. Im vierten Bild «Les Sauvages» finden wir uns schliesslich in Amerika wieder, wo zwei Offiziere, der Franzose Damon und der Spanier Don Alvar der jungen Indianerin Zima den Hof machen. Sie aber will weder einen eifersüchtigen noch einen flatterhaften Gemahl, sondern entscheidet sich für Adario, den Armeeführer der «wilden Nation». Der Tanz der grossen Friedenspfeife besiegelt ihren Bund und gleichzeitig die Versöhnung der «Wilden» mit den Europäern.

Das Libretto von Louis Fuzelier schwankt zwischen Zivilisationskritik, Exotismus-Mode, eurozentristischem Dünkel und Faszination für die «edlen Wilden». Ganz im Geist der Aufklärung bemüht er sich im Vorwort um eine ästhetische Begründung des Sujets. Immer wieder betont er die «realistische» Grundlage, auf der die Handlungen mitsamt ihren Figuren basieren. Ein Fest wie die bukolische «Fête persane» existiere tatsächlich im Orient, er verweist auf die Inkakultur und ihre Rituale, und auch das erste Bild «Le Turc généreux» folge einer historischen Begebenheit.

Das einzige Stück, das tatsächlich mit einer realen «exotischen» Erfahrung in Verbindung gebracht werden kann, findet sich im Bild «Les Sauvages». 1725 waren im Théâtre Italien in Paris zwei Indianer aus Louisiana aufgetreten, die zum Klang ihrer Musik tanzten. Rameau hatte damals seinen Eindruck von diesem «Konzert» im Cembalostück «Les Sauvages» festzuhalten versucht; in «Les Indes galantes» wurde es dann zur «Danse du Grand Calumet de la Paix», dem Tanz zum Rauchen der Friedenspfeife. Das Stück sollte zu einem Schlager werden, das jeder Organist und Cembalospieler auswendig spielen konnte, und während des ganzen 18. Jahrhunderts wurde es jährlich am 24. August, am Vorabend des königlichen Namenstages, in den Tuilerien musiziert. Diese Chaconne darf als einer der grossartigsten Tanzsätze Rameaus gelten. Sie trug dazu bei, die überkommenen Beschränkungen des klassischen Tanzes aufzubrechen. Bisher, so ein Zeitgenosse, sei der Tanz wie die Statue Pygmalions gewesen: ihm fehle die belebende Seele. Rameau eröffnete den Tänzern ganz neue Möglichkeiten, die sie allerdings erst zu nutzen lernen mussten. So soll Rameau mit dieser Chaconne seinen Tänzer Dupré in arge Verlegenheit gebracht haben. Überhaupt beschränkt sich das Ballett in «Les Indes galantes» keineswegs auf die grossen Auftritte am Ende der einzelnen Entrées: sämtliche Instrumentalnummern waren wohl als Tanznummern gedacht. Bis auf die grosse eigenständige Tanzszene «Les Fleurs» im dritten Entrée war das Ballett in den Handlungsablauf integriert.

Vom zeitgenössischen Publikum wurden «Les Indes galantes» zunächst nur zögerlich angenommen. Die Musik erschien zu kompliziert und harmonisch so überladen, dass ein Kritiker den Komponisten zwar mit Amphion, dem sagenhaften lautenspielenden König von Theben verglich, aber Rameaus Laute habe die Hörer nur noch durch Lärm, Getöse und Geschrei einzuschüchtern versucht. Ein anderer Kritiker meinte ironisch, dass die Musik doch ganz indisch, also aussergewöhnlich und somit auch nicht ganz ohne Schönheit gewesen sei. Einzig Voltaire war es, der schon früh die Bedeutung dieser Musik erkannte. Er sah zwar die Schwierigkeiten, die Rameau seinem Publikum mit «dem Durcheinander seiner zahlreichen Sechzehntelnoten» zumutete, wagte aber dennoch die Voraussage, dass Rameaus Musik auf Dauer den Geschmack der Nation bestimmen werde, denn, so Voltaire, die Ohren bilden sich nur allmählich, nach einiger Übung.

Seit der ersten Aufführung der vollständigen Fassung am 10. März 1736 mussten 267 Jahre vergehen, ehe Rameaus Opéra-ballet nun ihre Schweizerische Erstaufführung erlebt – in vielversprechender, kompetenter und – dem Inhalt des Stückes verpflichteter – internationaler Besetzung.