Jean-Philippe Rameau
Les Indes galantes

QUELLE: http://www.impresario.ch/review/revramind.htm


Aufführung


11. 5. 2003
(Première)
*
Musikalische Leitung:
William Christie
Inszenierung / Choreographie: Heinz Spoerli
Bühnenbild:
Hans Schavernoch
Kostüme: Jordi Roig
Lichtgestaltung: Jürgen Hoffmann
Chor: François Bazola
Konzeptionelle Mitarbeit: Alegna Da

Hébé / Zima: Malin Hartelius
Bellone: Reinhard Mayr
L'Amour / Phani / Fatime: Isabel Rey
Osman / Huascar / Adario: Rodney Gilfry
Emilie: Juliette Galstian
Valère / Tacmas: Christoph Strehl
Don Carlos / Damon: Reinaldo Macias
Ali / Don Alvar: Gabriel Bermudez
Zaire: Liliana Nikiteanu

Chœur des Arts Florissants
Orchester "La Scintilla" der Oper Zürich
auf historischen Instrumenten
Zürcher Ballett


SYNOPSIS / LIBRETTO français deutsch


Rezensionen


13. 5. 2003

Ein barockes Gesamtkunstwerk - fast

«Les Indes galantes» von Rameau im Opernhaus Zürich

Musik gibt es, gesungene wie gespielte. Eine Geschichte gibt es - nein, nicht eine, sondern deren vier mitsamt einem Prolog. Tanz gibt es, allein, zu zweit, in der Gruppe, Hülle und Fülle fürwahr. Dazu Ausblicke in ferne und doch nicht so ferne Zeiten wie auch Besuche auf fremden Kontinenten. Selbst Tiere fehlen nicht noch die Funken des obligaten Feuerwerks. Ein Fest der Sinne, dreieinhalb Stunden lang, und ein Gesamtkunstwerk, allerdings nicht eines nach der Art Wagners.

Es stammt vielmehr von 1736 und von einem Komponisten, für den Voltaire ein Adjektiv übrig hatte, das sich mit einer Hartnäckigkeit sondergleichen bis in unsere Tage hält: «ennuyeux». Vielleicht ist es noch immer so, dass, wer den Namen von Jean-Philippe Rameau (1683-1764) ausspricht, zuerst an den Theoretiker denkt und an musikästhetische Traktate. Dass man sich heute aber auch an Werke wie «Les Indes galantes» erinnern und sich an ihrer prallen Sinnlichkeit erfreuen kann, das ist nicht zuletzt das Verdienst von Musikern wie dem Cembalisten und Dirigenten William Christie, der diese Ballettoper jetzt ins Opernhaus Zürich gebracht hat.

Was nun: Ballett oder Oper? Beides zusammen eben, das macht es aus. Nach dem Tod Ludwigs XIV. war man in Paris der höfischen, zeremoniellen, vorab auf den König ausgerichteten Tragédie lyrique einigermassen müde. Leichtere, freiere Unterhaltung war gefragt, und da der Tanz im französischen Musiktheater stets eine wichtige Rolle gespielt hat (übrigens bis weit über Rameau hinaus), trat die Ballettoper auf den Plan. Eine Folge kurzer, mimetisch fassbarer Geschichten in einem Akt, aber einem übergreifenden Thema verpflichtet, das im Prolog zu exponieren war, dazu die neuen, formal weniger strengen Tänze, die sich zu verbreiten begonnen hatten - das war die neue Gattung. Man darf nicht vergessen, dass damals italienische Tänzerinnen und Tänzer nach Paris gekommen waren, die keine Stöckelschuhe trugen und, zum Erstaunen des Publikums, in die Luft sprangen.

Hier griff Rameau ein - spät in seiner Laufbahn, aber gerade zum rechten Zeitpunkt. Mit «Les Indes galantes» hat er die Gattung um ein Stück von höchster musikalischer Qualität bereichert. Kein Wunder, stiess es zunächst auf Ablehnung und wurde es später, nach diversen Umarbeitungen und Erweiterungen, zu einem der nachhaltigsten Theatererfolge des 18. Jahrhunderts. Dass die Liebe, in welcher Form auch immer, jederzeit und überall den Krieg und die Gewalt verdränge, das ist das Thema, das im Prolog von der Göttin Hébé und ihrem Widerpart Bellone vorgestellt wird. In der Folge kommt es zu vier Geschichten, bei denen Frau (hohe Stimme) von Bösewicht (tiefe Stimme) bedroht und von Geliebtem (hohe Stimme) errettet wird - so oder umgekehrt oder ein wenig anders.

Die vier Geschichten spielen an den vier Enden der Welt und spiegeln die damalige Lust am Exotischen. Heinz Spoerli, der Zürcher Ballettdirektor, der in dieser Produktion die szenische Gesamtleitung innehat, fügt einen fünften Ort dazu: die Pariser Weltausstellung von 1889, die noch einmal Exotisches nach Paris brachte, dem jungen Claude Debussy zum Beispiel die Begegnung mit dem balinesischen Gamelan ermöglichte. So sind auf den zauberhaft transparenten Lamellenstoren, mit denen der Bühnenbildner Hans Schavernoch arbeitet, der Eiffelturm und die Gusseisenarchitektur der Gründerzeit sichtbar - wenigstens für den Prolog. Für den grossherzigen Türken des ersten Akts gibt es eine barocke Kulisse mit bemalten Prospekten, für die Inkas in Peru ein ausladendes Ölbild, das aus der Gare d'Orsay stammen könnte, und dahinter eine Dampfmaschine, die mit ihrem Feuerwerk vor der Pause den gefährlichen Vulkan ersetzt. Das persische Blumenfest des dritten Akts spielt im Palmenhaus, und das könnte nun in Wien stehen, während für den vierten Akt, bei den Indianern in Amerika, eine Marlboro-Ebene eingeführt wird. Ganz zum Schluss, damit es nicht vergessen geht, wird das Eröffnungsbild noch einmal heruntergefahren.

Das sieht sich - manchmal - so hübsch an wie die stilistisch vielgestaltigen, aber immer schmucken Kostüme von Jordi Roig. Dominierend ist dabei freilich ein Hang zum Dekorativen; viel gemacht wird jedenfalls nicht aus dieser szenischen Disposition, und viel gedacht dazu auch nicht. Und leider setzt das die Inszenierung fort, mit der sich Heinz Spoerli zum ersten Mal als Opernregisseur präsentiert. Die Massen sind gewiss wirkungsvoll gruppiert, vor allem, wenn die Bühne sich weitet und Raum freigibt. Aber die einzelnen Figuren sind weitgehend stereotyp geformt; ein Opernklischee folgt dem anderen - bis hin zu jenen peinlichen outrierten Verkleidungsszenen im persischen Blumenfest, die einer Schüleraufführung vielleicht nachgesehen werden könnten. Was schöpft ein Choreograph wie Joachim Schlömer, wenn er Opern inszeniert, nicht aus seinem spezifischen Erfahrungsschatz. Aber Spoerli wandelt auf ganz anderem Pfad; er scheint dem lieben Illusionstheater seiner frühen Jahre nachzuträumen - nicht unsympathisch, aber wohl doch etwas zu naiv für die Ambition des Hauses.

Und dann der Tanz. Als William Christie 1987 in der Pariser Opéra-Comique «Atys», die Tragédie lyrique von Jean-Baptiste Lully, so eindrücklich aus der Versenkung holte, wurden die Tänze wie die Musik in historischer Aufführungspraxis gegeben, griff die Choreographin Francine Lancelot auf die aus der Entstehungszeit des Stücks überlieferten Aufzeichnungen zurück. Auch da beschreitet Spoerli einen anderen Weg - notgedrungen, da zu «Les Indes galantes» die Quellen fehlen. Das Historische entspricht auch nicht dem Temperament des Choreographen, er schafft die Bewegungsabläufe vielmehr aus den Energien heraus, die er im Anhören der Musik empfindet. Sie werden vom Zürcher Ballett, soweit es der Musikkritiker ermessen kann, technisch hochstehend realisiert und wirken in eigener Weise schön; sie bleiben aber weitgehend beliebig, lassen jedenfalls nichts von jener Eindringlichkeit spüren, die Edouard Lock vor kurzem bei «Les Boréades» von Rameau in der Pariser Oper erzielt hat. Der Tanz erzählt die Geschichte nur in Umrissen, mehr berichtet er vom Choreographen und von seiner in langen Jahren der Arbeit entwickelten, allerdings auch hinlänglich bekannten Bewegungssprache. Und mehr als einmal glaubt sich das Auge in «Schwanensee» oder «Giselle», während das Ohr in Rameau schwelgt.

Ja: schwelgt. Die herrliche Musik von «Les Indes galantes» wird von «La Scintilla», dem Barockorchester der Oper Zürich, und vom fabelhaften Chor der «Arts Florissants» unter der feurigen Leitung von William Christie in aller Farbenpracht und Formenvielfalt ausgebreitet: von der prägnanten Ouverture à la française bis zu der majestätischen Chaconne, die das vierte Bild beschliesst. Dazwischen kommt es zu Momenten von unglaublicher kontrapunktischer Verdichtung und zugleich hochvirtuoser Agilität im Orchester. Gibt es Augenblicke entrückter melodischer Erfindung und harmonischer Reize, die einen nicht so rasch wieder loslassen. Und überraschen die Besonderheiten der Instrumentation - seien es die beiden Musettes, die kleinen Becken, sei es die einhändig gespielte Flöte, das Glockenspiel. Das alles trifft den Zuhörer, ein Vorteil des Zürcher Hauses, mit voller Intensität und ermöglicht ihm, sich auf ein Experiment einzulassen.

Wenn nur nicht so jämmerlich gesungen würde. Die Zürcher Oper glaubte, «Les Indes galantes» aus dem eigenen Ensemble heraus besetzen zu können. Dabei war eigentlich nur die Sopranistin Malin Hartelius zu idiomatischem Ausdruck in der Lage. Der Tenor Christoph Strehl kennt sich im Stil aus, gibt aber gern zu viel: an Ton, an Kraft, an Schluchzen. Isabel Rey legt brillante Koloraturen vor - aber Rodney Gilfry kämpft mit unpassenden Tessituren; Reinaldo Macias bemüht sich redlich um Appoggiaturen, dröhnt jedoch, wie wenn er in der «Traviata» aufträte; Gabriel Bermúdez sorgt für zusätzlichen Reiz, indem er das Französische spanisch klingen lässt; und Liliana Nikiteanu hat Mühe mit ihrem Vibrato. Den Tiefpunkt erreicht die Aufführung beim Quartett am Ende des persischen Blumenfests, dessen Tonhöhenverlauf nur ungefähr wahrzunehmen ist. Barockgesang kennt seine eigenen Gesetze und sein eigenes Handwerk - die durchaus zu beherrschen sind, wie die zahlreichen Abende mit William Christie und nicht zuletzt seine grossartige Aufnahme von «Les Indes galantes» aus dem Jahre 1991 (Harmonia mundi 901367) zeigen. Warum er sich auf dieses Experiment eingelassen hat, bleibt sein Geheimnis.

Peter Hagmann

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13. 5. 2003

Bilderbogen aus Klang, Farbe und Bewegung

Eine Art Gesamtkunstwerk bildet Jean-Philippe Rameaus Ballettoper «Les Indes galantes». Die Aufführung im Zürcher Opernhaus ist eine Augen- und Ohrenweide.

Von Thomas Meyer und Agathe Blaser

Blaue Tücher wogen über die Bühne, Matrosen wirbeln vorbei, einige tragen schwankende Schiffe, Rauch verbreitet sich, alles kommt ins Wanken, und schliesslich hängen die Kulissen, hier die Pracht eines türkischen Serails, schief im Bild. Auf höchst effektvolle und gleichzeitig fast kindliche Weise ist da eine Theaterwelt aus den Fugen geraten. Es ist diese Mischung aus schlichter Erzählung und höchst raffinierter Bühnenmaschinerie, die das Publikum des Barockzeitalters faszinierte, zumindest 1735, als Jean-Philippe Rameaus Opéra-Ballet «Les Indes galantes» in Paris uraufgeführt wurde. Wie das gewirkt hat, lässt sich nicht rekonstruieren, allein weil wir andere Sehgewohnheiten haben. Die Zürcher Inszenierung versucht das auch nicht - und doch entspricht sie in vielem den Intentionen des barocken Musiktheaters. Sie lässt nämlich ein fantasiegeladenes künstlerisches Gebilde aus Musik, Gesang, Chor, Tanz, Bühnenbild und Kostümen entstehen.

Ein fast überreicher Bilderbogen
Die Handlung ist etwas dürftig. Die Göttin der Jugend Hébé (virtuos: Malin Hartelius) will mit Hilfe Amors zeigen, dass sie in der Welt mehr als der Kriegsgott bewirkt. Anhand von vier sonst unverbundenen Episoden aus der Türkei, dem Peru der Inkas, Persien und dem Wilden Westen tritt sie den Beweis an - was ihr natürlich gelingt: Die Liebe obsiegt, notfalls über kulturelle Schranken hinweg. Und damit könnte das Stück sogar von einer gewissen Aktualität sein, denn die exotischen Völker sind den Europäern zumindest gelegentlich überlegen. Um die Ideologie vom edlen Wilden geht es dem Stück freilich nur am Rande. Am Ende wird jede Geschichte auf andere Weise gelöst. Wichtiger ist die Macht der Liebe, und die lässt sich wunderbar illustrieren.

Einen fast überreichen Bilderbogen hat Heinz Spoerli, der Chef des Zürcher Balletts, entworfen. Er konnte dabei auf die kongeniale Hilfe von Hans Schavernoch (Bühnenbild) und Jordi Roig (Kostüme) vertrauen. Sie transferieren die Rahmenhandlung in die Pariser Weltausstellung von 1889; die vier Entrées (Akte) spielen in verschiedenen Pavillons. So erhält die Exotik einen ihr gemässen Platz, und augenzwinkernd lässt sich manches Klischee herbeizitieren. Das Stück bewahrt sich so den naiven Blick. Dass diese Bilder nicht kitschig wirken, liegt an den erdigen Farben und vor allem an der ideenreichen, ja übersprudelnden Umsetzung. Man kommt an diesem Abend aus dem Staunen nicht heraus, so elegant, witzig, sinnenfroh ist das Visuelle gestaltet. Manchmal darf sich sogar ein Spoerli dahinter verstecken, wenn ihm bei einer Szene zu wenig einfällt. Nicht psychologischer Realismus ist hier gefordert noch bedeutungsschwangeres Regietheater, sondern Unterhaltung auf höchstem Niveau. Darin überzeugt der Abend als Ganzes. Den grossen Bogen jedoch erhält er durch die Macht der Musik.

Mit dem ersten Akkord der Ouvertüre bricht die Körperlichkeit und Sinnlichkeit dieser Tonsprache hervor. Sie greift in den Rücken und geht doch auch fast ungestüm in die Beine. Mit ungemeinem Reichtum entfaltet Jean-Philippe Rameau hier seine Gesänge und Tänze, farbenfroh, agil und raffiniert.

Phänomenal subtiler Gesang
Und so bringt sie Dirigent William Christie, ein enthusiastischer Rameau-Apologet, mit dem Barockorchester des Zürcher Opernhauses «La Scintilla»zum Erklingen. Aus Paris hat er den Chor seines Ensembles «Les Arts Florissants» mitgebracht, der mit phänomenaler Subtilität singt. Nicht alle Solisten sind gleichermassen mit dem französischen Vokalstil vertraut, am natürlichsten wirkt er bei Juliette Galstrian. Der Bassist Rodney Gilfry singt sich erst von der zweiten Szene an frei. Von der verspielten Seite zeigen sich Reinaldo Macias, Gabriel Bermúdez und vor allem Christoph Strehl, berührend die Zare von Liliana Nikiteanu und souverän bis ins Pianissimo Isabel Rey (ebenfalls in drei Rollen). Heikel an dieser Musik ist, dass sie nur selten weite Linien formt, sondern vielmehr eine Kette musikalischer Perlen bildet; nur gelegentlich, wie etwa im Quartett des dritten Bildes, entsteht ein Ensemble, dann aber eins der berückendsten Art. Diese Detailverliebtheit, die Rameau wohl um einen Teil seines Erfolgs brachte, wirkt unter Christie sensationell frisch.

Übermütiger Tanz
Während die Musik einer möglichst historischen Aufführungspraxis folgt, ist der Tanz in «Les Indes galantes» keineswegs originalgetreu. Die ursprüngliche Choreografie des Ballettoper ist nicht überliefert und wäre aus heutiger Sicht wohl kaum zu goutieren. Obwohl die Franzosen zu Rameaus Zeiten tanzversessen gewesen sein sollen, stand das Ballett damals noch am Anfang seiner technischen Verfeinerung. Der Spitzenschuh war noch nicht erfunden, und eine Tänzerin wie Marie Sall, die ihr Haar offen trug und den Reifrock ablegte, um die Bewegungslinien besser zur Geltung zu bringen, erhitzte die Gemüter. Spoerli nun hat in seiner Inszenierung die Aufgabe mit Bravour gelöst, alle Tanzszenen neu zu gestalten und eine adäquate Form zu finden, um die Körpersprache der Sängerinnen und Sänger mit derjenigen des Ballettensembles zu verflechten. Den Gesangssolisten lässt er weit gehend Freiheit, sich so zu bewegen, wie es ihnen vertraut ist: langsam, gravitätisch und erdverbunden, den Blick innig in unbestimmte Ferne geheftet. Die Bewegungen der Tanzenden wirken demgegenüber schnell, leicht, filigran, übermütig und extravertiert. Die meisten Tanzsequenzen stehen damit zu den Alltagsbewegungen der Sänger in reizvollem Kontrast. Und da die Rahmenhandlung die Fortschrittsgläubigkeit der Pariser Weltausstellung zitiert, hat sich Spoerli die Freiheit genommen, aus der Tanzgeschichte zu zitieren und die beachtliche Qualität der heutigen Tanzkunst ebenso ins beste Licht zu rücken wie die Virtuosität des Zürcher Balletts. Höhepunkte sind das von Loie Fullers Schleiertanz inspirierte «Ballet des Fleurs» und im letzten Akt der fliessende Übergang vom folkloristisch angehauchten «Indianertanz» zum atemberaubend dynamischen, neoklassischen Menuett.

Die Tänzerinnen und Tänzer haben in «Les Indes galantes» keine tragende Rolle und oft lediglich illustrierende oder dekorative Funktion. Das mag manche Ballettfreunde enttäuschen. Dass in Rameaus Ballettoper der Tanz an zweiter Stelle steht, vermochte Spoerli zwar nicht zu ändern. Seine Liebe zum Ballett äussert sich aber darin, dass er das Tanzen ebenso wie die Musik zum vitalen Motor der gesamten Inszenierung macht. Dies geht manchmal so weit, dass alles zu tanzen scheint: nicht nur die liebestrunkenen Menschen, sondern auch die exotischen Kulissen samt Meeresbrandung, Palmenblättern und Wetterleuchten. Und da Spoerli ein sinnlicher, höchst versierter Choreograf ist, sieht das wirklich wunderbar aus.

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13. 5. 2003

Blick ins Museum

VON LILITH FREY

«Les Indes galantes» (1735) hatte am Sonntag Premiere, eine Schweizer Erstaufführung. Es wird getanzt, gesungen, musiziert. Heimlicher Mittelpunkt war der Dirigent William Christie.

Der Gelehrte mit der grossen Brille und den weissgrauen Haaren gilt als Koryphäe der Barock-Musik. Er ist Amerikaner und lebt in Paris. Der französische Komponist Jean-Philippe Rameau (1683 - 1764) gilt als Bindeglied zwischen dem schweren Barock und dem leichten Rokoko.

Wer dem Orchestergraben nahe genug sitzt, erlebt Christie als Besessenen, als Verrückten, als einen Rameau-Verliebten. Immer ein Lächeln um die Lippen. Wenn die Sänger singen, singt er mit. Das Orchester führt er mit der Leichtigkeit des Kenners und der Zärtlichkeit des Liebenden. Seine Handbewegungen erinnern an die Eleganz höfischen Tanzes. Nach knapp vier Stunden «Les Indes galantes» schien Christie jedenfalls jünger als zuvor.

Der Premieren-Applaus war mächtig. Natürlich galt er auch den Sängern, den Tänzern und dem Ballettdirektor Heinz Spoerli, der Regie führte und die Choreografie besorgte.

Die Inszenierung mag gefallen oder nicht, sie ist auf ihre Art ein Kunstwerk. Vielleicht ein bisschen aus der Mode gekommen. Als Museumsschau lässt sie sich bestaunen. Ob es an den kunterbunten Kostümen liegt, an der opulenten Bühnendekoration oder an der Kombination. Der Gesamteindruck ist mehr Barock als Rokoko.

Rameaus Musik ist nicht einfach, für Sänger eine Herausforderung. Nicht alle haben sie bestanden, der Chor aber ist fantastisch.

Der Höhepunkt findet in «Troisieme Entrée: Les Fleurs, Fête Persane» statt, da stimmen Christoph Strehl, Gabriel Bermúdez, Liliane Nikiteanu und Isabel Rey göttergleich zusammen.

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13. 5. 2003

Liebe schwärmt auf allen Wegen
Ballettdirektor Heinz Spoerli gibt mit «Les Indes galantes» von Rameau sein Debüt als Opernregisseur

Ein Vierteljahrtausend nach der Uraufführung kommt Jean-Philippe Rameaus exotisches Opéra-ballet erstmals auf die Zürcher Opernhausbühne: als schweizerische Erstaufführung. Eine bunte Zeit- und Erlebnisreise in exotische, naturbelassene Fernen, wo die Liebe dafür sorgt, dass Herz zum Herzen findet.

WERNER PFISTER

Ausgangspunkt dieser Reise am Opernhaus Zürich - ja, wo genau ist er eigentlich? In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Rameaus üppig ausstaffierter barocker Opern- und Ballettmusik? Oder im 19. Jahrhundert, wie es das Bühnenbild sinnlich veranschaulicht: mit Weltausstellungen als Triumph des Industriezeitalters, mit Pariser Eiffelturm (1889) und Londoner Kristallpalast (1851)? Oder in der zeitgenössischen Gegenwart, wie sie mit den Kostümen angedeutet wird, vor allem aber mit den Ballett-Choreografien Heinz Spoerlis? Diese Frage - das wird im Verlauf der ebenso bunten wie amüsant verspielten Inszenierung klar - ist nicht wirklich von Belang. Denn das Spiel mit Epochen und Stilen, mit historischer Authentizität und moderner Anverwandlung, es gehört wesentlich zu ihr.

Geschichte wiederholt sich
Am Anfang, in der Ouvertüre, gibt allein die Musik den Ton an, und zwar auf historischen Instrumenten - das Orchestra La Scintilla der Oper Zürich unter der Leitung von William Christie. Fein ziselierte Klänge, immer wieder abwechselnd mit barocküppigem Blechbläser-Pomp, farbig leuchtend und intensiv. Christie versteht es vorzüglich, aus dem Wechsel von Spannungs- und Ruhemomenten eine dramatische Stimmung nicht nur zu erzeugen, sondern sie über einen fast vierstündigen barocken Opernabend lang stets erneut zu kitzeln und herauszufordern. Das sprüht nur so vor Lebendigkeit und Einfallsreichtum, ist in Agogik und Dynamik gleichzeitig höchst differenziert ausgearbeitet und klingt (ausser in den intonationsgefährdeten Blockflöten) frisch und unverbraucht, lieblich und exquisit - ohne historische Staubschichten auf der musikalischen Oberfläche, ohne Firnis oder Patina. Ebenso souverän: der «Chœur des arts florissants».

Auf der Bühne indes beginnt die Erlebnisreise im industriestolzen 19. Jahrhundert. Bilder vom Eiffelturm und Kristallpalast durchdringen einander, geben Aus- und Einblicke frei, schaffen Räume und vor allem Atmosphäre. Dieser fortschrittstrunkene Triumph des Industriezeitalters hatte bekanntlich auch seine Kehrseite: Mit ihm verbunden war das Gefühl einer Entfremdung von der Arbeit und überhaupt einer Entfremdung aus den ursprünglichen natürlichen Lebenszusammenhängen des Menschen. Rousseaus Ruf von einst, «retour à la nature», scheint hier, ein Jahrhundert später, abermals zu widerhallen: Geschichte wiederholt sich.

Machu Picchu und Death Valley
Diese Einsicht macht Heinz Spoerli konsequent für seine höchst lebendige Inszenierung fruchtbar. Rousseaus Ruf widerhallt in der Zeit Rameaus ebenso wie im Industriezeitalter des 19. Jahrhunderts, und er tönt auch durch unsere zeitgenössische, neusensible Bio-Epoche. Historisches verbindet sich so sinnvoll und erhellend mit Aktuellem - in den fantasievollen Kostümen von Jordi Roig, in der Regie und Choreografie von Heinz Spoerli sowie in den Bühnenbildern von Hans Schavernoch.

Ein stilvolles Barocktheater (im Theater) entführt uns im ersten Akt in die Türkei; und wenn dort im Verlauf der Liebesgeschichte ein Meeressturm losbricht, dann wird dieses Theater derart in seinen Grundfesten erschüttert und biegt sich abenteuerlich, dass einem schwindelt. Im zweiten Akt befinden wir uns in Peru - genauer: auf Machu Picchu in den Anden. Auch hier geht es um Liebeshändel, sogar ein Vulkan wird zum Ausbruch gebracht, was auf der Opernbühne mit den Maschinen des Industriezeitalters visualisiert wird, die unter Funkensprühen, unter Blitzen und Getöse auseinanderbrechen.

Der dritte Akt: ein persischer Palmengarten in schwülen Grüntönen, dazu verwirrliche Rollenversteckspiele und Sommernachtsträumereien, bis sich zum Schluss die Herzen finden. Und im vierten Akt sind wir bei den wilden Indianern irgendwo im steinig dürren Death Valley, wo immer wieder äusserst gefährliche Riesenskorpione über die Bühne beinerln. Doch auch hier gilt: Liebe schwärmt auf allen Wegen.

Wettsingen
Nicht nur diese so unterschiedlichen Örtlichkeiten und Zeiten bringt Heinz Spoerli zwingend unter einen Bogen, sondern auch Tanz und Gesang, opéra und ballet. Mitglieder des Junior-Balletts sowie die Damen und Herren des Zürcher Balletts - es sind ihrer so viele, dass sie hier nicht einzeln genannt werden können - tanzen in aparter stilistischer Vielfältigkeit gekonnt gleichsam um die Wette, Historisches zwanglos mit einer heutigen Asthetik verbindend.

Über die Sänger - auch ihrer sind viele und in vielen Partien - möchte man dasselbe schreiben: ein herzerfrischendes Wettsingen um die Gunst des jeweiligen Geliebten resp. der jeweiligen Geliebten resp. des Publikums. Und das gelingt nicht nur den Verliebten vorzüglich, Isabel Rey und Reinaldo Macias, Juliette Galstian und Christoph Strehl, Gabriel Bermudez und Liliana Nikiteanu und Malin Hartelius, sondern auch dem Bösewicht vom Dienst: Rodney Gilfrey. Und treffen sich, am Schluss des dritten Aktes, die zwei verliebten und glücklich wieder vereinten Paare zum lyrisch innigen Quartett-Gesang, dann denkt man unwillkürlich an Wagners «Meistersinger»-Quintett: Geschichte, auch die Musikgeschichte, scheint sich in der Tat zu wiederholen.

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13. 5. 2003

Barockes Spektakel unter dem Eiffelturm
Ballett und Oper, Revue- und Effekttheater: Die Mischgattung des 18. Jahrhunderts, die mit Rameaus «Les Indes galantes» einen Höhepunkt erreicht hat, feiert im Opernhaus ein Comeback - nicht als historische Rekonstruktion, sondern als Musik-, Tanz- und Bühnenshow für ein Gegenwartspublikum.

Herbert Büttiker

Gegenwart? Der Schauplatz der «Indes galantes» im Zürcher Opernhaus ist – verblüffend genug – die Weltausstellung von 1889 in Paris: der Eiffelturm, Eisengotik auf dem Höhepunkt des Industriezeitalters, Exotismus und europäische Dominanz – eine Epoche, die etwa gleich weit entfernt liegt von der Zeit Ludwig XV. (Uraufführung der «Indes galantes» war 1735) und der Gegenwart. Gleich das erste Bild hebelt so ein Theater der seriösen Rekonstruktion wie der Aktualisierung aus, aber auch das 19. Jahrhundert gewinnt keine Macht über das anbrechende Bühnenspektakel.

Denn der Musik fehlt natürlich alle Schwere des Industriezeitalters und des grossen Orchesters der Spätromantik: Zu hören ist ja nicht Wagner, sondern Rameau, und zwar in der von William Christie mit grosser Verve akzentuierten Leichtigkeit, Spontaneität und – die längst «einverleibte»historische Musikpraxis macht es möglich – schon geradezu pausbäckiger Gesundheit, die nur in den langsamen Tempi manchmal zerbrechlich wirkt. Das Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich funkelt vor Spielfreude und täuscht mit Ausdrucksfülle und ausgeprägter Phrasierung darüber hinweg, dass es sich eigentlich um eine instrumental wenig aufgefächerte (in der kompositorischen Faktur um so vielfältigere) Musik handelt. Nur ausnahmsweise, aber effektvoll greifen die Trompeten oder spezielles Schlagzeug (Kettengerassel) ein. Aber wie in der Aufstellung der Instrumentalisten im angehobenen Orchestergraben überhaupt – die Oboen und Fagotte, den Dirigenten flankierend zur Bühne –, wird historische Musikpraxis auch ein sichtbares Erlebnis, wenn die Spieler der Musette oder der Tambour mit Schnabelpfeife auf die Bühne kommen.

Nicht nur das Barockorchester lässt die Weltausstellung von 1889 immer wieder vergessen. Auch die Bühnenkunst macht die Schwerindustrie vollkommen leicht: Hans Schavernoch zaubert die Eisenkonstruktionen auf bühnenbreite Lamellenstoren und Gazevorhänge. Durchsichtigkeit, spektrale Farbigkeit und offene, changierende Räume lassen das 19. Jahrhundert weit zurück – genauso wie ein grosser Teil der Kostüme, die Jordi Roig ebenso gut für den heutigen Laufsteg wie für die Ballett- und Opernbühne entworfen haben könnte: die eleganten Hosenanzüge der Tänzerinnen und Tänzer im Prolog, die Haute Couture im Blumen-Divertissement. Der Indianer scheint eher in der Disco als in der Prärie zu Hause.

Zwischen Tragédie und Revue
Die optisch-akustische Zeit- und Stilmélange hat zweifellos ihren Reiz als ästhetisch raffiniertes Spektakel, das – fern aller historischen Bemühung und Verantwortung – dennoch einen zentralen Aspekt des Opéra-Ballet trifft. Dieses wollte ja im Unterschied zur strengeren Tragédie lyrique durchaus auch ein unterhaltsameres Bühnenevent sein. Nicht umsonst folgten sich, durch die Themenvorgabe im Prolog thematisch locker verbunden, die «Entrées» ohne zwingenden Zusammenhang (1735 waren es erst drei, «Les Sauvages» kam 1736 dazu). Abwechslung war bestimmend: die Variation der Bühneneffekte (Seesturm, Erdbeben und Vulkanausbruch); die Möglichkeiten, neben eigenständigeren Ballettszenen Tanz inhaltlich einzubinden (ein Sonnenritual bei den Inkas, der Tanz mit der Friedenspfeife bei den Indianern); die Abfolge heiterer und pathetischer Akte; die Buntheit von Szenerie und Kostüm in der Reise vom türkischen Harem zu den Indianern Südamerikas, vom persischen Palastgarten zu den Prärie-Indianern Nordamerikas.

Wie Heinz Spoerli die Vielfalt der Musik und die lockere Dramaturgie des Stücks choreografisch zum Blühen bringt, hat immer wieder etwas Erstaunliches, und der ausgebreitete Reichtum begeistert umso mehr, je konkreter es sich darum handelt, wie sensibel und originell Tänzer Rhythmus und Charakter der Musik in Bewegungsfluss und Raumgestaltung umsetzen: Vieles ist voller Überraschung, schön im Wechsel von Witz und Anmut und wird brillant umgesetzt vom Corps und zwei Solistenpaaren (Evelyne Spagnol und Nicolas Blanc, Ana Quaresma und Akos Sebastyen). Auch der Chor – William Christie hat die stimmlich hervorragend präsenten Sängerinnen und Sänger seiner Choeur des Arts florissants nach Zürich mitgenommen – und in einzelnen Szenen auch die singenden Solisten tragen manches zur schönen choreografischen Musikalität der Aufführung bei, in der sich Rameaus Barock mit Spoerlis Bewegungssprache zwanglos verbindet.

Kurzweil ist also angesagt, jedoch über einen Abend von mehr als dreieinhalb Stunden Dauer, der auch seine Längen hat. Das hat gewissmit der Musik selber auch zu tun, mit langen Rezitativen und vielen Wiederholungen, aber ist da und dort auch ein Hinweis auf dramaturgische Defizite, indem sich das inhaltliche Interesse im bunten Äussern denn doch eher zu verlieren droht.

Rameaus Nähe zu Voltaire könnte ja stärker mit berücksichtigt werden, und damit der aufklärerische Ernst, der in der «realistischen» Stoffwahl (im Kontrast zu den klassischen und mythologischen Themen der Tragédie lyrique) der «Indes galantes» zum Ausdruck kommt. Krieg und Frieden (Prolog!), die Grossmut des Türken (die dann die «Entführung aus dem Serail» noch stärker akzentuieren wird), die Konfrontation der Kulturen, in der einmal europäische Überlegenheit im Vordergrund steht, einmal der «edle Wilde» im Kontrast zu westlicher Dekadenz: solches spielte gewiss eine wesentlichere Rolle und grundierte die Musik mit grösserer Intensität, als die Zürcher Inszenierung in ihrer ungezügelten Bilderfreude ahnen lässt.

Schon der überraschende szenische Ausgangspunkt der Inszenierung büsst im Laufe der Akte seine Stimmigkeit ein, bis er im Wüstenbild des letzten Entrées ganz vergessen ist. Er überzeugt in der ersten Entrée, wo die Weltausstellung Hintergrund für ein Theater auf dem Theater ist und so die barocke Bühne als liebevolles und ironisches Zitat gegenwärtig wird. Der Inka-Akt verliert dann aber an Plausibilität in der Pariser Maschinenhalle, wo der Peruaner nun nicht die Naturgewalten zu manipulieren versucht, sondern, technikkundig genug, eine Maschine explodieren lässt. Vor allem beeindruckt das grosse Tanztableau des Sonnenrituals an diesem Ort nicht sonderlich, wie überhaupt choreografisch Erzählendes (das Kofferballett!) nicht zum Inspiriertesten der Inszenierung zählt.

Virtuoses Ensemble
Aber das Ganze ist natürlich auch ein gewaltiger Brocken für den Regisseur und Choreografen in Personalunion. Dabei verteilen sich bei Spoerli Defizite wie Meriten durchaus auf beide Bereiche, wie die Prägnanz auch der Opernfiguren zeigt, zumal wo sich Komödiantik mit musikalischer Brillanz verbindet wie bei Martina Hartelius, die im Prolog als Göttin der Jugend ebenso koloraturensicher agiert wie im letzten Bild als Indianermädchen. Reinaldo Macias ist hier als flatterhafter Franzose augenzwinkernd ebenso pointiert wie zuvor als Liebender, der mannhaft gegen den Inka-Rivalen antritt. Seine Partnerin dort, Isabel Rey, hat die pfiffigsten Auftritte in den heiteren Rollen als kecker Amor und als Fatime mit Schnauz und Männerkleidern in der dritten Entrée. Der unkomplizierte Umgang mit der «alten Musik» überzeugt eben meist doch mehr als die Vibrato-Experimente, wie sie auch Liliana Nikiteanu im harmlosen Kleidertauschakt manchmal stimmlich etwas steif wirken lassen. Ihr Partner, der Tenor Christoph Strehl, gefällt hier mit frischem Zugriff, als verzweifelter Liebhaber im ersten Entrée kommt er angesichts der dem Pascha ausgelieferten Geliebten (ausgeglichen und innig Juliette Galstian) wohl zu sehr ins Schmachten.

Währschaftes, teilweise auch wenig Differenziertes ist von den tiefen Stimmen zu hören, von Reinhard Mayr als Kriegsgott im Prolog, von Gabriel Bermudez und von Rodney Gilfry als nicht durchwegs klar intonierendem Pascha und Inka-Gewaltigem. Aber auch sie gehören zu einem virtuosen Sängerensemble, das dafür sorgt, dass «Les Indes galantes» in der Reihe von «Einaktern» auch zum Opernabend wird – wobei das vielleicht in Frage zu stellen ist. Denn dass man hier Ballett und Oper weder auseinander dividieren möchte noch dividieren kann, macht das Besondere dieser Produktion ja gerade aus.



13. 5. 2003

Eine Oper, auf Zehenspitzen getanzt
Begeistert gefeierte Premiere von Rameaus Ballett-Oper «Les Indes galantes» im Opernhaus Zürich

Der Zürcher Ballettchef Heinz Spoerli hat sich erstmals an eine Operninszenierung gewagt: «Les Indes galantes» von Philippe Rameau, eine Ballett-Oper mit dem fürs damalige Frankreich typischen Prunk und farbiger Exotik. Ein riesiges Ballett-Corps, neun Gesangssolisten und ein Chor werden in vier Bildern und einem Prolog koordiniert.
Die Premiere am Sonntag mit dem Rameau-Spezialisten William Christie und seinen Choristen Les Arts Florissants gewann nach Anfangsschwierigkeiten an musikalischem Profil. Heinz Spoerlis «Weltausstellungs-Idee» und seine präzise phantasievolle Choreografie begeisterten das Premierenpublikum.

Moderne, vielsagende Szenerie
Das historische Foto von 1889 ist imposant. Es zeigt «Spaziergänger unter dem Eiffelturm» und ist ausgesprochen stimmungsvoll. Der Prolog zeigt danach das ähnlich wie der Eiffelturm konstruierte Gebäude der Pariser Weltausstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der es Kulturen und neuste technische Errungenschaften aus allen Herren Länder zu bestaunen gab. Auch dieses grüne Metallkonstrukt wird riesig auf feine Rollladenlamellen projiziert; und durch eine kleine Öffnung werden auf Holz-Garetten exotische Bäume reingefahren. Die Dimension ist gigantisch, das Lichtspiel brillant. Dem Bühnenbildner Hans Schavernoch und dem Lichtgestalter Jürgen Hoffmann, die sich beide schon an verschiedenen Barockopern versucht haben, gelingt auch diesmal eine ausgesprochen moderne und doch plastisch vielsagende Szenerie.

Die 1735 uraufgeführte Oper hat mit der damaligen Weltausstellungs eines gemeinsam: die Faszination des Exotischen. Philippe Rameau, ein einfallsreicher und experimentierfreudiger Musiker in der Nachfolge von Jean-Baptiste Lully, hat die Mode der Zeit zu einem tänzerischen Unterhaltungsspiel gebündelt. Mit «Les Indes» sind nicht etwa die Inder, sondern ganz allgemein die Exoten gemeint. Die vier Bilder zeigen vier aussereuropäische Völkerschaften, in welchen der Widerstreit zwischen kriegerischem Herrschertum und der Liebe immer zugunsten von Amor ausgeht.

Ausgangspunkt für die musikalische Weltreise ist der Prolog, in dem sich Hébé, die Göttin der Jugend, und die Mars-Schwester Bellone mit ihrem Gefolge darüber streiten, ob der Waffenruhm der Liebe vorzuziehen sei. Unterstützt von Amor beschliesst Hébé, die an Bellone verlorenen Herzen der Europäer nicht zurückzuerobern, sondern die Liebe in entfernteren Gefilden zu suchen. Das Publikum wird in die Türkei, nach Peru, Persien und zu den Indianern nach Amerika entführt; in der ersten Station «Le Turc généreux» offenbart sich sogar ein Vorläufer zu Mozarts «Entführung aus dem Serail».

Sturm bringt den Liebhaber
Die vier Szenen in der Weltausstellung werden zu wunderschönen und eindrücklichen Bildern stilisiert: mit wenigen ethnologischen Requisiten, die von Tänzern bewegt werden, und mit viel Raum für die Tänzerinnen und Tänzer. Dazu eindrückliche Lichtspiele auf dem Bühnenprospekt. Am interessantesten war dabei wohl der grosse Sturm im türkischen Bild, der mit sichtbar bewegten blauen Stoffplanen sogar die Mauern des Palastes ins Schwanken bringt, und der den echten Liebhaber an Land schwemmt. Oder der geheimnisvolle persische Garten in «Les Fleurs», mit überdimensionierten Palmen, einer roten, exotischen Blume, die auch als Laufsteg dient, und herrlich blumigen Kostümen und Schmetterlingen (Kostüme: Jordi Roig).

Für Opernfans, die in erster Linie den Gesang lieben, wirkt vor allem der erste Teil des Abends etwas gleichförmig. Die starken Bilder und die von Spoerli strukturell eng auf die Musik bezogene, präzise und klassisch modern getanzte Choreografie dominieren das Geschehen so stark, dass darüber die Musik und der Gesang beinahe vergessen gehen.

Tanz dominiert den ersten Teil
Die Sängerinnen und Sänger wirken ziemlich verloren neben der sich bewegenden Tanz-Maschinerie. Kommt dazu, dass dieser französisch barocke Gesangsstil, der einen stark deklamatorischen Charakter hat, uns wenig vertraut ist. Nicht die Melodie, sondern die französische Sprache steht im Vordergrund; und Rameau ist in erster Linie ein Harmoniker, kein Melodiker. Erst im zweiten Teil rückten die Sängerinnen und Sänger in den Mittelpunkt. Grandios das dritte Bild «Les Fleurs, fête persane» mit den zwei Liebespaaren, die sich wegen ihrer männlichen und weiblichen Verkleidung zuerst nicht erkennen. Das Quartett mit Christoph Strehl, Gabriel Bermúdez, Lilana Nikiteanu und Isabel Rey zum alle versöhnenden Schluss gehört zu den musikalisch betörendsten Momenten des Abends.

Wunderbar auch der verspielte Dialog Fatimas (Isabel Rey) mit dem tanzenden Schmetterling. Rodney Gilfrey steigerte sich nach anfänglicher Nervosität in sängerischer und darstellerischer Hinsicht deutlich, während einem Reinoldo Macias als Don Carlos und Daman mit entspanntem Schmelz für sich einnahm. Malin Hartelius brillierte als Göttin der Jugend in der Höhe, während Juliette Galstian als Emilie in der Farbgebung etwas gleichförmig wirkte.

Meisterleistung des Chors
Von besonderem musikalischem Reiz sind die wenigen Chorpartien. Höhepunkt war dabei der indianische Tanz mit flüsterndem Chor im vierten Bild - eine tänzerische und musikalische Meisterleistung der «Les Arts Florissants». Es sind aber eindeutig die vielen instrumentalen Tanzsätze, die auch die musikalische Substanz ausmachen. Heinz Spoerli und William Christie finden sich hier mit lichter Eleganz, französischem Charme und rhythmischer Spannkraft. Die vielen Aires, Menuets, Gavottes und die berühmte Chaconne zum Schluss, der «Friedenspfeifentanz», sind von brillantem Einfallsreichtum. Heinz Spoerli findet dazu eine Tanzsprache, die mit pointierter Gestik, subtilem Humor und einer wunderbaren Balance zwischen Konkretem und Abstraktem von lichter Klarheit spricht.

Das auf historischen Instrumenten spielende Orchester La Scintilla der Oper Zürich wurde ganz hochgefahren. Die Besetzung der Streicher war üppig, die Bläser sassen mit dem Rücken zum Publikum. William Christie musizierte mit Hingabe, Verve und Akkuratesse, hob die Farben der Bläser subtil hervor und modulierte die Dialoge zwischen Flöte und Sopran einfühlsam aus. Auffallend vielsagend waren der Continuo des Cembalisten Bertrand Cuiller und von Anne-Marie Lasla an der Viola da Gamba. Da es nicht möglich ist, diese riesige Besetzung für längere Zeit zusammen zu verpflichten, wird diese Rameau-Produktion bis 29. Mai nur noch acht Mal gespielt.

Sibylle Ehrismann


13. 5. 2003

Harmlose Liebeswelten ohne Stacheln
Ballett-Oper «Les Indes galantes» von Jean-Philippe Rameau als Schweizer Erstaufführung in Zürich
Ballettchef Heinz Spoerli inszeniert seine erste (Ballett-)Oper: der Tanz berauscht, die Arbeit mit den Sängern wirkt blass.

Christian Berzins

Wo ist das Hängebauchschwein? Keine andere Frage bewegt uns jeweils mehr, wenn wir im Mai die Zürcher Oper besuchen. «Hängebauchschwein» ist kein Kosename eines Tenors oder eines sonstigen Opernhausmitarbeiters, sondern es geht um das echte «Circus Knie»-Hängebauchschwein, das zurzeit auf der Sechseläutewiese wohnt. Doch wer am letzten Sonntag im Opernhaus nach dem Hängebauchschwein fragte, wurde schräg angeschaut. Denn am Sonntag, ja schon die ganze Woche zuvor, gab es in Zürich nur ein Thema: Heinz Spoerli. Der Rummel um den Ballettmeister war so gross, dass man hätte meinen können, er habe herausgefunden, wie man mit der Kniekehle ein hohes C erzeugt. Dabei zeichnete sich der Choreograf «nur» als Regisseur der Schweizer Erstaufführung der Ballett-Oper «Les Indes galantes» von Jean-Philippe Rameau aus. Andere Choreografen inszenierten schon Wagner-Opern, da würde doch Spoerli seine erste (Ballett-)Oper bewältigen! Er tat es zur Zufriedenheit des Publikums.

Rameau schrieb «Les Indes galantes», bei dem Musik und Tanz sich die Waage halten, 1735/36. Das Werk besteht aus einem Prolog und vier Teilen: In jedem wird eine Liebesgeschichte erzählt, die der Göttin der Jugend und dem Liebesgott beweisen, dass ihre positive Weltsicht die richtige, jene der Kriegsgöttin die falsche sei. Spoerli verlegt die Handlung nach Paris, an die Weltausstellung von 1889. Die «Götter» machen hier einen Rundgang durch die Hallen der Ausstellung, wo man Einblick in türkische, peruanische, orientalische und amerikanische Welten kriegt.

Der Prolog gestaltet sich unterhaltend: Spektakulär türmen sich die Kulissen, der Eiffelturm und ein Gewächshaus scheinen ineinander zu tauchen, üppige Pflanzen werden aufgefahren (Bühnenbild: Hans Schavernoch). Noch mischt sich auch Tanz und Gesang. Doch kaum beginnt die erste Geschichte, ist es vorbei mit Bewegung, vorbei mit überraschenden Wendungen, vorbei mit wohltuender Distanz - vorbei mit der Spannung: Klischiert sind nun die Kostüme, brav die Bewegung. Zwar beginnen selbst die Kulissen im Sturm zu tanzen, allein die Sänger verfallen stereotypen Gesten. Nicht nur die erste Geschichte, nein alle vier nagen nach dreieinhalb Stunden am letzten Sitzpölsterchen.

Gegen Aktschluss, wenn sich die Tänzer jeweils ins Geschehen mischen, erhellen sich die Bilder. Spoerli verfällt in seiner Tanzchoreografie aufgrund der Handlungen glücklicherweise keinem Pseudo-Exotismus. Kleine Fussnoten dazu genügen vollends, sei es durch einen Wink der Kostümabteilung (Jordi Roig), sei es durch «wilde», aber augenzwinkernd dargebotene Bewegungsabläufe. Dreier-, selten Viererkombinationen, und immer wieder grössere Corps-Teile nehmen Rameaus Musik stimmig auf, doch wird der Tanz nie elegant höfisch. Vielmehr zeigt Spoerli klassischen Tanz, der, raffiniert um Nuancen erweitert, zeitlos erscheint.

Leichte, lyrische Stimmen sind für die Gesangspartien aufgeboten: Malin Hartelius, Isabel Rey, Liliana Nikiteanu, Juliette Galstian, Reinhard Mayr, Gabriel Bermudez, Rodney Gilfry und Christoph Strehl überzeugen durchs Band. Doch das Ereignis des Abends ist das Orchester. Herrlich, was William Christie aus dem Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich, das auf historischen Instrumenten spielt, und «seinem» Chor «Les Arts Florissants» herausholt. Die Lebendigkeit, die Farbigkeit, die innere Ausgewogenheit, der dramatische Gehalt - alles trägt bei zum musikalischen Gelingen dieser Schweizer Erstaufführung.

Tanzend erobert Spoerli die exotischen Welten, die Verbindung von Tanz und Gesang gelingt ihm aber nicht. Er huldigt in den gesungenen Teilen einem faden Realismus, das Szenische wird zum sanften Arrangement, zum harmlosen Schäferspiel. Nur Zufall, dass die Gehegekollegen unseres Hängebauchschweines, Geissen, nicht auch noch auf der Bühne rumhüpfen. Skorpione tauchen im letzten Bild an ihrer Stelle auf. Sie sind so putzig und ungefährlich - sinnbildlich für Spoerlis Kunst des Operninszenierens.

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13. 5. 2003

Ein üppiges Spektakel mit Musik und Tanz
 Ein brillantes Ballett und ein herausragender Chor: Heinz Spoerli inszeniert die Opéra-Ballet «Les Indes Galantes» .

Maya Künzler

Aus dem Zirkuszelt am Bellevue klingt Musik, in den Gehegen lassen sich Elefanten, Kamele und Lamas gleichmütig bestaunen. Nicht weit davon entfernt bilden sich kleine Grüppchen feingekleideter Damen und Herren: Auch das Opernhaus Zürich lädt ein. Gespielt, gesungen und getanzt wird an diesem Abend ein Spektakel der üppigeren Art, - exotisch das Ambiente, märchenhaft die Begegnung zwischen Okkzident und Orient unter dem alles überstrahlenden Stern der Liebe.
Hier die edlen Wilden, dort die Europäer als Kolonisatoren, und dazwischen die Liebe als universelles und transkulturelles Bindeglied. «Les Indes Galantes», die zweite Barockoper des französischen Komponisten Jean-Philipp Rameau von 1735 feiert seine Schweizer Erstaufführung.

Monumental
Prominent und souverän am Dirigentenpult der Amerikaner und Wahlfranzose William Christie, Spezialist für das Genre der Barockoper. Mitgebracht hat er seinen 1979 gegründeten Chor «Les Arts Florissants», ein für seine historische Aufführungspraxis weltberühmtes Ensemble. Im Orcherstergraben das auf historischen Instrumenten spielende Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich.
Besonders gespannt war man auf die Inszenierung dieser monumentalen (dreieinhalb Stunden dauernden) und ganz aus dem Geiste der Musik heraus komponierten «Opéra-ballet». Heinz Spoerli, künstlerischer Leiter des Zürcher Ballets, gab seinen Einstand als Opernregisseur. Das hätte auf dem Hintergrund seiner choreografischen Erfahrungen ungemein spannend sein können, - herausgekommen ist ein eher zwiespältiges Resultat.

Leichtfüssig
Die Musik aus der Zeit des beginnenden Rokoko ist berauschend in ihrer Fülle. Sie ist dramatisch, lyrisch, majestätisch und auch von provokativer Leichtfüssigkeit für Ohren, die an schwerere Kost gewöhnt sind, - an Libretto-Kost, die untergründig psychologische Zusammenhänge erschliesst und dramaturgische Stringenz aufweist.
Doch bei Rameau herrschen die oberflächlichen Gesetze reiner Figurentypen und wechseln die szenischen Arrangements ganz nach Belieben und Erfordernis der Musik. So grausam Liebesschmerz im Augenblick die Herzen zu verzehren scheint, so schnell lösen sich Konflikte wieder in Minne auf. Die Szenen mit ihren schematischen Handlungen ziehen sich langfädig hin. Spoerli lässt nach dem Prolog keine der vier «Entrées» aus. Genüsslich und theatralisch ausgespielte Effekte wie Rauch und Feuer, Erdbeben und Meeresstürme verpuffen mit der Zeit im leeren Bühnenhimmel.
Die Solisten lassen sich von den Tänzerinnen und Tänzern des Zürcher Balletts kaum bewegen und singen wunderschön, aber meist steif und statisch in gewohnter Sängerpose.

Wechselvoll
In Windeseile wechseln die Zuschauer die geografischen Gefilde. Sie sind einmal mit einem türkischen Pascha und seiner französischen Sklavin auf hoher See, dann wiederum bei den Inkas oder im Harem eines persischen Edlen und zu guter Letzt bei den nordamerikanischen Indianern. Denn Hébé, die Göttin der Jugend, und Amor wollen weltumspannend den Beweis antreten, dass nichts stärker als die Liebe sei. Von Rameau war das aufklärerisch gemeint. Spoerli und sein Bühnenbildner Hans Schavernoch haben das Geschehen im Umfeld der Pariser Weltausstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt, in einer Zeit des industriellen und technischen Aufbruchs. Klug ist das gedacht, hat aber auf die Inszenierung keine tiefgreifenden Konsequenzen. Unter den exotischen Kostümen entdecken wir den europäischen Habit (Kostüme: Jordi Roig).
Alles ist Spiel - und das manchmal bis zur Charge ausgereizt - und blosse Verkleidung. Im verwirrend wuchernden Patchwork der wechselnden Szenarien und exzessiven Sensationen ragen der Chor der «Arts Florissants» und das, wie immer, brillante Zürcher Ballett besonders heraus. 

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13. 5. 2003

Oper? Ballett? Revue?

CH-Erstaufführung von Rameaus «Les Indes Galantes» im Opernhaus Zürich

martin etter

Jean-Philippe Rameaus 1735/1736 entstandenes Werk «Les Indes Galantes» ist ein seltsames Zwitterding zwischen Oper, Ballett, Revue und Show: Nach einem Prolog, der den Triumph der Liebe über Macht und Ruhm feiert und den die Zürcher Inszenatoren witzig ins Ende des 19. Jahrhunderts verlegt haben, folgen vier raffiniert in exotische Gefilde versetzte, das Thema erläuternde Kurzopern - nach dem Mozarts «Entführung aus dem Serail» vorwegnehmenden «Grossmütigen Türken» und den nach Südamerika führenden «Inkas von Peru» kreisen die «Blumen» um ein persisches Fest und die «Wilden» um ein Eifersuchtsdrama bei den in den Rocky Mountains sesshaften Indianern.

Sinnenzauber für das Auge
Der Prolog und die vier ausgedehnten Szenen - die Aufführung hat Wagner-Länge und dauert annähernd vier Stunden - bieten Gelegenheit zu opernhaften Bildern, Balletteinlagen, Chornummern und, nicht zuletzt, zu einer opulenten optischen Show. Das Zürcher Opernhaus hat für diese Rarität zunächst die üppige kreative Vorstellungswelt des Bühnenbildners Hans Schavernoch und des Kostümentwerfers Jordi Roig aufgeboten, die das Theater in eine Dependance der «Folies bergères» verwandelt und dem Auge ständig neue und durchwegs fesselnde Nahrung präsentiert.

Heinz Spoerli zeichnet für die Inszenierung und die Choreografie verantwortlich - und seiner unbestrittenen Könnerschaft verdankt das begeisterte Publikum Szenen von kostbarem Reiz und verwirrender Schönheit. Einzig die ständige Bewegungshysterie des von Spoerli an sich vorzüglich geführten Zürcher Balletts verwirrt mit der Zeit - wie so oft wäre auch hier bisweilen weniger mehr.

William Christies Kompetenz
Rameaus Musik - sie darf als wohlgeformte, aber nicht immer und nicht überall genial inspirierte Barock-Routine bezeichnet werden - wird durch den Rameau-Spezialisten William Christie, den aus Paris herbeigeeilten «Chœur des Arts Florissants» und die opernhauseigene Orchesterformation «La Scintilla» hervorragend betreut: Dem zu Recht umjubelten William Christie und seinen Helferinnen und Helfern gelingt es, gewisse Längen der Partitur stets erneut mit Schwung, Spannung, subtiler Differenzierung und optimistischer Ausstrahlung zu überdecken und das Hörerinteresse wach zu halten.

Acht Vokalsolisten
Neben dem Zürcher Ballett, dem Junior Ballett und dem Statistenverein am Opernhaus Zürich wirken auch noch acht Vokalsolisten (Malin Hartelius, Rodney Gilfry, Isabel Rey, Juliette Galstian, Liliana Nikiteanu, Christoph Strehl, Gabriel Bermudez und Reinaldo Macias) mit, die ausnahmslos schön und expressiv singen, aber leider zum Teil mit abenteuerlicher französischer Diktion verärgern.

Trotz marginalen Einwänden ist der Zürcher Einsatz für Rameaus Opéra-ballet eine wichtige künstlerische Tat, die das Musiktheater-Repertoire mit einer faszinierenden Spezialität erweitert. Und Rameau-, Christie- und Spoerli-Fans werden ohne Zweifel diese «Indes Galantes» - Reprisen sind in dieser Saison noch bis 29. Mai geplant - nicht verpassen.

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13. 5. 2003

Eine Völkerschau im Treibhaus der Künste

Nun hat die Expo doch noch ihr globales Gegenstück gefunden. Durch Heinz Spoerlis Inszenierung von Rameaus Ballett-Oper «Les Indes galantes» im Zürcher Opernhaus zieht der Duft der weiten Welt. Paris, 1889: Der Eiffelturm ist gerade fertig geworden. Als Wahrzeichen einer Völkerschau, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Und da strömen sie schon heran, die schaulustigen Spaziergänger unter dem Eiffelturm auf der Fotografie aus der Basler Sammlung Herzog, die auf dem Vorhang prangt. Nur hereinspaziert! Tiere, Menschen, Sensationen warten. Was hat das mit Rameau zu tun?

Von Martina Wohlthat

«Les Indes galantes», Jean-Philippe Rameaus Opéra-ballet von 1735 in einem Prolog und vier Akten auf ein Libretto von Louis Fuzelier, schmückt sich mit Exotik. Die Handlungsorte der «beiden Indien» sind im Stück die Türkei, Peru, Persien und Nordamerika. Die schlichte These des Stückes ist, dass Amor in allen Nationen unangefochten regiert. Unter diese mehr oder weniger angenehme Tatsache lassen sich locker vier Kurzopern bzw. Entrées subsummieren. Das perfekte Baukastensystem für pittoreske Bühnensituationen mit eingeflochtenen Tänzen.

Das Prinzip der Revue mit ihrer Mischung aus Exotik, Opulenz und Unverbindlichkeit scheint hier vorgezeichnet. Die Handlung, die jeweils einen Akt dauert, verlangt vom Zuschauer weniger Konzentration als eine ganze Oper. Das Video-Clip-Zeitalter wirft seine Schatten voraus. Das Libretto wurde dafür schon zur Entstehungszeit kritisiert. Man beklagte den Mangel an Wahrscheinlichkeit und Dramatik. Nach dem dreieinhalbstündigen Wiederbelebungsversuch der «Indes galantes» muss man sagen: zu Recht.

Heinz Spoerli tut gut daran, bei seiner ersten Opernregie den historischen Reisekatalog in eine Rahmenhandlung einzubauen. Die Exoten sind zur Weltausstellung nach Paris gereist. In den Ausstellungshallen inszeniert man nacheinander eine Türkenoper, ein Inka-Ritual mit Dampfmaschine, eine persische Blumenschau und ein indianisches Stammesfest. Das Bühnenbild von Hans Schavernoch zeigt in raffinierten Brechungen einen Glaspalast des Fin de Siècle. Zur Ouvertüre werden humorvoll Topfpalmen auf Sackkarren hereingefahren. Alles spielt in einem Gewächshaus, in dem die dekorativen Bühnenkünste Blüten treiben.

Liebelei unterm Poncho
Die Bühne verwandelt sich in eine Art magischen Realismus. Zum Einsatz kommt aber auch eine Barockbühne mit hintereinander gehängten Pappkulissen und flatternden Stoffbahnen, die das vom Sturm aufgewühlte Meer darstellen. Zwischen ihnen lassen die Tänzer des Zürcher Balletts kleine Segelschiffe schlingern. Man könnte es bedauern, dass sich Heinz Spoerlis Inszenierung nicht durchgehend für diesen an das barocke Theater angelehnten illusionistischen Zauber entschieden hat.

Die farbenprächtigen Kostüme von Jordi Roig charakterisieren die Theaterfiguren wie in dem illustrierten Weltaltas unserer Kindertage. Was an Stofffülle bei den Tänzerinnen und Tänzern des Zürcher Balletts zu immer neuer reizvoller Körperlichkeit führt, packt die Sängerinnen und Sänger kokonartig ein. So fantasievoll und virtuos die Tänzer über die Bühne wirbeln, so statisch bleiben die Sängerdarsteller in ihren stereotypen Bühnengesten. Wenn die Sängerinnen und Sänger einmal ein paar Tanzschritte wagen, wirkt das neben den Tänzern naturgemäss etwas unbeholfen. Zwischen Gesang und Tanz herrscht eine vorsichtige Verbindung.

Eine Ausnahme bildet der auch musikalisch überragende Chor «Les Arts florissants». Die Auftritte der Chorsänger hat Spoerli in einfachen, aber wirksamen Bewegungsabläufen choreografiert. Hier entstehen bewegte Bilder, die vom Blick des Choreografen auf die Oper profitieren. Spoerli geht dabei stark von den formalen Gegebenheiten aus. Er ordnet die disparaten Handlungsfäden zu szenisch aufwändigen Tableaus. Er erfindet reiche, mitunter zu reichhaltige Tanznummern in seinem zeitgenössisch-klassischen Idiom. In den Posen der Tänzer gibt es Anspielungen auf barocke Gestik. Zur Liebelei unter dem Poncho der Peruaner mischt sich Neoklassik mit Folklore in der Tradition der «Ballets Russes». Das Blumenballett entfaltet grossflächige Raummuster, die ebenso an den «Serpentine»-Tanz der Modern-Dance-Pionierin Loie Fuller erinnern wie an die kreisenden Derwische. Beim «Tanz der Grossen Friedenspfeife» ist man in der Gegenwart angekommen.

Die musikalische Leitung hat mit William Christie ein Kenner der französischen Barockoper. Man spürte in der Premiere den Enthusiasmus, mit dem Christie mit den Sängern und dem Orchester «La Scintilla» Rameaus Partitur erarbeitet hat. Die Bläser zeigten aber noch eine gewisse Begrenzung im Klangfarbenspiel. Im vierten Entrée «Les Sauvages» mangelte es den Geigen an Stabilität. Schwerer wog jedoch die Unvertrautheit einiger Sänger mit Rameaus Gesangsstil. Da wurde zum Teil handfest drauflos gesungen und deftig chargiert. Gute Ansätze hörte man bei Juliette Galstian, Isabel Rey und Christoph Strehl. Christies Chor «Les Arts florissants» zeigte mit schöner Phrasierung und Stimmbalance, wie Rameaus Opernmusik tönen könnte.

«Tendre amour»
Die Schaulust wird mehr als befriedigt. Je länger der Abend dauert, desto mehr verlangt es einen nach Konzentration und dramaturgischer Begründung für so viel Bühnenzauber. Im Stück gibt es kaum Figuren mit theatralischem Tiefgang. Die Konflikte werden im Libretto ebenso schnell gelöst, wie sie behauptet wurden. Dann singt man wieder über «tendre amour», «regards charmants», «plaisirs et jeux». Diese galanten Inder sind wirklich unverbesserlich genusssüchtig. Damit ist schliesslich auch die Expo-Schirmherrin Hébé zufrieden, wenn sie am Ende wieder ihre Gondel besteigt und als Dea ex machina davongondelt.

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13. 5. 2003

Jean-Philippe Rameau im Opernhaus Zürich

Opulentes Spektakel

Die barocke Ballettoper «Les Indes Galantes» führt in exotische Ferne. Das vierstündige Werk begeisterte am Sonntag das Publikum.

Von Ruth Werfel, sda

Unterhalten wollte Jean-Philippe Rameau mit heiteren Liebesgeschichten. Indien galt als Inbegriff des Exotischen. In «Les Indes Galantes» von 1735 führt er mit den gleichberechtigten Elementen Musik, Sprache, Gesang und Tanz in einem Prolog und vier Einaktern in ferne Lande. Der lange Opernabend war als betörende Ohren- und Augenweide in jeder Beziehung unterhaltsam.

Bühnenbildner Hans Schavernoch führt mit raffiniert wechselnden Prospekten in die Pariser Weltausstellung von 1900. Im Gewächshaus streiten Jugendgöttin Hebé und Kriegsgott Bellone im Prolog um ihre Vormacht. Gott Amor schwebt aus der Höhe herbei und empfiehlt salomonisch, in exotische Fernen auszuweichen. Erprobt wird dies sogleich in der Türkei. Ein kleines Barocktheater spielt «Le Turc Généreux». Pascha Osman liebt die französische Sklavin Emilie, die ihrem fernen Verlobten Valère die Treue hält. Ein Sturm spült ihn an den Strand. Weil er Osman einst das Leben gerettet hatte, verzichtet der Pascha. Die wahre Liebe triumphiert.

Tanz mischt sich in Gesang
Mit leichter Hand, mit Augenzwinkern und Witz führt Ballettdirektor Heinz Spoerli, hier erstmals als Opernregisseur, die Kurzgeschichten von gestern vor, als wären sie von heute. Zum Orchestersturm kämpfen sowohl «schwimmende» Tänzer als auch schlingernde Segelschiffe in der aufgewühlten See. Immer wieder werden Singende ins tänzerische Geschehen eingebunden, so auch der überaus stimmschöne «Ch&Mac186;ur des Arts Florissants». Die Choreografien der vielen Tänze wie auch die bezaubernden Kostüme von Jordi Roig im Stilmix von damals bis heute sind dem Charakter der jeweiligen Spielorte angepasst. In einem technischen Pavillon spielt «Les Incas du Pérou» im prächtigen Palmenhaus die persische Verkleidungsgeschichte «Les Fleurs, fête persane», in Amerika schliesslich der letzte Akt «Les sauvages», in dem der Tanz der Friedenspfeife die Versöhnung der Welten in Tanz und Spiel symbolisiert.

Barockspezialist William Christie belebt das Werk mit dem auf historischen Instrumenten spielenden Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich auf ungemein plastische Weise. Die meisten Sängerinnen und Sänger fügen sich ins musikalische Gesamtbild, als hätten sie nie etwas anderes als Barockes gesungen.

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13. 5. 2003

Kolonien der Liebe
Viel Beifall für ein Werk jenseits des barocken Kanons: Rameaus Ballettoper «Les Indes galantes» am Opernhaus Zürich

Ganz Paris träumt von exotischen Kulissen: Heinz Spoerli lässt Rameaus «Les Indes galantes» auf der Weltausstellung tanzen, William Christie bringt die Partitur zum Leuchten.

Bettina Kugler

Überall ist Indien - so suggeriert das Libretto zu Jean-Philippe Rameaus Opéra-ballet «Les Indes galantes», entstanden als Divertissement aus Tanz, Musik und Bühnenspektakel an einem Schnittpunkt zwischen Barock und Aufklärung, alter und neuer Welt. Die Musik hingegen wurde schon kurze Zeit später von Rousseau als typisch französisch verunglimpft.

Noch heute prägt Rousseaus Polemik manches Vorurteil über Rameau. Seine Rehabilitierung verdankt dieser nicht zuletzt dem seit 1971 in Paris lebenden Amerikaner William Christie, der in der Zürcher Produktion am Pult steht. Christie hat ein sicheres Gespür für den sprühenden Charme von Rameaus Tanzmusik, für die brillante Leichtigkeit der Gesangspartien, die schillernden Farben des Orchestersatzes und die Reize der Chorpartien - und er vermag das auf historischen Instrumenten musizierende Orchestra «La Scintilla» vom ersten Takt an zu sprechendem Spiel zu bewegen.

Im Treibhaus sinnlicher Reize
Die Partitur wühlt nicht in den Tiefen menschlicher Affekte; sie ist in Christies dynamischer Detailarbeit ein feingesponnener fliegender Teppich für eine luftige Choreografie und überraschende sängerische Wandlungen. Im Gesangsensemble ragen vor allem Malin Hartelius mit Anmut und Wendigkeit, die virtuose Isabel Rey und der lyrisch fein phrasierende Tenor Christoph Strehl heraus. Heinz Spoerli zieht mit seinem technisch exzellenten Ballett alle Register des Heiteren, Verspielten. Sogar den Chor lässt er tanzen: von musealer Restauration an einem vergessenen Werk ist nichts zu spüren.

Bereist werden in vier &Mac220;Entrées&Mac221;, locker gefügten Episoden unter dem Motto eines mythologischen Prologs, exotische Schauplätze im Orient, in Süd- und Nordamerika: für Rameau allesamt Kolonien der Liebe, Treibhäuser wild wuchernder Sinnesreize und Empfindungen; Spielorte grenzenloser Galanterie vor der Kulisse eines unaufhaltsamen Fortschritts und aufeinander prallender Kulturen. Da zieht im Osmanischen Reich ein Seesturm auf und vereint getrennte Liebende, feiern Inkas ein Sonnenfest vor stampfenden Maschinen, flattern Schmetterlinge in einem persischen Garten - und immer siegt die Liebe und die tänzerische Anmut.

Götter an der Weltausstellung
Heinz Spoerli, erstmals nicht nur als Choreograf, sondern auch als Regisseur für die opulente Produktion verantwortlich, gibt sich mit der szenischen Vielfalt des Librettos noch nicht zufrieden. Als Ausgangsort und sinnstiftender Rahmen der galanten Weltumsegelung rückt in der Schweizer Erstaufführung von «Les Indes galantes» Paris ins Zentrum des Interesses. Nicht das vorrevolutionäre Paris Rameaus, sondern die Stadt der Weltausstellung 1889: ein Marktplatz der Kulturen unter den Stahlkonstruktionen Eiffels.

Um eine Ahnung von dem Staunen und der Fortschrittseuphorie der vorletzten Jahrhundertwende zu evozieren, hat Hans Schavernoch mit diversen Prospekten und Projektionen, mit Jalousienwänden und Spiegeln einen Bühnenpavillon konstruiert, der sich immer weiter zu öffnen scheint und dabei die Gegenwart des technischen Zeitalters nicht in Vergessenheit geraten lässt. Welten sollen sich in Europas Metropole auftun, exotische Pflänzchen in gigantischen Glashäusern bewundert werden.

Die Götter kommen hier nicht aus heiterem Himmel, sondern per Lift zu irdischer Mission herab, und ebenso entschwebt Malin Hartelius als Jugendgöttin Hébé nach fast vier Stunden völkerkundlichem Musik- und Bühnenzauber zu guter Letzt. Nicht ohne samt Dirigent und Choreograf ausgiebig gefeiert zu werden.

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