Nikolaus Harnoncourt sucht in jeder Partitur die Wahrheit der Musik
Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt erhält dieses Jahr den mit 150.000 Euro dotierten Ernst-von-Siemens-Musikpreis
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Nikolaus Harnoncourt Foto: AP |
Von Manuel Brug Der Siemens-Musikpreis
für Nikolaus Harnoncourt, das ist auch ein Preis für Alice Harnoncourt. Seit
bald 50 Jahren seine Frau, hat sie nicht nur die vier Kinder großgezogen,
die wechselnden, mit den unmöglichsten alten Instrumenten voll gestopften
Wohnungen in Schuss gehalten und ihrem Nikolaus die Anzüge gekauft. Viel
wichtiger noch, ihr durchaus traditionell steirisch-wienerisches Ehebündnis
wurde ganz naturhaft eine der schönsten, wirkungsreichsten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften
der Musikwelt. Die gelernte Geigerin, die auf ihre Karriere weit gehend verzichtete,
die im gemeinsamen Orchester Concentus Musicus als Konzertmeisterin fungiert,
bei vielen seiner Opernaufführungen mit im Graben sitzt und bei jedem seiner
Dirigate im Saal dabei ist, war nie nur Künstlergattin oder zuarbeitende
Assistentin. Sie erst komplettiert unverzichtbar diesen musikalischen Kosmos.
Wenn der habsburgisch-lothringisch-luxemburgische Dirigiergraf
Johann Nicolaus de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt, geboren am 6.
Dezember 1929 durch Zufall in Berlin und aufgewachsen in Graz, Ende Mai in
München die gemeinhin als Nobelpreis der Musik gehandelte Auszeichnung entgegennimmt,
dann ist die Suche nach musikalischer Wahrheit, für die er heute als leuchtendes
Vorbild gilt, eben auch die seiner Frau. Sie war und ist es, die die Noten
archiviert und korrigiert, die Partituren auf Fehler durchsieht und für fast
jede seine Aufführungen neue Orchesterstimmen erstellt. Erst wenn diese Arbeit
getan ist, kann sich das Wunder Harnoncourt ereignen.
Das wiederum bereitete sich mit den genau richtigen Strategien
zur passenden Zeit vor. Nikolaus Harnoncourt war nicht umsonst von 1952-69
Cellist der Wiener Symphoniker. Was ihm damals oft als die durchaus typische,
ermüdende Routine erschien, gegen die mit dem Mahler-Diktum "Tradition ist
Schlamperei" vorzugehen sein würde, auf dieser Musizierpraxis und der täglichen
Begegnung mit berühmten, aber eben im Umgang mit Noten oft laxen Meistern
des Taktstocks fußt seine heutige Stellung als klügster Infragesteller im
traditionellen Musikbetrieb. Eine Position, die durch seinen Auftritt beim
Wiener Neujahrskonzert 2000 an Millionen Fernsehgeräten ihre populistische
Absolution erhielt.
Nikolaus Harnoncourt und die Seinen haben diese alles beherrschende,
- anders als bei Karajan - von ihm nie ausgenutzte Platzierung einem in den
Anfangsjahren belächelten wie angefeindeten Umweg über Darmseiten, Zinken
und Barockbögen zu verdanken. Harnoncourt war keiner der Pioniere auf dem
Gebiet der Alten Musik-Bewegung, aber er wusste als professioneller Musiker
von überragendem Talent sich deren Praxis folgenreicher zu Nutze zu machen.
Neugierig und undogmatisch studierte er die Quellen, erarbeitete er sich
Spielweisen und versuchte zunächst Musik der Spätrenaissance, des Barock
und der Frühklassik für heutige Ohren nutzbar zu machen. Mit Alice durchstreifte
er die Flohmärkte Europas nach Instrumenten und durchstöberte die Bibliotheken
nach vergessenen Materialen.
Die Ergebnisse wurde in den Wiener Abonnementkonzerten des
1953 gegründeten Concentus Musicus, auf weltweiten Tourneen und einer wachsenden
Anzahl noch heute gültiger Tonträger einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert.
Berühmt wurde Nikolaus Harnoncourt durch den bei vielen Festivals gezeigten
und verfilmten Zürcher Monteverdi-Zyklus der späten siebziger Jahre. Im Verein
mit den universellen Bühnenträumen Jean-Pierre Ponnelles (mit dem er gleich
darauf einen Mozart-Zyklus an selber Stelle in Angriff nahm) erwies er sich
nicht nur als wacher szenischer Mitdenker, sondern auch als entscheidender
Impulsgeber für die Wiedergeburt der heute theatralisch blühenden Barockoper.
Nikolaus Harnoncourt hat zwar das gesamte Bachsche Kantatenwerk
auf CD eingespielt und Musik des Habsburger Hofes ausgegraben, doch heute
führt er die berühmtesten Orchester durch die neu gehörten Partituren von
Brahms, Schubert und Dvorák. Er hat den "Zigeunerbaron" dirigiert, Offenbachs
"Belle Hélène" und Verdis "Aida". In Zürich steht er einem zweiten Mozart-Zyklus
vor, und Ende Februar wird er mit der "Rückkehr des Odysseus" ein zweites
Mal auf große Monteverdi-Fahrt gehen. Alice Harnoncourt wird wieder im Orchester
sitzen, und es wird wieder anders, neuer, frischer klingen als beim letzten
Mal. Das schließlich ist man von Nikolaus Harnoncourt gewohnt.
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