Als Heinz Spoerli vor fünfzehn Jahren in Basel ein abendfüllendes
Handlungsballett mit dem Titel «La belle vie» zu Musik von Jacques Offenbach
ankündigte, erwartete man eine Ballettoperette im Sinne der «Vie parisienne»,
eine hübsche Erinnerung an die Belle Epoque. Das Erstaunen war gross, dass
der Choreograph diese Belle Epoque gleichsam nur als Kulisse benützte für
ein Tanzwerk, das näher beim Tanztheater als bei der Operette angesiedelt
war und zusammen mit rauschhaftem Cancan auch Verfall und Revolution auf
die Bühne brachte.
Geschichte einer Bürgerfamilie
Auch jetzt, bei der Premiere der Neueinstudierung im Zürcher
Opernhaus, hat das Werk Staunen und Begeisterung ausgelöst. So sozial- und
zeitkritisch wie die Programmartikel vermag das Ballett natürlich die Epoche
nicht zu analysieren. Aber Spoerli zeigt doch neben der auf der Bühne gefeierten
Cancanseligkeit im Paris des zweiten Kaiserreiches auch die Brüchigkeit
der grossbürgerlichen Kultur in ihrer Gefährdung durch Doppelmoral, Börsencrashs
und Revolution; er zeigt dies als abwechslungsreiche Bilderfolge, die von
Martin Rupprecht ausgestattet wurde, mit Kostümen, die spielerisch bunt
die Vielzahl der im Spiel erscheinenden Typen charakterisieren. Bildmächtig
werden die Schauplätze gezeichnet: üppig das Nobelbordell, nüchtern der
Ballettsaal, kühl unpersönlich das Speisezimmer der reichen Familie, abstrahierend
der Boulevard. Der Zwischenvorhang aber gibt in photographischem Realismus
eine Strassenszene aus der Revolutionszeit wieder.
Denn die Revolution ist der innere Motor des Stückes: im Ballettsaal,
wenn die unbeaufsichtigte Klasse Cancan auf der Spitze tanzt, auf der Strasse
in den beiden Revolutionsbildern, die, begleitet von Piafs durchdringendem
«a ira», das Stück eröffnen und abschliessen. Zu Beginn steht in mannshohen
Buchstaben der Titel des Balletts auf der Bühne, im Kampf fällt «La belle
vie» mit den Toten in den Dreck der Strasse. Spoerli kann szenisches Geschehen
unmittelbar zur sinntragenden Aussage verdichten. Doch gelingt ihm das nicht
durchgehend. Er erzählt zwar unmittelbar verständlich die Geschichte der
Bürgerfamilie, die im finanziellen Ruin auseinander bricht, aber zum Teil
in flachen, klischeegetränkten Ballettfloskeln, die allzu fühlbar werden
lassen, wie sehr die Geschichte in ihrer plakativen Zuspitzung immer wieder
einem rührseligen Dreigroschenroman nahe kommt.
Aber diese Geschichte gibt dem Stück anderseits eine klare
Verlaufsstruktur, die in der Aufführung allein schon wegen der fliessenden
Bewältigung ihres formalen Ablaufes Bewunderung verdient. Denn nahtlos gehen
die Szenen ineinander über. Eine abwechslungsreiche Zusammenstellung verschiedenartiger
Kompositionen von Offenbach verleiht der Handlung zusätzlich musikdramatische
Struktur. Im Salon spielen zwei Celli, in der Ballettschule ein Klavier,
in der verarmten Familie das Akkordeon. Das Geschehen ausserhalb des intimen
Rahmens aber und im Rausch der Gefühle wird vom Orchester begleitet. Der
Dirigent Nicolas Chalvin lässt es rhythmisch pointiert, einschmeichelnd
und zündend schmissig musizieren.
Vielfältige Stilmittel
Vielfältig sind auch die choreographischen Stilmittel, die
Spoerli einsetzt. Der Cancan erhält den ihm gebührenden Platz, die Frauen
wirbeln und kreischen, und die Herren verlieren ihre fracksteife Pseudowürde,
dass es eine Freude ist. Als Ballettklasse entfaltet die Truppe virtuos
ihr stupendes Können, wie dies auch François Petit und Nicolas Blanc als
unermüdlich sprungfreudige Kellner tun. Spoerli lässt nur einzelne Szenen
und Charaktere zu grosser Tanzgestaltung werden. Andere bleiben matt, wie
die beiden reichen Töchter, deren Weg zur Revolutionärin beziehungsweise
zur Kurtisane nur äusserlich vorgeführt, nicht von innen entwickelt wird.
Doch erhält dies durch Ana Quaresma und Marine Castel sicher umrissenes
darstellerisches Profil. Tänzerischen Glanz entfalten sie im Bereich des
Ballettes.
Zum Höhepunkt aber werden zwei grosse Zwietänze. Nach dem
Ruin versuchen Vater und Mutter vergeblich, sich wieder zu finden. Sabine
Mouscardès zeigt eine Frau, unter deren herber Verhaltenheit tiefe Sehnsucht
glüht, Dirk Segers einen Mann, der nicht mehr die Kraft hat, seine Frau
zu halten. Ihr verzweifeltes Scheitern ist ebenso berührend wie das Zusammenfinden
der reifen Ballettlehrerin und des pubertären Sohnes. Karine Seneca und
Mateo Klemmayer zeichnen erfüllt in jedem Detail Spoerlis Bild einer Begegnung
nach, in der beide Partner die liebende Vereinigung zugleich fürchten und
suchen, bevor sie sich in ihrem Glück finden, das wie «la belle vie» und
der Rausch des Cancans so schnell wieder verfliegen wird.
Richard Merz