Dietrich Fischer-Dieskau: Abschied von einem Einmaligen

19.05.2012, 07:12 Uhr Joachim Mischke
Sein wichtigstes Utensil war die Goldwaage, auf die er sein Repertoire legte. Der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau ist mit 86 Jahren gestorben.


Dietrich Fischer-Dieskau 2011 in seinem Haus in Berlin
Foto: picture alliance

Hamburg. "Nur wer Musik zu hören versteht, darf sich erdreisten, Musik zu machen." Als Dietrich Fischer-Dieskau diese Maxime formulierte, war er bereits über 80 und hatte eine unvergleichliche Karriere hinter sich, die ihm recht gab bei dieser Strenge. Dieser Sänger, der auch Pädagoge war, Autor, Dirigent und Rezitator, war jahrzehntelang der Maßstab schlechthin für alle Sänger, die eigenständig denken und fundiert gestalten wollten. Für Klugheit, Einsicht, Ernst und Aufrichtigkeit, auf der Opernbühne genauso wie im Liederabend.

Generationen Jüngerer und zwangsläufig Schlechterer mussten versuchen aus seinem Schatten ins wärmende Rampenlicht herauszukommen. Erreichen oder gar überholen konnten sie ihn nicht. Sie alle konnten nur versuchen der Kompromisslosigkeit und der Unbedingtheit dieses Künstlers gerecht zu werden, der viel mehr sein wollte als ein Produzent möglichst dekorativer Töne. Epigonen wie Thomas Quasthoff oder Christian Gerhaher, um nur einige zu nennen, ist dieses Kunststück gelungen. Auch die Sopranistin Christine Schäfer, als Interpretin wie ihr Lehrer weit von gefälliger Bequemlichkeit entfernt, entstammt dieser Traditionslinie. Sie haben verstanden und konnten umsetzen, was er ihnen gepredigt hatte: "Mir geht es darum, nicht irgendeine Wiedergabe von Stücken zu bieten, sondern eine Wiedergeburt des Werks im Konzertaugenblick zu erreichen."

Dietrich Fischer-Dieskau war ein manischer Sucher von Wahrheit, Schönheit und Größe. Ein Solitär für die einen, ein Werktreue-Monopolist für jene, die es sich lieber leichter machen mochten mit der Kunst und dem Leben und dem Denken. Auf jeden Fall aber war er ein Lehrer für ästhetische und moralische Erziehung. Er war ein Prophet, der nicht nur im eigenen Land etwas galt, und wurde so zum wichtigsten Botschafter der jungen Bundesrepublik als demokratische Kulturnation.

Sein Singen sei mehr als singen, schrieb der Stimmexperte Jürgen Kesting, es sei die Botschaft von einer anderen, besseren Welt. Fischer-Dieskaus Karriere ist da von der schmerzhaften Geschichte seiner Heimat nicht zu trennen, vom Zusammenbruch ebenso wenig wie vom späteren Aufbau aus Ruinen. "Wir hätten weniger gelebt. Nein: Wir hätten, ohne ihn, weniger erlebt." Ivan Nagel formulierte das, ein anderer großer Sinnstreber, in einer Gratulation zum 60. Geburtstag des lyrischen Bildungsbaritons, der dem Rest der Welt bewies, wie lebendig und wie vielsagend das romantische deutsche Lied des 19. Jahrhunderts sein kann.

Sein erstes Konzert gab der junge Sänger, gerade mal 17 Jahre alt, im Rathaus von Berlin-Zehlendorf, dort, wo er als Sohn einer Pianistin und eines Altphilologen gutbürgerlich aufgewachsen war. Es war Weltkrieg und auf dem Programm stand die "Winterreise", die Schubert nicht zufällig als "Kranz schauerlicher Lieder" bezeichnet hatte. Fliegeralarm sorgte für ungewollte Vortragspausen. Vor allem dieser Zyklus, die Geschichte eines Einzelgängers, wurde Fischer-Dieskaus Karrieremotor. Doch zunächst musste der Junge in den Krieg; am eigenen Leib, an der eigenen Seele erfahren, wovon er sang. Als Benjamin Britten für die Uraufführung seines "War Requiem" 1982 in der Kathedrale von Coventry einen Bariton brauchte, fiel seine Wahl für den so symbolträchtigen Ort, goldrichtig, auf diesen Ausnahme-Deutschen.

Fischer-Dieskaus wichtigstes, unsichtbares Utensil war die Goldwaage, auf die er sein Repertoire legte, Note für Note, Wort für Wort. Buchstabe für Buchstabe, wenn es sein musste. Und es musste so ziemlich immer so sein. Bei ihm verstand man immer alles, jede Nuance, er erlaubte sich nie auch nur den Hauch dieses Knödelns und Gurgelns, mit dem sich heutzutage so manches Bühnenpersonal durch die Partien stümpert, als ob Textverständlichkeit mit Bußgeldzahlung geahndet würde.

Fischer-Dieskau war ein Erzähler mit hypnotischen Fähigkeiten, ein Selbstdarsteller, der dafür in immer wieder neue Rollen wechseln konnte. Liszt hatte über Schuberts Lieder geurteilt: "In dem kurzen Spielraum macht er uns zu Zuschauern rascher, aber tödlicher Konflikte." Fischer-Dieskau durfte sich von diesem Kompliment ebenfalls gemeint fühlen. Ihm ging es stets um die intellektuelle Durchdringung des Materials. Der Text war ihm heilig, die Noten waren ihm heilig. Der tiefere Sinn war am heiligsten.

Direkt nach dem Krieg ging es rasant bergauf mit dem jungen Mann: Mit gerade mal 23, es war 1947 und man konnte als Opernchef nicht wählerisch sein, wurde Fischer-Dieskau an die Städtische Oper Berlin engagiert und sang dort schon den Posa in Verdis "Don Carlos". Furtwängler buchte ihn als Kurwenal für eine "Tristan"-Einspielung; 1954, da war er noch keine 30, kam das Debüt in Bayreuth.


Dietrich Fischer-Dieskau mit Grace Bumbry in Verdis "Macbeth",
1964 bei den Salzburger Festspielen

Diese Legende begann ungemein früh, dass sie nicht schnell endete, dafür sorgte eine kluge Konzentration: Fischer-Dieskaus Bühnenauftritte drehten sich vor allem um die Häuser in Berlin, München und Salzburg, Wien und Bayreuth. Erste Adressen, aber eben kein weltweites Herumjetten um des weltweiten Herumjettens willen. Sein Werkverzeichnis auf Tonträgern umfasst rund 4800 Einträge und etwa 200 Komponisten. Kein Sänger wurde so oft dokumentiert wie dieser Perfektionist, der das Plattenstudio als Lehranstalt für sich und für das Publikum verstand.

Fischer-Dieskau war Sängerdarsteller und Charakterschauspieler. Als Liedsänger tendierte er zum Enzyklopädischen und wurde zum Anwalt fürs Anstrengende. Stückwerk war sein Fall nicht, das Gesamtbild sollte es sein, nur so lässt sich die Wahrheit zwischen den Zeilen finden. Die "New York Times" kürte ihn dafür zum "besten Liedsänger der Welt", als ob es in dieser Kategorie ein klar messbares Schöner, Höher, Weiter gäbe. Ein anderer Kritiker bemängelte Fischer-Dieskaus Aufklärungseifer, indem er ihn als "perfekte Liedmaschine" bezeichnete. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, zwischen diesen Extremen.

Im Laufe seiner Karrierejahrzehnte weitete Fischer-Dieskau sein Repertoire immer weiter aus. Zu Schubert, Schumann und Brahms, Mahler, Bartok, Beethoven, Wagner, Strauss, Mozart, Hindemith, Wolf und Löwe kamen auch Bach und Henze, der durch Fischer-Dieskau dazu inspiriert wurde, seine "Elegie für junge Liebende" zu schreiben. Das Spätwerk wurde ihm, dem Einmaligen, auf die Stimmbänder geschrieben, wie Reimann es 1978 mit dem "Lear" tat, dieser Shakespeare-Vertonung, in der ein greiser König irr wird von der Welt, die ihn umgibt. Diese Rolle wurde eines seiner Markenzeichen. Jeder, der sich an sie heranwagt, wie zuletzt Bo Skovhus im Januar in der Hamburgischen Staatsoper, muss sich daran messen lassen.

Seine Sängerkarriere beendete Fischer-Dieskau am letzten Tag des Jahres 1992 in München mit einem Galakonzert, das Wolfgang Sawallisch dirigierte. Seitdem lehrte er, dozierte, trat als Rezitator auf, malte und schrieb. Ein Ende des Künstlerseins und Hinterfragens durfte es nicht geben für ihn.

Ausgewachsene Stimmkrisen, die weniger Vorsichtige immer wieder heimsuchen, hat er nie durchleiden müssen. Schaffenskrisen haben ihn ein Leben lang begleitet und so zu Höchstleistungen getrieben. "Ich war nie ein Star und ich kann andere auch nicht als Star anerkennen. Wenn sie so heißen, dann sind es meist Sternschnuppen."

Schuberts "Winterreise", den Liedzyklus seines Lebens, hat Dietrich Fischer-Dieskau immer wieder und wieder, vor allem mit seinem Klavierbegleiter Gerald Moore, aufgenommen. Es sind bleibende Werte, die trösten und überdauern werden. Gestorben ist dieser Jahrhundertkünstler wenige Tage vor seinem 87. Geburtstag in Berg am Starnberger See, am 18. Mai, dem Todestag von Gustav Mahler.